Perspektiven der Gesundheitspolitik: Wege zur Sicherung einer patientengerechten Versorgung zu bezahlbaren Preisen
Die Frage nach den zentralen Reformperspektiven für das deutsche Gesundheitswesen stand im Mittelpunkt eines Gesundheitsforums des Verbandes der Ersatzkassen (vdek) und der Hanns-Seidel-Stiftung am 2. Juli 2010 in München. Obwohl aufgrund der Aktualität der Ereignisse und der Tatsache, dass kurzfristig für den Tag der Veranstaltung zu einem Spitzengespräch ins Kanzleramt geladen wurde nicht alle Referenten anwesend sein konnten, brachten die Beiträge der anwesenden Experten – unter der geschickten Moderation von Christina Teuthorn vom Bayerischen Rundfunk – dennoch die Komplexität und Vielschichtigkeit der Themenstellung auf den Punkt.
Die Gesetzliche Krankenversicherung ist, wie der Vorstandsvorsitzende des vdek, Thomas Ballast anhand des Milliardendefizits der Kassen eindrucksvoll belegte, in einer äußerst schwierigen Lage, die rasches Handeln erfordert. Ballast stellte einen breiten Katalog unterschiedlichster Einsparmöglichkeiten vor, die von Nullrunden auf der Behandlerseite, über Korrekturen des Mehrwertsteuersatzes bei Arzneimittel, bis zur Überarbeitung von Vergütungsregelungen reichte. Unabhängig von den dringend notwendigen Anpassungen auf der Ausgabenseite müssen, so der vdek-Vorsitzende, dringend auch die Defizitprobleme auf der Einnahmeseite gelöst werden.
Langfristig muss daran gearbeitet werden, dass sich das Gesundheitswesen den zunehmenden Veränderungen in der Gesellschaft besser und vor allem schneller anpasst. Es gilt, eine neue Veränderungskultur im Gesundheitswesen bzw. in der Gesundheitspolitik zu entfalten, die es ermöglicht Innovationen in der Behandlung und Versorgung der Patienten schneller einzuführen und dabei gleichzeitig überholte Strukturen abzubauen. Im Hinblick auf die zunehmend älter werdende Gesellschaft ist es z.B. unabdingbar notwendig, die Versorgungsstrukturen an die demographische Entwicklung anzupassen. Die Solidargemeinschaft darf im Gesundheitswesen auch in Zukunft keinesfalls geschwächt werden. Es bedarf politischer Bekenntnisse, dass Solidarität ein Grundpfeiler der Gesetzlichen Krankenversicherung bleibt, den es weiter zu entwickeln gilt.
Ministerialdirektor Michael Höhenberger vom Bayerischen Gesundheitsministerium, der dankenswerter Weise kurzfristig für Staatsminister Dr. Söder einsprang, wies in seinem Beitrag in die gleiche Richtung. Das solidarisch finanzierte Gesundheitswesen sichert den sozialen Frieden in Deutschland. Es entspricht dem Gerechtigkeitsempfinden der Bürger, am Solidarprinzip festzuhalten. Höhenberger zitierte eine Umfrage, nach der 72% der Bürger kein neues Gesundheitssystem wollen, sondern nur Korrekturen des Bestehenden fordern. Im Mittelpunkt dabei stehen Kostendämpfungsmaßnahmen im Arzneimittelsektor, Einsparungen durch Bürokratieabbau und Beseitigung finanzieller Reibungsverluste bei der Verzahnung von ambulanter und stationärer Versorgung. Bayern verlangt zudem eine stärkere Regionalisierung der Vertragsregelungen mit den Leistungserbringern. Besonders im Zusammenhang mit dem Morbi-RSA drängt Bayern auf einen regionalen Ausgleichsfaktor gegenüber anderen Ländern. Auch zahlreiche qualitative Verbesserungen der Gesundheitsversorgung stehen auf der Prioritätenliste der Bayerischen Staatsregierung. So soll der Prävention und der Versorgungsforschung in Zukunft mehr Energie und Aufmerksamkeit gewidmet werden.
Während Herr Dr. Ralf Langejürgen, der Leiter der Landesvertretung Bayern des vdek, in seiner Begrüßungsrede noch mal auf den Spannungsbogen zwischen patientengerechter Versorgung und begrenzten finanziellen Ressourcen einging, betonte der Hauptgeschäftsführer der Hanns Seidel Stiftung, Dr. Peter Witterauf in seiner Begrüßung, dass Gesundheitsförderung und Prävention unverzichtbare Bausteine einer effizienten Gesundheitspolitik seien. Beide Strategien stärkten auf Dauer die Eigenverantwortung des Bürgers. Einer der größten Fortschritte in einer Gesundheitsreform wäre demnach ein vernetztes Denken und Handeln aller Akteure des Gesundheitswesens zum Wohle der Versicherten.
Der Wissenschaftler und Vorsitzende des Sachverständigenrates zur Begutachtung des Gesundheitswesens, Prof. Dr. Eberhard Wille beschrieb die Problematik der Finanzierung der Krankenversicherung über das Jahr 2011 hinaus. Die eigentliche Dramatik sei die Wachstumsschwäche auf der Einnahmenseite. Die demografische Entwicklung, geringere Löhne, zurückgehende Vollbeschäftigung (z.B. aufgrund veränderter Lebensführung junger Menschen) und relative hohe Arbeitslosigkeit werden tendenziell eher zum weiteren Rückgang der Beiträge führen. Die Beitragssätze müssten in Zukunft erheblich steigen, um Kostendeckung zu erzielen. Bereits jetzt werde das Gesundheitssystem mit 16,7 Milliarden Euro aus Steuermitteln bezuschusst. Es müsste daher in naher Zukunft die Einnahmebasis verbreitert werden. In der Kopfpauschale, die der Wissenschaftler lieber als „pauschalierten Solidaritätsbeitrag“ bezeichnen möchte, sieht er einen sinnvollen und vor allem gerechten Weg zur nachhaltigen Finanzierung des Gesundheitssystems. Dennoch war auch Professor Wille der Ansicht, dass viele ineffektive Bereiche im Gesundheitssystem aufgespürt und korrigiert werden müssten. Auch er nannte als Beispiel den Arzneimittelmarkt, bei dem allein 25 konkrete Regulierungsmaßnahmen Effizienz und Effektivität deutlich herabsetzen. Dezentralisierung von Versorgungsleistungen durch Selektivverträge zwischen Kassen und Leistungserbringern, um dadurch den Qualitätswettbewerb anzuregen, hielt Wille ebenfalls für einen guten Weg, Kostentransparenz und Kostenreduktion herbeizuführen.
Die Veranstaltung machte deutlich, dass mit der Erhöhung der Beitragssätze und der punktuellen Reduzierung von Ineffektivitäten in den Versorgungsstrukturen in den verschiedenen Bereichen des Gesundheitswesens keine Weichen für eine nachhaltige Gesundheitspolitik gestellt werden können. Allenfalls wird etwas Zeit gewonnen. Die großen Aufgaben zur Reform des Gesundheitswesens liegen weiterhin vor uns. Es bedarf, wie Thomas Ballast ausführte, eine permanente Bereitschaft zur schnellen Veränderung und den Willen, alte Strukturen abzubauen ohne den Grundgedanken der Solidarität zu gefährden.