Koproduktive Hilfen bei Demenz – Möglichkeiten der Unterstützung durch die Thüringer Pflegekassen

Grußworte/Reden des Ersatzkassenverbandes in Thüringen

Redebeitrag von Dr. Arnim Findeklee

Leiter der Landesvertretung des Ersatzkassenverbandes in Thüringen

anlässlich der Demenzkonferenz der Fachhochschule Jena am 12.6.2012

Im aktuellen Leistungskatalog der Pflegeversicherung hängt die Zuerkennung einer Pflegestufe vom Grad der körperlichen Beeinträchtigung eines Menschen ab. Es wird von einem sogenannten verrichtungsbezogenen Pflegebedürftigkeitsbegriff ausgegangen. Der überwiegende Teil der Pflegeversicherung ist für Leistungen konzipiert, die Versorgung und Hilfen im Bereich der Körperpflege, Ernährung, Mobilität und hauswirtschaftliche Versorgung betreffen. Hierin manifestiert sich der mittlerweise völlig unzulängliche Pflegebedürftigkeitsbegriff, der den gesetzlichen Regelungen zugrunde liegt. Er wird der Lebensrealität einer älter werdenden Bevölkerung nicht mehr hinreichend gerecht, da er zu formal auf körperliche Verrichtungen ausgelegt ist.

Demenziell Erkrankte haben jedoch in den überwiegenden Fällen Hilfe- und Unterstützungsbedarf auf anderen Ebenen. Sie sind insbesondere auf allgemeine Anleitung und Betreuung angewiesen. In Thüringen sind aktuell rund 72.000 Menschen pflegebedürftig. Ein Großteil davon ist auch an Demenz erkrankt. Schätzungen gehen davon aus, dass fast jeder Zweite Hilfen braucht, die auf eine eingeschränkte Alltagskompetenz ausgerichtet sind. Im überwiegenden Anteil  findet die Versorgung in der eigenen Häuslichkeit von Angehörigen allein oder mit der Unterstützung professioneller Pflegedienste statt.

Zur Entlastung der pflegenden Angehörigen finanziert die Pflegeversicherung bereits jetzt schon Betreuungsleistungen, die von Pflegediensten oder ehrenamtlich Tätigen angeboten werden. In Thüringen haben zwischenzeitlich mehr als drei Viertel aller Pflegedienste qualitätsgesicherte Konzepte entwickelt, die auf Unterstützungsleistungen bei Einschränkungen in der Alltagskompetenz ausgerichtet sind. Dazu kommen weitere 94 Anbieter sogenannter niedrigschwelliger Betreuungsleistungen, in denen Helferinnen und Helfer unter fachlicher Anleitung die Betreuung der Pflegebedürftigen übernehmen. Man kann also durchaus von einem nahezu flächendeckenden Angebot im Freistaat sprechen. Die Leistungen werden auf Wunsch in der Häuslichkeit des Versicherten erbracht. Darüber hinaus stehen Gruppenangebote zur Verfügung, die insbesondere auch zur Aufrechterhaltung des sozialen Kontaktes genutzt werden.

Zur Finanzierung der mit der Inanspruchnahme der Leistungen verbundenen Kosten stehen dem Pflegebedürftigen bis zu 200 Euro im Monat zur Verfügung. Die Höhe des Betrages hängt davon ab, wie hoch der Grad der Schädigung oder der Fähigkeitsstörungen des Betroffenen ist.

Bewertet man das Inanspruchnahmeverhalten für diese Angebote, bleibt festzustellen, dass die zusätzlichen Leistungen trotz Erhöhung der Zahlbeträge durch das Pflegeweiterentwicklungsgesetz noch nicht in dem Maße in Anspruch genommen werden, wie es dem geschätzten Bedarf entspricht. Befragt man die Betroffenen, geben sie einerseits als Grund an, dass die Pflegeversicherung nur einen festen Kostensatz übernimmt. Darüber hinaus müssen die Leistungen vom Pflegebedürftigen selbst bzw. seinen Angehörigen getragen werden. Andererseits spielen Faktoren eine Rolle, die auf der Ebene der Familie zu sehen sind. Neben Informationsdefiziten ist dies insbesondere die Abschottung nach außen wegen des Krankheitsbildes, was oftmals mit der sozialen Isolation der pflegenden Familie einhergeht.

Um hier Abhilfe zu schaffen, werden in Thüringen gemeinsam von Pflegekassen und dem Land Fördermittel bereit gestellt, um bestehende Versorgungsstrukturen und

–konzepte weiter auszubauen und die Information der Anspruchsberechtigten zu verbessern. Die Anzahl der jährlich geförderten Projekte ist kontinuierlich gestiegen. Zu Beginn der Förderung im Jahr 2004 waren es 13 Projekte, die mit rund 325 Tausend Euro  unterstützt wurden. In diesem Jahr fördern wir 34 Projekte und zwei Modellvorhaben mit insgesamt 600 Tausend Euro. Die Fördersummen werden dabei jeweils hälftig von den Pflegekassen und vom Land Thüringen aufgebracht. Die Fördermittel sind auf die Unterstützung von Ehrenamt und bürgerschaftlichem Engagement ausgerichtet und stehen darüber hinaus für Selbsthilfegruppen und

–organisationen zur Verfügung, die Hilfen anbieten, um die Lebensqualität Demenzerkrankter zur verbessern, die Versorgung in der Familie zu unterstützen und pflegende Angehörige zu entlasten. Die Förderung erfolgt auf Antrag. Über die zu fördernden Projekte wird jährlich neu entscheiden.

Sofern es nicht möglich ist, den demenziell Erkrankten in der eigenen Häuslichkeit zu versorgen, stehen stationäre Angebote mit speziell auf die Versorgung dieses Krankheitsbildes ausgerichteten Konzepten zur Verfügung. Entscheiden sich die Angehörigen wegen fortschreitender Einschränkung der Alltagskompetenz und steigenden somatischen Pflegebedarf für ein Pflegeheim, sind mittlerweile in fast allen vollstationären Einrichtungen der Dauerpflege speziell geschulte Betreuungskräfte beschäftigt. Diese Betreuungshelfer erhalten pflegefachliche Anleitung und übernehmen zusätzlich zur allgemeinen pflegerischen Versorgung Betreuungsaufgaben für demenziell erkrankte Heimbewohner. Die Kosten für dieses zusätzliche Personal werden vollumfänglich durch die Pflegekassen getragen. Anders als sonst bei Leistungen der Pflegeversicherung fällt in diesem Fall für den Pflegebedürftigen kein Eigenanteil an.

Die anstehende Pflegereform richtet sich insbesondere auf die Situation der an Demenz erkrankten Menschen. Weitere Leistungsverbesserungen für Demenzerkrankte werden in den Katalog der Pflegeversicherung eingehen. Es wird zwar noch nicht den pflegefachlich bereits seit längerem geforderten neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff geben. Demenzkranke können aber mit deutlich aufgestockten Leistungen rechnen. Erstmalig können Anspruchsberechtigte z. B. Pflegegeld oder Pflegesachleistungen auch dann erhalten, wenn die Pflegestufe I noch nicht erreicht ist, aber ein erheblicher Betreuungsbedarf wegen kognitiver Einschränkungen besteht. Darüber hinaus wird in den Pflegestufen I und II ein zusätzlicher Versorgungsbedarf für demenziell Erkrankte abgebildet. Weitere Leistungsverbesserungen zielen auf die Flexibilisierung der Leistungsinanspruchnahme. Zukünftig kann die Versorgung durch einen Pflegedienst über Zeitkontingente vereinbart werden. Im Weiteren gibt es erstmals einen Sachleistungsanspruch für Betreuungsleistungen und der Pflegebedürftige bei Bedarf den gesamten Sachleistungsbetrag ausschließlich dafür einsetzen. Mit den neuen Regelungen wird die bisherige Benachteiligung von Personen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz bei der Feststellung und Bemessung von Pflegebedürftigkeit zwar nicht vollständig ausgeglichen, die Folgen der sich unter Anwendung des jetzigen Gesetzes ergebenden Benachteiligung werden jedoch deutlich abgemildert. Diese und weitere in der Pflegereform vorgesehenen Neuerungen sind für die Betroffenen dringend notwendig.

Über die gesetzlichen Rahmenbedingungen hinaus engagiert sich der Verband der Ersatzkassen bei der Unterstützung von Initiativen, die mit bürgerschaftlichem Engagement dazu beitragen, dass auch Demenzkranke von einem Mehr an Lebensqualität profitieren. Die Ersatzkassengemeinschaft hat bereits zum zweiten Mal einen Zukunftspreis vergeben. Im letzten Jahr stand dieser unter dem Motto „Unterstützen – Zuwenden – Helfen“. Menschen und Initiativen waren aufgefordert, sich mit zukunftsweisenden Versorgungsideen und –konzepten beziehungsweise best-practice-Beispielen zu bewerben, bei denen professionelle Versorgungsangebote durch bürgerschaftliches Engagement ergänzt werden. Der Zukunftspreis war mit insgesamt 21.000 Euro dotiert. Die Resonanz war groß. Aus 88 Einsendungen hat eine Jury drei gleichberechtigte Preisträger ausgewählt, die aus zur Verfügung stehende Summe zu gleichen Teilen prämiiert wurden. In einem Projekt betreuen Ehrenamtliche hilfsbedürftige Senioren bei sich zu hause. Die Angehörigen werden an ein bis zwei Tagen in der Woche entlastet und die Senioren können in kleinen Gruppen ein Stück Normalität erleben. Mittlerweile nehmen 25 Gastgeber und 108 Gäste teil. Die Ehrenamtlichen erhalten dabei professionelle Begleitung von einer Pflegefachkraft und einer Sozialpädagogin. Sie schulen die Ehrenamtlichen nicht nur, sondern übernehmen auch die Organisation, achten auf eine gute Zusammenstellung der Gruppen und statten allen Haushalten regelmäßig Besuche ab. Ein weiterer Preis ging an eine Initiative, die Krankenhauspatienten mit Orientierungsschwierigkeiten bei stationärem Aufenthalt betreut. Eine Altenpflegerin organisiert eine stationsübergreifende Tagesbetreuung. Im Zusammenwirken mit zehn ehrenamtlichen Helfern gibt sie den Betroffenen eine feste Tagesstruktur mit gemeinsamen Mahlzeiten, Singen, Spielen und anderen Aktivitäten. Die Krankenhausabteilungen profitieren von dieser Unterstützung sehr. Sie gibt Menschen eine Struktur, die sonst im Klinikalltag noch nebenbei versorgt werden müssten. Diese beiden Beispiele stehen stellvertretend für das Engagement vieler Menschen zur Unterstützung pflegender Familien, damit deren Angehörige möglichst lange in der gewohnten häuslichen Umgebung versorgt werden können.

Auch in diesem Jahr werden die Ersatzkassen wieder einen Zukunftspreis ausloben.

Demenzerkrankungen werden zu einer zunehmenden gesellschaftlichen und gesundheitsökonomischen Herausforderung. Wie sich die Versorgungssituation für Demenzerkrankte in der Zukunft gestalten wird und welche Schritte bereits heute unternommen werden können, um der zukünftigen Situation zu begegnen, wird zu einem zentralen Thema der Versorgung der Thüringer Bevölkerung mit gesundheits- und Pflegeleistungen entwickeln. Daher ist es schade, dass aus Thüringen bislang noch keine Projektvorschläge im Rahmen des Zukunftspreises der Ersatzkassen eingereicht wurden. Dies sollte Ansporn sein, sich gemeinsam auf die Suche nach zukunftsträchtigen Modellen zu begeben. Gerade das vielschichtige Problem Demenz würde hierfür besonders geeignet sein.


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Kerstin Keding-Bärschneider
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