Interview mit dem Leitungsteam des Hessischen Krebsregisters

"Datenübermittlung per Schnittstelle statt händischer Eingabe in der Arztpraxis, das ist das Ziel!"

Dr. med. Soo-Zin Kim-Wanner, Leiterin der Landesauswertungs- und Abrechnungsstelle, Martin Rapp, Organisatorischer Leiter der Vertrauensstelle, und Dr. med. Gunther Rexroth, Ärztlicher Leiter der Vertrauensstelle, sind das Leitungsteam des Hessischen Krebsregisters. Nach der Umbauphase des Hessischen Krebsregisters haben die drei im Interview im Sommer 2021 bereits Einblicke in die Arbeit des Krebsregisters gegeben. Seit Anfang 2023 sind die Landesauswertungsstelle und die Abrechnungsstelle des Hessischen Krebsregisters dem Hessischen Landesamt für Gesundheit und Pflege zugeordnet. Im Mai 2023 hat der Hessische Landtag das Zweite Gesetz zur Änderung des Hessischen Krebsregistergesetzes beschlossen, das zum 15.08.2023 in Kraft getreten ist. Daher haben wir das Leitungsteam noch einmal zu einem Interview gebeten.

 

  • Seit 2023 sind die Landesauswertungsstelle und die Abrechnungsstelle des Hessischen Krebsregisters dem Hessischen Landesamt für Gesundheit und Pflege zugeordnet. Welche Veränderungen haben sich daraus für Sie ergeben?

Exekutive Aufgaben aus den Bereichen Gesundheit und Pflege sind seit dem 01. Januar 2023 im neu geschaffenen Hessischen Landesamt für Gesundheit und Pflege“ gebündelt, um die Effektivität und Effizienz der hessischen Gesundheitsverwaltung zu stärken. Die Landesauswertungs- und Abrechnungsstelle ist hierbei in der Abteilung für Datenverarbeitung im Gesundheitswesen angesiedelt. Dass komplexe Gesundheitsdaten registriert, dokumentiert, ausgewertet und übermittelt werden können, kann anhand der Krebsregister aufgezeigt werden. Die weitere Verbesserung der Nutzbarkeit der Daten für die Wissenschaft, Politik, Gesellschaft und Wirtschaft für Hessen, bundesweit und auch im Sinne des European Data Health Space gilt für alle Gesundheitsdaten. Hier bilden sich mit dem neuen Amt Möglichkeiten, Synergien zu nutzen und die Daten zu vernetzen.

  • Am 15.08.2023 ist das Zweite Gesetz zur Änderung des Hessischen Krebsregistergesetzes in Kraft getreten. Welche neuen oder geänderten Aufgaben und Herausforderungen ergeben sich für Sie aus dem neuen Gesetz?

Nach der Aufbauphase werden durch die Gesetzesnovelle die vorgesehenen Aufgaben des Krebsregisters in den Vordergrund gerückt.
Das Krebsregister bekommt mit der Einführung von Sanktionen für nicht oder nicht korrekt meldende Einrichtungen mehr Befugnisse, selbst für die Verbesserung seiner Funktionalität zu sorgen. Eine Herausforderung für das Krebsregister stellt die juristische Umsetzung des vorgesehenen Ordnungswidrigkeitsverfahrens dar.  
Mit einer klareren Regelung der Datenspeicherung, -weitergabe und -nutzung werden die gespeicherten Daten für eine Vielzahl möglicher Anwendungen nutzbar gemacht. Hierzu zählen z.B. die bundesweite Datenzusammenführung der Krebsregisterdaten beim Robert- Koch – Institut und die verbesserte Zusammenarbeit mit dem Deutschen Kinderkrebsregister in Mainz.
Vorgaben zum Datenschutz und das Widerspruchsrecht der Patient*innen wurden besser definiert. So gilt der Widerspruch der Patient*innen zwar für seine personen-identifizierenden Daten, im Sinne der Register-Vollzähligkeit jedoch nicht für seine anonymisierten Krankheitsdaten.

  • Wie zufrieden sind Sie mit dem Gesetz? Gibt es weiterhin Nachbesserungsbedarf und wenn ja, zu welchen Bereichen?

In die Novellierung haben die in den letzten Jahren gemachten praktischen Erfahrungen guten Eingang gefunden.

Naturgemäß stehen Datenschutzvorgaben und Funktionalität des Krebsregisters in reziproker Relation. In Anbetracht des hoch ethischen Auftrags des Krebsregisters ist wünschenswert, in zukünftigen Novellen die Bedürfnisse des Krebsregisters auf dem Kräftefeld des Datenschutzes weiter zu seinen Gunsten zu berücksichtigen. So verträgt sich z.B. die in die jetzige Gesetzesnovelle eingegangene Löschfrist der pseudonymisierten Widerspruchsfälle nach 7 Jahren nicht mit dem langfristigen Auftrag eines Krebsregisters. Das bisher als Referentenentwurf zur weiteren Abstimmung vorliegende Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG) wird weitere Anpassungen auch im Hessischen Krebsregistergesetz notwendig machen.

  • Gesundheitsdaten spielen eine wichtige Rolle bei der Entwicklung neuer Therapieverfahren. Gleichzeitig gehören sie zu den sensibelsten Daten, die es gibt. In der Novelle des Krebsregistergesetzes wird dem Schutz der Patientendaten mit mehreren Präzisierungen Rechnung getragen. Ist das aus Ihrer Sicht ausreichend, um die Patientendaten und die Betroffenenrechte ausreichend zu schützen? Sehen Sie andererseits auch eine eingeschränkte Aussagekraft, wenn bestimmte Daten nicht genutzt werden dürfen?

Beiden Zielen, der Nutzung der Krebsregisterdaten, wie auch dem Schutz der sensiblen Gesundheitsdaten, wird mit der Novelle Rechnung getragen. Dies wird deutlich an dem geänderten Widerspruchsverfahren, welches dem Patienten das Recht auf Löschung seiner personenidentifizierenden Daten einräumt. In der Vergangenheit wurde der komplette Datensatz der widersprechenden Person gelöscht und somit standen die Daten für die Krebshäufigkeitszählung nicht mehr zur Verfügung. Diese Einschränkung der Aussagekraft der Krebsregisterdaten ist somit nicht mehr gegeben, das sehen wir positiv.

  • Mit dem Gesetz wird es dem Krebsregister erlaubt, seine Daten künftig auch anderen Institutionen zur Verfügung zu stellen. Welchen Beitrag leisten Sie damit aus Ihrer Sicht konkret zur Versorgungsforschung allgemein und/oder zu speziellen Versorgungsfragen?

Durch den regionalen und internationalen Vergleich von Krebshäufigkeiten und der Krebsversorgung konnten in vielen Studien Erkenntnisse zu Risiken für die Krebsentstehung, die Effektivität von Präventionsmaßnahmen (z.B. Gebärmutterhalsscreening), sowie Defiziten in der onkologischen Versorgung gezogen werden. Die Datenquellen bilden in der Versorgungsforschung die Basis für die valide Beantwortung von wissenschaftlichen Fragestellungen. Mit der Nutzung von Daten aus mehreren Regionen und Ländern wird die Aussagekraft erhöht. Zudem sind Ergebnisse einfacher auf die hessische Bevölkerung übertragbar, wenn Hessen in den verwendeten Daten repräsentiert ist. In Auswertungen der International Association for Cancer Registries (IACR) können jetzt auch hessische Daten neben den Daten anderer Landeskrebsregister angefordert und genutzt werden. Das Hessische Krebsregister arbeitet in Arbeitsgruppen des European Network for Cancer Registries (ENCR) zur Harmonisierung und Verbesserung der Krebsregistrierung, sowie an internationalen Projekten mit. Im Hinblick auf den European Data Health Space wird mit der Novelle die gesetzliche Möglichkeit für eine Beteiligung von Hessen hinsichtlich der Krebsregisterdaten geschaffen.

  • Im Interview 2021 sagten Sie, das Ziel des Hessischen Krebsregisters sei es, in 5 Jahren (=2026) die Behandlung aller Tumorpatientinnen und -patienten in Hessen vollzählig und vollständig zu erfassen. Wie ist der aktuelle Stand zwei Jahre später? Sind Sie Ihrem Ziel schon nähergekommen?

Dem Ziel sind wir, das können wir mit Stolz sagen, definitiv nähergekommen. Insbesondere im stationären Sektor können wir in unseren Daten eine deutlich positive Entwicklung feststellen. Die Meldetätigkeit ist aus den meisten klinischen Einrichtungen aufgenommen bzw. deutlich ausgebaut worden. Im niedergelassenen Sektor kämpfen wir aber noch mit strukturellen Problemen. Hier erkennen wir aufgrund unserer Daten noch deutliche Meldelücken und befinden uns in der misslichen Lage, dass deutschlandweit Schnittstellen von den Praxen zu den Landeskrebsregistern fehlen. Die Meldetätigkeit fokussiert sich daher noch größtenteils auf die händische Eingabe im Meldeportal des Hessischen Krebsregisters. Diesen Umstand im ambulanten Sektor zu ändern, das ist eines unserer großen Etappenziele auf dem Weg zur Vollzähligkeit und Vollständigkeit der Krebsregisterdaten, dem wir unter anderem mit einem Fördervorhaben im ambulanten Sektor nachgehen.

  • Welche weiteren Ziele haben Sie darüber hinaus? 

Gemeinsam mit dem Land Hessen und der Landesärztekammer hat das Hessische Krebsregister ein Fördervorhaben ins Leben gerufen. Der ambulante Sektor soll an das Hessische Krebsregister angeschlossen werden. Datenübermittlung per Schnittstelle statt händischer Eingabe in der Arztpraxis, das ist das Ziel, welches mit dem Fördervorhaben verfolgt wird. Der Aufwand einer Krebsmeldung soll für Ärztinnen und Ärzte minimiert werden, indem vorhandene Daten in den Praxissystemen für die Meldung an das Hessische Krebsregister übernommen werden können.

Die Datennutzung wird weiter ausgebaut. Insbesondere soll der Zugang zu Informationen und Daten durch eine interaktive Datenbank weiter ausgebaut und für die Öffentlichkeit, Wissenschaft, Gesundheitspolitik und Versorgungsplanung erleichtert werden. In Zusammenarbeit mit anderen Krebsregistern und den Kliniken sollen onkologische Versorgungsfragen gemeinsam bearbeitet werden.