Personalisierte Medizin - Zwischen Versprechen und Wirklichkeit
Bei der vom Verband der Ersatzkassen (vdek) und der Hanns-Seidel-Stiftung organisierten Tagung mit rund 140 Teilnehmern am 7. Oktober 2013 im Konferenzzentrum München stand die Zukunft der medizinischen Versorgung in Deutschland im Mittelpunkt. 190 Milliarden Euro wenden die gesetzlichen Krankenkassen jährlich für medizinische Versorgung einschließlich Spitzenmedizin und Spitzentherapie auf, die im Bedarfsfall der ganzen Bevölkerung zur Verfügung steht. Im internationalen Vergleich hat das deutsche Gesundheitswesen somit eine herausragende Position. Damit dies so bleibt, wollen die Ersatzkassen offen sein für jede medizinische Innovation, die Patienten unmittelbar nutzt, erklärte Ulrike Elsner, Vorstandsvorsitzende des vdek. Allerdings müsse Forschung valide Nachweise für den Zusatznutzen einer neuen Behandlungsmethode oder eines neuen Medikaments gegenüber bereits etablierten Verfahren erbringen. Ein komplexes Innovationsmanagement, in dem der Gemeinsame Bundesausschuss eine wichtige Rolle spielt, hat sich bislang in vielerlei Hinsicht bewährt, auch wenn hier noch Verbesserungsbedarf herrscht.
Mit dem Begriff Personalisierte Medizin, den vor ca. 10 Jahren vom Biochemiker und Mediziner Leroy Hood geprägt wurde, schlägt die Medizin eine Richtung ein, die neben der Krankheitsdiagnose behandlungsrelevante individuelle Merkmale auf zellulär/molekularer Basis berücksichtigt. Möglich wird dies seit der im Jahre 2001 erstmals gelungenen Genomsequenzierung beim Menschen. Ziel der Personalisierten Medizin ist es, das jeweils richtige Medikament in der richtigen Dosis für den richtigen Patienten zu finden, so Professor Dr. Manfred Dietel, Direktor des Instituts für Pathologie der Charité Berlin. Das entsprechende Handwerkszeug sind Tests, die entsprechende Biomarker identifizieren. Den bisher größten Fortschritt verzeichnet der Ansatz in der Onkologie. Für Manfred Dietel ist der Begriff Personalisierte Medizin allerdings irreführend. Ziel ist zumindest gegenwärtig nicht, individuell maßgeschneiderte Medizin zu entwickeln, sondern mit Hilfe der Biomarkeruntersuchungen heraus zu finden, welche Patienten auf welche Medikamente positiv reagieren, nicht reagieren oder sogar negativ reagieren.
Diese Ausdifferenzierung oder Stratifizierung (Ausschluss von Medikamenten, die bei einer bestimmten Patientengruppe nicht effektiv wirken) in sogenannte „Responder“ und „Nonresponder“ könnte zu Gewinnern aber auch zu neuen Verlierern in der medizinischen Versorgung führen, befürchtet Professor Dr. Giovanni Maio von der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Für ihn sei Personalisierte Medizin das Gegenteil von persönlicher und individueller Behandlung, sondern eher ein Marketingbegriff, der mit der Sehnsucht der Patienten spielt, sie würden einzigartig behandelt werden. Personalisierte Medizin führe nicht zu einer Aufwertung der Persönlichkeit, sondern zu ihrer Abwertung. Noch problematischer sieht Giovanni Maio allerdings die Tendenz, Krankheiten nur mehr lokalisiert auf biologischer Ebene zu betrachten. Bei Krankheiten sind Lebensbedingungen, soziales Umfeld, geistige und psychische Faktoren von großer Bedeutung. Die Unverwechselbarkeit des Menschen ist nicht gleich zu setzen mit der Unverwechselbarkeit seines Genoms. Personalisierte Medizin könnte einen neuen – bereits überwunden geglaubten – biologischen Reduktionismus begründen, den ärztlichen Blick verengen und dabei andere Zugänge und Behandlungsmethoden vernachlässigen. Je mehr Personalisierte Medizin als zukünftiger Ansatz in der medizinischen Forschung favorisiert wird, desto mehr wächst die Gefahr einer einseitigen Betrachtung von Krankheiten und Behandlungsmöglichkeiten.
Manfred Dietel, Giovanni Maio, Ulrike Elsner, Ralf Langejürgen (v.l.n.r.)
Die anschließende Podiumsdiskussion, die von Dr. Werner Bartens von der Süddeutschen Zeitung geleitet wurde, fokussierte zuerst auf den riesigen Forschungs- und Finanzierungsaufwand der Personalisierten Medizin, der auf der anderen Seite zur Vernachlässigung anderer wichtiger Forschungsaufgaben führen könnte. So besteht ein dringender Versorgungsbedarf hinsichtlich neuerer Antibiotika, die nur mehr von einer geringen Zahl von großen Pharmafirmen betrieben werde. Auch die Forschung zur Karzinomgenese müsse intensiviert werden. Grundsätzlich kann die Ausdifferenzierungsmethodik neue, erfolgreiche Behandlungsmöglichkeiten liefern. Die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) – so Ulrike Elsner - wird sich den neuen Entwicklungen nicht verschließen. Allerdings müsse die GKV kritisch bleiben und eindeutige Evidenzen für den personalisierten Ansatz fordern und eine Kosten-Nutzen-Bewertung vornehmen. Auch müsse sie den Versicherten transparent machen, für was ihr Geld ausgegeben werde. Eine Priorisierungsdebatte werde es auch in Zukunft nicht geben, d.h. die Ablehnung der Kostenübernahme für eine Behandlung werde es nicht aus Kostenerwägungen, sondern aufgrund fehlender Wirkungsnachweise geben.
Einig waren sich die Podiumsteilnehmer, dass sich die besonderen Verheißungen der Personalisierten Medizin mittelfristig abkühlen und sich wieder Raum für eine ganzheitlichere Betrachtung von Mensch, Gesundheit und Krankheit ergeben werde. Allerdings muss parallel auf die ärztliche Ausbildung geachtet werden. Die Machbarkeitssuggestion der Personalisierten Medizin respektive ihre Vermarktung übt starke Anziehungskraft auf die zukünftigen Ärzte aus. Die medizinische Versorgung benötigt jedoch Ärzte, die einen ganzheitlichen Zugang zum Patienten suchen, und diesen in seiner Persönlichkeit, in seiner Subjektivität wahrnehmen, eingebettet in seinen persönlichen sozialen und ökologischen Umfeld behandeln, also mit „Sozio-, und Psychomarkern“ und nicht mit Biomarkern allein. Dies gelingt mit echter Kommunikation und teilnehmendem Mitwirken der Patienten an der Behandlung. Teure Medizin werde nur von schlechten Ärzten gemacht.