Ein Blick über den Tellerrand

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Prof. Helmut Brand ist Jean Monnet Professor für Europäische Gesundheitswissenschaften an der Universität Maastricht. In seiner täglichen Arbeit geht es maßgeblich darum, über den eigenen Tellerrand und in die Zukunft zu schauen.

vdek: Prof. Brand, mit welchen Fragen beschäftigen Sie sich im Rahmen Ihrer Forschung
maßgeblich?

Prof. Helmut Brand: Wir haben drei Arbeitsbereiche. Der eine Bereich heißt „Public Health in Europe“, der zweite „European Public Health“ und der dritte „Global Health Europe“. Im ersten Bereich vergleichen wir die Gesundheitssituation in den Ländern. Dann versuchen wir gute Praxisbeispiele zu finden, und dann stellt sich die Frage, ob man diese in andere Länder übertragen kann. Was in Malta gut läuft, muss in Belgien nicht
unbedingt funktionieren. „European Public Health“ beschreibt die Maßnahmen, die einen Mitgliedsstaat alleine überfordern oder wo es keinen Sinn macht, alleine zu handeln. Nehmen wir an, wir hätten eine Grippe-Epidemie und die Niederländer würden beschließen, den Amsterdamer Flughafen zu schließen. Was würden die Niederländer tun? Sie würden von Brüssel oder Düsseldorf fliegen. Das heißt: Wenn das Schließen von Flughäfen eine Epidemie unterbrechen kann, dann kann man nicht mehr alleine handeln, sondern muss sich z. B. mit den Nachbarstaaten abstimmen. Der dritte Bereich ist „Global Health Europe“. Dabei geht es um die Rolle von Europa im Rahmen der zunehmenden Globalisierung.

vdek: Auf welche Herausforderungen müssen wir uns einstellen, und wie sollte ihnen
Ihrer Meinung nach begegnet werden?

Prof. Helmut Brand: Es hat sich herausgestellt, dass die drei Komponenten des demographischen Wandels im Augenblick die Probleme des Gesundheitswesens definieren. Wir werden älter, wir werden weniger und wir werden bunter. Ein Mädchen, das jetzt geboren wird, hat eine 50-prozentige Chance, einhundert Jahre alt zu werden.
Das zeigt, dass Prävention nicht nur im Alter von 0-10 Jahren Sinn macht, sondern auch für einen 60-jährigen. Es gilt aber auch: Der größte Risikofaktor für Erkrankungen
ist das Alter. Wir müssen uns also darauf einstellen, dass wir viele Lebensjahre mit Krankheit leben werden. Dabei ist entscheidend, dass nicht nur die Lebenserwartung steigt, sondern auch die gesunde Lebenserwartung. Beim zweiten Punkt „Wir werden weniger“, da hört man ja immer die Zahl 2,1. Das ist die Anzahl von Kindern, die eine Frau in Deutschland haben müsste damit die Bevölkerung stabil bleibt. Diese ist jahrzehntelang in Europa nicht erreicht worden. Jetzt sehen wir, dass sie in Ländern wie Frankreich erreicht wird, und andere holen auch auf. Das aber wird den Bevölkerungsschwund, den wir in Deutschland hatten, nicht ausgleichen. Wir müssen uns also überlegen, wie wir mit Faktor drei umgehen: „Wir werden bunter“. Und Migration
heißt nicht Flüchtlingskrise. Migration heißt, dass nach Deutschland eigentlich pro Jahr 300.000 Menschen neu ins Land herein kommen müssten, um das Bevölkerungsdefizit
auszugleichen. Nun kann man es machen wie die Kanadier, die ein Punktesystem für die Einwanderung haben und genau sagen, wen sie brauchen, oder man sagt, wir müssen andere und neue Wege finden, die zu uns passen.

vdek: Wie sollte Deutschland die europäische Gesundheitspolitik in den kommenden
Jahren mitgestalten?

Prof. Helmut Brand: Deutschland ist zu groß für Europa, aber zu klein für die Welt. Bei über achtzig Millionen Einwohnern gibt es einen Spezialisten für alles. Alle sprechen eine gemeinsame Sprache. D. h., man ist sich eigentlich selbst genug, und da wird natürlich
jede Einmischung von außen als feindlicher Versuch gewertet, das deutsche Gesundheitssystem zu verändern. Aber es gibt auch Bestrebungen, wo Europa als Selbsthilfeorganisation sich durchaus gut macht. Das eine ist, dass man Benelux wieder neu definiert hat und man dort z. B. zusammen Einkaufsmodelle ausprobiert für Impfstoffe und Arzneimittel. Je größer die Menge ist, die ich einkaufe, desto günstiger kann ich sie in der Regel einkaufen. Und man kann vermeiden, dass in einem Land ein Überschuss und in einem anderen Land ein Mangel herrscht. Ich gebe Ihnen noch ein Beispiel: Wir sind es gewohnt, im Urlaub in jedem Land der EU mit unserer europäischen
Krankenversicherungskarte eine kostenlose Behandlung bei Unfällen oder dergleichen zu bekommen. Deshalb glaube ich, dass Europa im Kopf der Menschen schon weiter ist als im Kopf der Politiker, die immer noch etwas skeptisch sind.

vdek: Prof. Brand, vielen Dank für die interessanten Ein- und Ausblicke.

Diesen und weitere Artikel zum hessischen Gesundheitswesen finden sie in der 3. Ausgabe 2016 des ersatzkasse report. Hessen