Voneinander lernen
Im Rahmen des “study visits” der amerikanischen Delegation gab es die Möglichkeit mit Assistant Secretary for the Employee Benefits Security Administration at the U.S. Department of Labor, Phyllis C. Borzi, ein ausführliches Interview zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden des deutschen und amerikanischen Gesundheitssystems zu führen.

Im Gespräch: Claudia Ackermann und Phyllis C. Borzi
Übersetzung aus dem Amerikanischen: Axel Walter
vdek: Welchen Eindruck haben Sie in den letzten Tagen vom deutschen Gesundheitswesen bekommen? Gab es irgendwelche neuen und für Sie unerwarteten Aspekte?
Phyllis C. Borzi: Das im späten 19. Jahrhundert begründete deutsche Gesundheitswesen ist das historisch erste umfassende Gesundheitssystem auf der Welt. Nach dem Zweiten Weltkrieg sind in Einklang mit der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ von 1948 überall in Europa umfassende Gesundheitssysteme entstanden: einige nach dem deutschen Beispiel; manche entwickelten neue Möglichkeiten zur Organisation und Finanzierung der medizinischen Versorgung für ihre Bürger. Von Deutschland heißt es oft, es sei eines der Länder in der EU, die über eine ausgezeichnete Gesundheitsfürsorge verfügen. Ein breites Spektrum an Kliniken, medizinischen Verfahren und Einrichtungen stellt sicher, dass jeder Zugang zu medizinischer Versorgung hat. Mit über vier Millionen Arbeitsplätzen ist die Gesundheitsversorgung der größte Beschäftigungssektor in Deutschland.
Dass dieses systematische verhandeln mit den Pharmaunternehmen die Preise niedrig hält, war eine interessante Neuigkeit für uns.
Ich wusste bereits das eine oder andere über die Geschichte des deutschen Systems, aber ich war doch überrascht zu erfahren, dass es sich bei ihm um kein öffentliches, vom Staat unterhaltenes System handelt wie etwa in Frankreich und Großbritannien oder vielen der anderen Staaten in der Europäischen Union. Es wird vielmehr von seinen Nutzern und den deutschen Arbeitgebern finanziert. Mir war auch bekannt, dass das „quasi-staatliche“ Gesundheitssystem fixe Vergütungssätze für Krankenhäuser festsetzt und den Arzneimittelherstellern Zugeständnisse bei den Preisen abringt. Dass dieses systematische Verhandeln mit den Pharmaunternehmen die Preise niedrig hält, war eine interessante Neuigkeit für uns, weil es in den Vereinigten Staaten starken Widerstand dagegen gab, über die Medikamentenpreise zu verhandeln.
Wie die USA verfügt auch Deutschland über eine Mischung aus privater und quasi-staatlicher Versicherung, mithin über zwei Systeme, die im Grunde unabhängig voneinander sind und nebeneinander bestehen, wobei es so ist, dass die Privatversicherung indirekt von der Kostenkontrolle des öffentlichen Sektors profitiert. Ich war überrascht zu erfahren, dass jemand, der sich einmal aus dem öffentlichen System abgemeldet und sich freiwillig versichert hat (ein Gutverdiener, ein Freiberufler), nicht mehr in den Genuss der Leistungen des öffentlichen Systems kommen kann, und nur in den seltensten Fällen führt für die betreffenden Personen ein Weg dorthin zurück. In den Vereinigten Staaten bewegen sich die Leute zwischen den beiden Systemen hin und her. In beiden Ländern können sich Gutverdiener und Menschen, die auf einer über dem Standard liegender Gesundheitsversorgung bestehen, für teurere private Krankenkassen entscheiden. Wie ich verstanden habe, herrscht in Deutschland die Meinung vor, dass diese profitorientierten Privatversicherer einen besseren, umfassenderen Versicherungsschutz bieten als die reglementierten, nicht kommerziellen Unternehmen.
Ein bisschen überrascht war ich auch darüber, dass die gesetzliche Krankenversicherung von rund 160 Krankenkassen betrieben wird. Einige dieser Krankenkassen sind regional verankert (z. B. lokale Krankenversicherungen) oder sie operieren landesweit. Diese Krankenkassen nehmen jeden auf, auch Arbeitslose.
Jeder Bundesbürger muss bei einer Krankenkasse versichert sein, und alle Krankenkassen müssen jedem Einzelnen eine vergleichbare Standardversorgung anbieten. Meinem Verständnis nach ist dieser Standard ziemlich umfassend und deckt die meisten Behandlungen und Eingriffe ab. Dies entspricht einem der Hauptziele des ACA (Affordable Care Act – „Obamacare“) – den Amerikanern umfassenden Zugang zur Gesundheitsfürsorge zu gewähren. Der so genannte „Einzelauftrag“ soll den allgemeinen gesundheitlichen Versicherungsschutz gewährleisten und die Kosten der damit verbundenen Versorgung zugleich im Rahmen des Bezahlbaren halten. Dieser Auftrag ist auch eine der umstrittensten Forderungen des ACA. Gemäß ACA muss jeder eine Krankenversicherung haben, die ein umfassendes Paket an grundlegenden Versorgungsleistungen beinhaltet. Es steht dabei jedem frei, sich über den Arbeitgeber, ein Regierungsprogramm, den Wechsel der Krankenkasse oder durch jedes andere Versicherungsprogramm zu versichern. Jemand, der über keinen Versicherungsschutz verfügt, muss eine Strafsteuer entrichten.
Genau darum geht es beim ACA – dafür zu sorgen, dass sich jeder Amerikaner im Krankheitsfall darauf verlassen kann, geschützt zu sein und versorgt zu werden.

Engagiert: Phyllis C. Borzi ist maßgeblich an den Reformen des amerikanischen Gesundheitssystems beteiligt
Der ACA ist weithin anerkannt als bedeutendste gesetzgeberische Maßnahme im Gesundheitswesen seit der Einführung von Medicare und Medicaid vor fast einem halben Jahrhundert. Genau darum geht es beim ACA – dafür zu sorgen, dass sich jeder Amerikaner im Krankheitsfall darauf verlassen kann, geschützt zu sein und versorgt zu werden; dass die Arbeit und Würde von jedermann Anerkennung und Bestätigung finden und dass keine Familie zahlungsunfähig werden muss, weil jemand erkrankt ist. Es ist auch richtig, dass Millionen von Amerikanern trotz dieses Gesetzes weiterhin unversichert bleiben. Dies liegt mit daran, dass die von der US-Regierung nach dem ACA geforderte und bezuschusste Ausweitung des staatlichen Medicaid-Versicherungsschutzes vor dem Obersten Bundesgericht erfolgreich angefochten wurde und das Gericht den Bundesstaaten die Entscheidung überließ, ob sie dieses wichtige öffentliche Programm ausweiten oder nicht. Bedauerlicherweise haben sich einige Staaten aus politischen Gründen dagegen entschlossen, die Medicaid-Absicherung nach diesem Gesetz auszuweiten. Es gibt noch viel zu tun, und wir werden hoffentlich in der Lage sein, mit jedem Jahr mehr Amerikaner versichern zu können.
Einer der Punkte, die mich am deutschen Gesundheitswesen am meisten beeindrucken, ist, dass der Langzeitpflege entscheidende Bedeutung beigemessen wird. Für mich war es sehr interessant, mehr über die Geschichte und die Umsetzung dieses neueren Fokus zu erfahren. Mit Inkrafttreten begründete der Affordable Care Act ein neues Programm zur Bereitstellung von Versorgungsleistungen der Langzeitpflege. Dies war einer der strittigsten Punkte des Gesetzes in den Kongressdebatten, denn die Privatversicherer standen einer Regierungsbeteiligung an dem Programm äußerst ablehnend gegenüber. Zu guter Letzt aber verabschiedete der Kongress ein Programm, das leider nicht zur Umsetzung gelangte. Nachdem die Versicherungsstatistiker über ein Jahr versucht hatten, auf der Grundlage der gesetzlichen Vorgaben ein praktikables Geschäftsmodell zu entwickeln, kapitulierten sie, und schließlich hob der Kongress das Programm auf. Das ist jedoch fraglos eine ganz wichtige Thematik, mit der man sich in den USA bald wird befassen müssen. Ich werde mit großem Interesse verfolgen, wie sich Ihr Programm weiterentwickelt, und ich hoffe, dass wir ein paar wichtige Lehren aus Ihren Erfahrungen ziehen können.
Unterschiede und Gemeinsamkeiten
Das deutsche und das US-amerikanische System haben dasselbe Ziel, denselben Auftrag, und der besteht in der Notfallversorgung von lebensbedrohlich erkrankten oder Notfallpatienten.
vdek: Welche spezifischen Unterschiede zum US-Gesundheitssystem haben Sie feststellen können, etwa im Hinblick auf die Notaufnahme, die Sie im Universitätsklinikum besucht haben?
Phyllis C. Borzi: Die meisten Notdienstzentren auf der Welt unterscheiden sich in Umfang und Leistungsfähigkeit. Dies ist auf die rasante Entwicklung der Medizintechnik und die enormen wirtschaftlichen Mittel zurückzuführen, die es braucht, um mit dieser technologischen Entwicklung Schritt zu halten. Und doch sind sie überall die erste Anlaufstelle für Menschen, die aufgrund außergewöhnlicher Ereignisse medizinisch versorgt werden müssen. Das deutsche und das US-amerikanische System haben dasselbe Ziel, denselben Auftrag, und der besteht in der Notfallversorgung von lebensbedrohlich erkrankten oder Notfallpatienten.
In diesem Zusammenhang haben mich die Ruhe und Ordnung und der gleichmäßige Ablauf in der Notaufnahme des Klinikums der Frankfurter Goethe-Universität außerordentlich beeindruckt. Besonders augenfällig war der geordnete und ruhige Ablauf in den Bereichen der Akutversorgung mit ihren intensivmedizinischen Möglichkeiten und in den verschiedenen Arealen für die „Intermediate Care“ (Bindeglied zwischen Intensivstation und Normalstation) und die Patientenüberwachung. Meinem Eindruck nach verlief der ständige Wechsel zwischen den Patienten, die versorgt wurden, gleichmäßig und reibungslos. Das habe ich auf manchen Notfallstationen in den Vereinigten Staaten nicht unbedingt so erlebt.

Besuch in der Zentralen Notaufnahme des Universitätsklinikums Frankfurt
Ich selbst habe mit mehreren Notfallaufnahmen Bekanntschaft gemacht, nicht nur als Patient, sondern auch in Begleitung von Familienangehörigen und Freunden. Je nach Zeitpunkt und der Zahl der Wartenden konnte man die Situation in manchen Fällen als chaotisch beschreiben, mit langen Wartezeiten und Patienten, die auf Transportliegen mitunter stundenlang auf den Gängen ausharren mussten, bis sie aufgenommen werden konnten. Zum Teil lässt sich die Überlastung einzelner Notfallambulanzen in den Vereinigten Staaten damit erklären, dass wir in unserem Gesundheitssystem nicht dafür gesorgt haben, dass alle Menschen rechtzeitig einen allgemeinen oder praktischen Arzt aufsuchen können. Und so kommt es eben zu den enormen Belastungen für die Notfallstationen und dem riesigen Andrang von Menschen ohne Krankenversicherung, die oftmals gezwungen sind, sich an die Notaufnahme zu wenden, weil das der einzige Ort ist, an dem sie eine medizinische Behandlung erhalten. Eines der Hauptziele des ACA ist es, jedem eine gute ärztliche Grundversorgung und Zugang zu Präventionsleistungen zu ermöglichen und auf diese Weise zur Entlastung der Notaufnahmen beizutragen.
Selbstverständlich habe ich in den Vereinigten Staaten auch Notfallstationen gesehen, die hohen Ansprüchen genügen, und das vor allen Dingen in einigen der größten und am stärksten ausgelasteten öffentlichen Krankenhäusern unseres Landes.
Hier in Deutschland, wo nahezu alle Menschen krankenversichert sind, fiel mir zudem auf, dass die Patienten in den Notaufnahmen die notwendige medizinische Versorgung erhielten, ohne dass sie gefragt wurden, wie es mit ihrer Zahlungsfähigkeit bestellt sei. In den USA war das nicht immer der Fall.
Im Jahr 1986 verabschiedete der Kongress den „Emergency Medical Treatment and Labor Act“ (EMTALA), der eine Praxis untersagt, die allgemein als „Patientendumping“ bekannt ist. Das Gesetz gibt dem Einzelnen das Recht auf Notfallversorgung ungeachtet seiner Zahlungsfähigkeit. Im Kern berechtigt das Bundesgesetz die betreffenden Personen zu dreierlei: dass sie untersucht, notfallversorgt und angemessen überführt werden. Ein Krankenhaus muss bei einem Notfallpatienten die erforderlichen stabilisierenden Maßnahmen ergreifen. Es muss die Person auf dringliche Erkrankungen/Verletzungen untersuchen und sie ohne Rücksicht auf ihre finanzielle Situation medizinisch versorgen.
Einige Versicherungsunternehmen haben sich geweigert, die Kosten für die Versorgung in der Notfallambulanz zu übernehmen, wenn das medizinische Personal zur Auffassung gelangte, dass kein wirklicher Notfall vorlag und der Patient eine Krankheit oder Verletzung behandeln lassen wollte, mit der er zu einem für die medizinische Grundversorgung zuständigen Arzt hätte gehen sollen. Erfreulicherweise sind Versicherungsunternehmen dank ACA nunmehr in der Pflicht, die in den Notaufnahmen durchgeführten Versorgungsmaßnahmen zu bezahlen, wenn ein „vernünftig und nachvollziehbar handelnder Laie“ die Lage als medizinischen Notfall hätte einschätzen können.
Deutschland und die USA sehen sich beide vor ähnliche demografische Herausforderungen gestellt, die aus einer zunehmend älter werdenden Gesellschaft herrühren. Weil unsere Bevölkerung immer älter wird, wird der Bedarf an medizinischer Notfallversorgung steigen. In diesem Zusammenhang müssen prästationäre Maßnahmen und das Vorgehen im Krankenhaus in der Zukunft besser aufeinander abgestimmt und effizienter gestaltet werden. Soweit ich es verstanden habe, scheint Deutschland und zumal Hessen in puncto Notfallversorgung richtungsweisend. Unsere beiden Länder können noch viel voneinander lernen, da wir uns jeweils auf einen wachsenden Bedarf an leistungsfähigerer und wirksamerer Notfallversorgung einstellen müssen.

Study visit: Einblick in den Arbeitsablauf der Zentralen Notaufnahme
Voneinander lernen und die Systeme weiterentwickeln
Ich denke, dass wir eine Menge voneinander lernen können.
vdek Was können die beiden Länder mit Blick auf das Gesundheitswesen voneinander lernen? Ist Ihnen etwas aufgefallen, was dem ACA zugutekommen könnte, womit er sich weiterentwickeln ließe?
Phyllis C. Borzi: Die Suche nach Lösungen ist mittlerweile eine weltweite, und so sehen sich auch die USA jenseits ihrer Grenzen um und interessieren sich dafür, wie andere Industrienationen ihre Gesundheitsversorgung organisieren und finanzieren. Die Herausforderungen, vor denen das amerikanische Gesundheitssystem gegenwärtig steht, sind sicher nicht einzigartig; die Gesundheitssysteme ächzen weltweit unter dem Druck alternder Bevölkerungen, exorbitant steigender Kosten und der Abhängigkeit von teuren hochtechnologisierten Lösungen und Verfahren. Die Industrienationen kämpfen unisono, um die drei gemeinsamen Anliegen im modernen Gesundheitswesen, nämlich Kosten, Zugang und Qualität, im Gleichgewicht zu halten. Ich denke, dass wir eine Menge voneinander lernen können, vor allem, da sich die Vereinigten Staaten einem System der Krankenversicherung verschrieben haben, das dem Deutschlands recht ähnlich ist, in dem nahezu alle Menschen Versicherungsschutz haben und der nicht vollständig von der öffentlichen Hand bestritten wird.
Zwei Hauptziele des ACA sind die Ausweitung des Krankenversicherungsschutzes auf immer mehr Menschen und die Erhöhung des Verbraucherschutzes durch Marktreformen. Wegen des ACA sind alle Amerikaner verpflichtet, eine Krankenversicherung abzuschließen oder eine Strafe zu zahlen, und alle Versicherer müssen die medizinische Versorgung ungeachtet von Vorerkrankungen oder Vorschädigungen sicherstellen. Die Employee Benefits Security Administration (Verwaltungsbehörde für die Sicherung der Sozialleistungen von Arbeitnehmern), die ich leite, hat zusammen mit dem Weißen Haus und anderen Bundesbehörden hart dafür gearbeitet, dass der ACA stufenweise umgesetzt wird. Bislang sind mehr als zwanzig allgemeine Richtlinien und noch einmal mehr als dreißig Ausführungsbestimmungen erlassen worden, die all denen, die es betrifft, ihre nach dem neuen Gesetz vorhandenen Rechte und Pflichten erklären sollen. Bei den bislang in Kraft getretenen Bestimmungen lag der Schwerpunkt darauf, den Zugang zu Krankenversicherungsschutz und dessen Qualität zu verbessern, den Teilnehmerschutz zu stärken (diese Bestimmungen werden auch als Marktreformbestimmungen bezeichnet), die Auskunftspflicht der Versicherer zu intensivieren sowie Missbrauch und Betrug zu verhindern.

Voneinander lernen: Austausch mit der amerikanischen Delegation im Rahmen des study visits
Ich bin sehr daran interessiert, Näheres über die Struktur der deutschen Krankenkassen zu erfahren und darüber, wie das öffentliche System die Mehrheit der Bürger versichert. Der ACA bietet die Möglichkeit, durch die Ausweitung der Teilnahmeberechtigung an Medicaid und die Einführung von Health Insurance Marketplaces (Organisationen zur Vermittlung einer Krankenversicherung) Millionen von derzeit noch unversicherten Menschen gesundheitlich abzusichern, auch wenn das leider nicht für alle gelingen wird. Die Zahl der Nichtversicherten zu verringern ist ein Hauptziel des ACA, und meine Behörde steht in der Pflicht, weiter auf dieses Ziel hinzuarbeiten.
In Deutschland haben sich die nicht gesetzlich Versicherten dafür entschieden, nicht an diesem System teilzuhaben und sich über den Markt der Privatanbieter krankenzuversichern, ähnlich vielleicht wie im amerikanischen Gesundheitssystem vor der Verabschiedung des ACA. Ich freue mich sagen zu können, dass die Vereinigten Staaten die richtige Richtung eingeschlagen haben und sich auf vieles zubewegen, was es in Deutschland schon lange gibt: ein Krankenversicherungssystem, welches verpflichtend und weder rein öffentlich noch rein privat ist mit geregelter Koexistenz von gesetzlicher Krankenversicherung und Unternehmen der Privatwirtschaft sowie insgesamt stärkerer Regulierung.
Steigende medizinische Versorgungskosten sind eines der am meisten kontrovers diskutierten Themen und geben den politischen Entscheidungsträgern weltweit Anlass zu großer Besorgnis.
Voneinander lernen können die beiden Länder auch in dem Bereich, in dem es unter dem Druck steigender Kosten immer dringlicher wird, Mittel und Wege zu finden, diese Kosten nachhaltiger einzudämmen und zu senken. Steigende medizinische Versorgungskosten sind eines der am meisten kontrovers diskutierten Themen und geben den politischen Entscheidungsträgern weltweit Anlass zu großer Besorgnis. Wie es aussieht, hat kein Land ein Konzept, wie man diesem Problem auf lange Sicht am besten begegnen könnte. Auf den Anstieg der Kosten für die Gesundheitsversorgung wurde mit Kostensenkungsmaßnahmen reagiert, und das führte dazu, dass bestimmte Fachgebiete des medizinischen Versorgungssystems für Ärzte finanziell gesehen an Attraktivität verloren. Dies führte zu einem Trend, nach dem sich Ärzte und Krankenschwestern in der Folge zunehmend für besser bezahlte Fachbereiche entschieden und es schließlich zu einem Engpass bei den Primärärzten kam. Voneinander lernen können beide Länder auch in Bezug auf das Problem des Mangels an medizinischem Personal angeht, in erster Linie an Ärzten und Schwestern der Primärversorgung. Dies betrifft vor allem den ländlichen und weniger bevölkerten Raum. Wie ich aus den Präsentationen und den Darlegungen beim Klinikbesuch erfahren habe, verhandeln hierzulande Ärztevertreter und Krankenkassen miteinander, um Vergütungsvereinbarungen zu erzielen; durch die daraus resultierende Vergütungsstruktur ist jeder über die Kosten der Behandlung bei einem konkreten Verfahren im Bilde. Im Unterschied dazu gibt es in den USA nach wie vor eine Grauzone von gedeckten/ungedeckten Ausgaben. D. h., in durchaus relevanten Fällen müssen Patienten Leistungen aus der eigenen Tasche bezahlen, die von ihren Versicherungen einfach nicht abgedeckt werden. Auf regionaler Ebene sind jedoch verschiedene Versuche unternommen worden, um ein tragfähiges Niveau für die Gesundheitsausgaben zu finden. So wird etwa in meinem Heimatstaat Maryland seit 1977 eine Strategie nach deutscher Art verfolgt, bei der die Kostenkontrolle durch Regulierung der Vergütungen erfolgt, die die staatlichen Krankenhäuser in Rechnung stellen können. Beim ACA hingegen wurde der Versuch unternommen, die Kosten für die medizinische Versorgung durch allgemeine Umstellung auf evidenzbasierte Medizin zu senken. Hierzu gehört auch die Einrichtung von sogenannten „Accountable Care Organisations“ (freiwilligen Zusammenschlüssen von Ärzten, Kliniken und anderen Erbringern von Gesundheitsleistungen), die auf die Senkung der Zahl unnötiger Eingriffe, von Wiedereinweisungsraten und unnötiger Notfallversorgungen hinarbeiten. Wie jedes großes Gesetzesvorhaben – von Social Security bis Medicare – ist auch dieses Gesetz nicht perfekt, und es bleibt noch viel zu tun. Ich glaube aber, dass wir auf dem richtigen Weg sind und unsere Ziele erreichen werden.
vdek: Sehr geehrte Frau Borzi, wir wünschen Ihnen weiterhin viel Erfolg bei der Umsetzung des ACA und bedanken uns sehr herzlich für dieses Interview.
Phyllis C. Borzi: Ich danke Ihnen nochmals, dass ich Gelegenheit hatte, mit Ihnen über das US-Gesundheitssystem zu sprechen und einiges über das deutsche System zu erfahren. Ich bin mir sich, dass wir in der Zukunft noch viel voneinander lernen können.
Das Interview ist im ersatzkasse report. Hessen - Ausgabe August 2014 erschienen.
Einen Bericht vom study visit der amerikanischen Delegation und weitere Bilder finden Sie hier.