P O L I T I K & V E R S O R G U N G wir wollen, dass die Primärversorgung vorgezogen und definiert wird. Es muss hybride Leistungsmöglichkeiten geben, damit wir nicht mehr zwischen ambu- lant und stationär unterscheiden müs- sen. Dahinter steht der Gedanke der Ambulantisierung, der sich aus beiden Teilen speist. Das kann im Einzelfall schon auch einmal ein Level Ii Kranken- haus sein. Alleine auf diese Struktur zu setzen, wäre aus meiner Sicht aber nicht sachgerecht und zu einseitig gedacht. Das heißt, Sie würden Ihre Primärver- sorgungssysteme durch eine stationäre Basis ergänzen. Genau, wir würden sie wo nötig quasi „hineinkonzipieren“. Wir sind in Baden-Württemberg jetzt mit zehn Primärversor- gungszentren gestartet und wollen sie weiter ausbauen. Es ist, um das provokativ zu sagen, kein Konzept für Reste- krankenhäuser, die im Prinzip nicht bedarfsnotwendig sind, sondern ein Konzept, um den Bedarf der Bürgerinnen und Bürger zu decken. Deren größte Sorge ist doch, dass sie sich beim späten Abendvesper tief in den Finger schneiden und keiner versorgt sie. Das sind sehr seltene, aber durch- aus auftretende Konstella- tionen. Und dafür brauchen wir Sicherheit, aber sicher- lich nicht immer das große Besteck. Können Sie kurz schildern, nach welchen Kriterien Sie diese Primärversorgungszent- ren aufgebaut haben? Der Grundgedanke geht über das reine medizinische Ver- sorgungszentrum hinaus. Wir fordern zum Beispiel eine Navigation und ein Case Management für Personen, die sich schwertun, durch ein System mit multidisziplinären Struktu- ren, Gesundheitsleistungen, ärztlichen Leistungen und pflegerischer Beratungsleistung zu navigieren. Auch müssen wir Pflege, andere therapeutische Berufe und natürlich auch mehrere ärztliche Dis- ziplinen bündeln. Haben Sie schon Erfahrungen damit, wie das bei den Menschen ankommt? Wir haben vor rund einem Jahr mit den ersten Modellprojekten begonnen, im Laufe dieses Som- mers erwarten wir erste konkrete Zwischenbe- richte. Woran es noch hakt, ist, dass es noch keine verbindlichen Genesungsbetten für mehrere Tage gibt. Das wollen wir mit dem Versorgungsgesetz verbessern. Problematisch sind auch Kooperations- verbote und Compliance-Richtlinien. Wir hatten in einem Primärversorgungszentrum tatsächlich das Problem, dass die Physiotherapiepraxis und die Arztpraxis keinen gemeinsamen Wartebereich nutzen durften wegen der Compliance-Vorgaben. So lassen sich Kräfte natürlich nicht bündeln. Sie kennen ja sicher unser vdek-Modell der Regio- nalen Gesundheitszentren (RGZ), das sehr ähnlich konzipiert ist. Ja, und im Prinzip müssen wir uns definitorisch noch auf eine Begrifflichkeit verständigen. Die Pri- märversorgung ist keine reine ärztliche Fixierung, sondern lebt auch von der eben beschriebenen Navigation und der Zusammenarbeit mehrerer Berufsgruppen im Team. Zudem sollen Primärver- sorgungszentren Mehrfachdiagnosen verhindern. Eine weitere Säule, die in der Diskussion ist und im Koalitionsvertrag steht, sind die Gesundheitskioske. Wie ist Ihre Haltung als Vertreter der Grünen dazu? Dem Bundesgesundheitsminister war das wichtig, aber wir haben uns in unserem Bundesland für andere Strukturmodelle entschieden. Ich glaube, da wird es keinen Wettbewerb geben. An solchen Orten, an denen es soziokulturell passt, ist die Kioskidee sicher einen Versuch wert. Aber wir in Baden-Württemberg konzentrieren uns auf die Pri- märversorgung. »Primär- versorgungs- zentren sind ein Konzept, um den Bedarf der Bürgerinnen und Bürger zu decken« 2 82 8