30 Jahre Selbsthilfe-Büro Niedersachsen

"Das ist mit Geld nicht zu kaufen"

Das Selbsthilfe-Büro Niedersachsen beging im November 2021 sein 30-jähriges Bestehen. Wir sprechen mit der Geschäftsführerin des Selbsthilfebüros, Dörte von Kittlitz, und dem Leiter der Landesvertretung, Hanno Kummer, über den Wert der Selbsthilfe.

vdek: Herzlichen Glückwunsch zum Jubiläum der Selbsthilfe in Niedersachsen. Was fällt Ihnen als Symbol zur Selbsthilfe ein, das Sie maßgeblich in Verbindung mit der Selbsthilfe bringen?

Dörte von Kittlitz: Vielen Dank. Für mich ist der Kreis das typische Symbol für Selbsthilfe. Wir kennen das auch vom Fußball, wo die Spieler vor dem Spiel im Kreis zusammen stehen. In der Selbsthilfe und im Sport zeigt sich, dass Vertrauen, gegenseitige Stärke und kreative Gespräche eine positive Wirkung haben.

Hanno Kummer: Ich denke an die Selbsthilfe-Veranstaltungen der Ersatzkassen mit Mitgliedern von Selbsthilfegruppen. Im Vorfeld waren manche Teilnehmer unsicher, ob sie sich zutrauen, vor großem Publikum über ihre Situation zu sprechen. Sie haben sich dann aber dafür entschieden, weil ihnen das Thema so wichtig ist. Die Vorträge haben mich tief beeindruckt und gezeigt, wieviel Stärke Selbsthilfe vermittelt.

vdek: Was macht Selbsthilfe für Sie aus und was ist Ihre Rolle in der Selbsthilfe?

v. Kittlitz: Aktive in der Selbsthilfe sind in ihrem Bereich Expertinnen und Experten, haben eine hohe Betroffenenkompetenz, verfügen über wertvolle Erfahrungen zu ihrer Erkrankung, erlangen hohe Eigenverantwortung, machen anderen Mut, setzen auf Vertrauen in der Gruppe und können sich somit offen austauschen.
Das Selbsthilfe-Büro Niedersachsen ist die Fachstelle für landesweite Vernetzung, Service und Kooperation von Selbsthilfe. Wir verbinden Institutionen für den gesundheitlichen, psychischen und sozialen Selbsthilfebereich. Wir unterstützen und begleiten die Menschen vor Ort, die sich eigenverantwortlich für ihre Belange einsetzen, nach Lösungsmöglichkeiten suchen und diese in Handeln umsetzen möchten.

Kummer: Wir haben in Deutschland ein leistungsstarkes Gesundheitswesen mit Diagnostik, Vorsorge und Therapie. Aber das, was Selbsthilfe bietet, nämlich einen direkten Austausch und gegenseitige Unterstützung, können professionelle Angebote nicht leisten. In der Selbsthilfe fühlen sich die Teilnehmenden in ihrer Gruppe verstanden – das ist mit Geld nicht zu kaufen. Daher messen wir der Selbsthilfe eine große Bedeutung zu.
Als gesetzliche Krankenversicherung (GKV) finanzieren wir gesundheitsbezogene Selbsthilfe. Die Ersatzkassen zahlen dabei mehr als drei Millionen Euro pro Jahr für die Selbsthilfe in Niedersachsen. Damit gibt es eine hohe Verlässlichkeit und auch Transparenz in den Förderverfahren. Landesweit gibt es von Seiten der GKV feste Ansprechpartner für die Regionen, die untereinander aufgeteilt sind. Damit ermöglichen wir ein bürokratiearmes Verfahren.

vdek: Seit 2015 vergibt der vdek in Niedersachsen den Selbsthilfepreis. Was soll dabei besonders gefördert werden und was macht dieser Preis für Sie aus?

Kummer: Wir wollen mit dem Selbsthilfepreis Wertschätzung für die Selbsthilfe fördern. Gefragt sind kreative und erfolgreiche Ideen der Selbsthilfe. Diese müssen nicht unbedingt in spektakulären Aktionen bestehen. Gute Arbeit in der Selbsthilfe kann sich auch in der Kontinuität einer Gruppe oder in der Ansprache von Neumitgliedern zeigen, ausdrücken oder fördern.

v. Kittlitz: Mit dem Selbsthilfepreis kann den lokalen Selbsthilfegruppen eine Plattform geboten werden, sich zu zeigen und Bestätigung für ihre wertvolle Arbeit zu finden. Darüber hinaus bietet ein Preis die Möglichkeit, auf Anliegen der Selbsthilfe aufmerksam zu machen.

vdek: Was ist Ihrer Meinung nach der gesellschaftliche Wert von Selbsthilfe?

Kummer: Wenn Menschen Unterstützung erfahren, hat es immer einen gesellschaftlichen Wert. Außerdem kann Selbsthilfe nicht ohne Ehrenamt funktionieren – sie ist Dreh- und Angelpunkt ihrer Stärke. Wir wollen Menschen motivieren, sich ehrenamtlich einzusetzen. Das sage ich gerade als Vertreter der gesetzlichen Krankenversicherung, bei der Ehrenamtliche in den Verwaltungsräten den Kurs von Krankenkassen maßgeblich mitbestimmen.
Konkret bedeutet Selbsthilfe übrigens auch, einen Beitrag zur Enttabuisierung von psychischen Krankheiten, wie Angst und Depression, leisten. Es ist wichtig, dass Selbsthilfe-Gruppen in diesem Sinne auch in die Öffentlichkeit gehen.

v. Kittlitz: Ehren- und Hauptamt arbeiten Hand in Hand. Sie ergänzen sich durch ihre Kompetenzen, indem das Hauptamt die organisatorischen und finanziellen Rahmenbedingungen schafft, während sich das Ehrenamt mit all den persönlichen Kompetenzen und der Betroffenheit engagiert. Und es gibt mittlerweile zu fast allen Erkrankungen Selbsthilfegruppen, die sich im ständigen Wandel befinden. Vom Engagement in der Selbsthilfe profitieren die Betroffenen, aber es profitiert auch die Gesellschaft an sich, Gesundheits- und Sozialsystem können sich im Zusammenspiel mit den Engagierten weiterentwickeln. Letztlich gewinnen wir alle vom Selbsthilfeengagement.

vdek: Was ist Ihre Vision für die Selbsthilfe?

v. Kittlitz: Um einmal etwas Konkretes zu nennen: Ich wünsche mir einen Ort auf Landesebene, an dem sich alle zivilgesellschaftlichen Institutionen treffen können. So könnte es zur Selbstverständlichkeit werden, dass gemeinsam alle Partner der Selbsthilfe zusammenfinden und sich besser austauschen können.
   
Kummer:
In den letzten 20 Jahren ist viel erreicht worden, denn Selbsthilfe ist ein hohes Maß an Akzeptanz. Meine Vision ist also kein „Höher, Schneller,  Weiter“, sondern das bisher Erreichte weiterzuführen und zu sichern. Es muss der Selbsthilfe gelingen, Nachwuchs zu gewinnen und für das Ehrenamt zu motivieren. Dabei müssen auch die richtigen Formate gefunden werden.