vdek-Fachgespräch: Ein Sprung in die Zukunft - Der digitale Rettungsdienst und die Rolle des Telenotarztes

Am Mittwoch, den 27. November 2024, lud die vdek-Landesvertretung zum Fachgespräch "Ein Sprung in die Zukunft: Der digitale Rettungsdienst und die Rolle des Telenotarztes" ein. Im Mittelpunkt der Veranstaltung stand die Einführung des Telenotarztes in Sachsen-Anhalt. Diese innovative Versorgungsform soll schnellere und gezieltere Hilfe ermöglichen, die notärztliche Versorgung entlasten und langfristig auch Kosten senken. Sollte das Pilotprojekt in der Stadt Halle (Saale), dem Saalekreis und dem Landkreis Mansfeld-Südharz erfolgreich verlaufen, könnte eine flächendeckende Einführung des Telenotarztes in Sachsen-Anhalt folgen. Beim vdek-Fachgespräch kamen Experten und politische Akteure zusammen, um die Voraussetzungen für eine mögliche flächendeckende Umsetzung des Telenotarztes sowie die Rolle des webbasierten Versorgungskapazitätsnachweises IVENA für eine effiziente Notfallversorgung zu diskutieren.

IVENA in Hessen: Vorbild für Sachsen-Anhalt?

IVENA (Interdisziplinärer Versorgungsnachweis) wurde 2013 vom hessischen Ministerium für Familie, Senioren, Sport, Gesundheit und Pflege landesweit eingeführt und ist ein zentraler Bestandteil des Krankenhaus-Versorgungsnachweises nach dem Hessischen Krankenhausgesetz (HKHG). „IVENA trägt wesentlich zur Qualität und Effizienz der Patientenversorgung bei, da alle hessischen Plan-Krankenhäuser nach Notfallstufen und Fachgebieten abgebildet sind“, erklärt Hans Georg Jung, freiberuflicher Experte für IVENA, Patientensteuerung und Notfallversorgung, Krankenhausalarm- und Einsatzplanung. Die Plattform vernetzt alle 23 hessischen Leitstellen und ermöglicht eine präzise regionale und überregionale Zuweisung von Patienten. Bereits vor Eintreffen des Patienten im Krankenhaus können diagnostische und therapeutische Daten übermittelt werden, was die Versorgungszeiten optimiert.

Seit 2019 wird die Vollversion von IVENA mit umfassenden Steuerungsfunktionen genutzt. „Die Patientenzuweisung erfolgt meist direkt durch das Rettungsdienstpersonal über digitale Notfallprotokolle mit IVENA-Schnittstelle“, erläutert Jung. Nur bei lebensbedrohlichen Fällen greifen die Zentralen Leitstellen ein. Während der COVID-19-Pandemie übernahm das Ministerium für Familie, Senioren, Sport, Gesundheit und Pflege die zentrale Steuerung der Versorgungskapazitäten über IVENA.

Die bisher erfassten Millionen Leistungsdaten von IVENA werden vorrangig für die Krankenhausplanung durch das Ministerium und die Hessische Krankenhausgesellschaft (HKG) genutzt. „Die Daten helfen, frühzeitig Anpassungen in der Versorgung zu identifizieren, etwa bei neurologischen Erkrankungen“, sagt Jung. „Überdies werden IVENA-Daten jedoch weder evaluiert noch der Selbstverwaltung zur Verfügung gestellt. Eine umfassende Datentransparenz wird von den Nutzern noch kritisch gesehen“, merkt Jung an. Es seien jedoch Projekte zur Qualitäts- und Versorgungsforschung sowie zur interoperablen Datennutzung in Planung.

Einheitliche Standards und Digitalisierung im Rettungsdienst Sachsen-Anhalts

Tobias Niemann, Leiter Rettungsdienst beim Malteser Hilfsdienst Magdeburg und Vertreter der Landesarbeitsgemeinschaft der Hilfsorganisationen in Sachsen-Anhalt, fordert eine konsequente Weiterentwicklung und Standardisierung im Rettungswesen. „Wir brauchen eine landesweit einheitliche Umsetzung der Standardarbeitsanweisungen und Behandlungspfade im Rettungsdienst, damit Algorithmen vergleichbar und Standards durchgängig implementiert werden“, erklärt Niemann. 

Ein Schwerpunkt liege zudem auf der flächendeckenden Digitalisierung des Rettungsdienstes. „Die Einführung einer landesweiten digitalen Einsatzdokumentation sowie die Echtzeit-Datenübertragung sind längst überfällig“, betont Niemann. Dazu gehöre auch eine optimierte Navigation und Einsatzkoordination, die telemedizinische Unterstützung sowie die Vernetzung und Kommunikation zwischen Rettungsdienst und Krankenhäusern. „Erst durch eine effiziente Datenanalyse und Qualitätssicherung können wir nachhaltig die Versorgung verbessern.“

Darüber hinaus fordert Niemann, IVENA kontinuierlich weiterzuentwickeln. „Die Integration von Echtzeitdaten ist essenziell, um eine präzise und aktuelle Übersicht über die Ressourcenverfügbarkeit zu gewährleisten“, sagt er. Ein wichtiger Schritt sei die Einführung bundesweit einheitlicher Patientencodes, um die Koordination und Zuweisung zu optimieren. 

IVENA und Telenotarzt in Sachsen-Anhalt

„IVENA ist im Rettungsdienstgesetz des Landes Sachsen-Anhalt bereits ausreichend verankert“, erklärt zudem Dr. Karsten zur Nieden, Ärztlicher Leiter Rettungsdienst der Stadt Halle (Saale). „Die Weiterentwicklung auf Landes- und Bundesebene sollte jedoch verstetigt und die erhobenen Daten qualitätssichernd ausgewertet werden.“ 

Zum Telenotarzt betont er: „Dieser ist bisher nicht im Rettungsdienstgesetz verankert und wird derzeit nur im Rahmen der Experimentierklausel (§ 49a RettDG LSA) getestet. Langfristig sollte er als Bestandteil des Rettungsdienstes ins Gesetz aufgenommen werden.“ Der Telenotarzt ergänze das bestehende System von RTW und NEF im Rendezvous-System. „Ein Telenotarzt kann bei Einsätzen, die vor allem ärztliche Entscheidungs- oder Beratungskompetenz erfordern, den Notarzt ersetzen. Bei akuten Lebensgefahren bleibt jedoch ein Notarzt vor Ort unverzichtbar“, so Dr. zur Nieden.  
Langfristig erwartet Dr. zur Nieden einen Einfluss auf die NEF-Einsatzzahlen: „Es ist mit einem Rückgang der NEF-Einsätze zu rechnen, der in anderen Regionen mit etwa 20 Prozent kalkuliert wird“. 

Integrierte Kreisleitstellen sind besonders in Krisenzeiten unverzichtbar und bedürfen der weiteren digitalen Vernetzung  

Integrierte Kreisleitstellen sind unverzichtbar für die nichtpolizeiliche Gefahrenabwehr, insbesondere in Krisenzeiten. „Sie sind die koordinierende Einsatzzentrale für Rettungsdienst, Brandschutz, Katastrophen- und Zivilschutz und rund um die Uhr erreichbar“, betont Götz Ulrich, Präsident des Landkreistages Sachsen-Anhalt. Dabei ist der Grundsatz „Ein Landkreis, eine Leitstelle“ vor allem für den Zivilschutz von zentraler Bedeutung.

Ulrich hebt hervor, dass bundesrechtliche Reformen des Rettungsdienstes die föderale Zuständigkeit respektieren müssen: „Der Bund hat keine Gesetzgebungskompetenz für die Organisation des Rettungsdienstes in den Ländern.“ Reformansätze dürfen weder die ehrenamtlichen Strukturen im Rettungsdienst noch die Arbeit der Feuerwehren und des Katastrophenschutzes gefährden.
Die Digitalisierung bietet jedoch große Chancen für die Leitstellen. Viele Prozesse sind bereits digitalisiert und mit IVENA wurde in Sachsen-Anhalt ein wichtiger Schritt zur Digitalisierung des Rettungsdienstes unternommen. „Es bedarf jedoch einer über Ländergrenzen hinausgehenden Kooperation“, so Ulrich. Elemente wie der Telenotarzt können die Qualität im Rettungsdienst erhöhen, ein Notarzteinsatzfahrzeug jedoch nicht ersetzen. Auch die digitale Ausstattung der Rettungsmittel und die einheitliche Vernetzung mit Krankenhäusern sowie zwischen Leitstellen sind für weitere Qualitätsverbesserungen unerlässlich.

Das Thema des Abends in der politischen Diskussion

Tobias Krull (CDU) sieht das aktuelle Landesrettungsdienstgesetz als solide Grundlage, erkennt jedoch Optimierungsbedarf, insbesondere im Hinblick auf technologische Entwicklungen. „Die neuen technischen Möglichkeiten zur Verbesserung der Notfallversorgung sollten bei der nächsten Überarbeitung dauerhaft eingearbeitet werden“, sagt Krull. Der Telenotarzt sei eine zusätzliche Unterstützung und kein Ersatz für die Notfallversorgung.

Andreas Henke (Die Linke) spricht sich für eine Notfallreform aus und betont: „Der vertragsärztliche Notdienst, die Notaufnahmen der Krankenhäuser und die Rettungsdienste müssen sich zwingend besser vernetzen.“ Er unterstützt ebenfalls eine Verstetigung des Telenotarztes, warnt jedoch davor, den menschlichen Kontakt in der Notfallversorgung zu verlieren.

Rüdiger Erben (SPD) begrüßt die Experimentierklausel im RettDG LSA, fordert jedoch Nachbesserungen bei der Umsetzung. „Die Abläufe in der Landesregierung in den letzten drei Jahren schließen es aus, dass der darin festgelegte ‚Fahrplan‘ eingehalten wird“, erklärt er. Erben spricht sich für eine Verstetigung des Telenotarztes aus, lässt jedoch offen, ob der Telenotarzt zu einer Reduzierung von Notarztstandorten führen könnte: „Das kann seriös erst nach Auswertung des Modellprojektes beantwortet werden.“

Konstantin Pott (FDP) sieht in der Digitalisierung eine wichtige Chance, die Effizienz und Versorgungsqualität im Rettungswesen zu steigern. „Wir brauchen einen Fokus auf die Digitalisierung und die daraus erwachsenden Möglichkeiten“, betont er. Er unterstützt die Erweiterung des Systems „IVENA PZC+“ und fordert die landesweite Einführung einer smartphonebasierten Ersthelfer-Alarmierung. Auch Erben unterstützt die Erweiterung von IVENA PZC+ und bezeichnet es als „das richtige Instrument, damit Patienten schneller ins richtige Krankenhaus gelangen.“ Zum Thema Datenschutz zeigt er sich optimistisch und sieht auch in Sachsen-Anhalt eine tragfähige datenschutzrechtliche Lösung. Krull hebt hervor, dass die Lösung aus Hessen ein gutes Beispiel für den Umgang mit unterschiedlichen Bedürfnissen darstellt.
Die Reihenfolge der Umsetzung neuer Vorgaben im Rettungswesen wird unterschiedlich bewertet. Krull hält es für notwendig, Krankenhausplanung und Notfallrettung zusammen zu betrachten: „Aus meiner Sicht kann man das nicht getrennt betrachten. Beides muss zusammen gedacht und erarbeitet werden.“ Bei der Frage nach der Zuständigkeit für den Rettungsdienst plädiert Erben für die Beibehaltung der bestehenden Struktur, in der Rettungsdienst, Brandschutz und Katastrophenschutz in einem Ministerium zusammengefasst sind.

Sebastian Striegel (Bündnis 90/Die Grünen) fordert eine dezentrale Planung des Rettungsdienstes, die auf regionale Bedürfnisse eingeht. „Wenn wir über den Rettungsdienst sprechen, sollten wir nicht vom fernen Magdeburger Tisch aus die großen Strukturfragen bewegen“, sagt Striegel. Auch er sieht die Experimentierklausel als Möglichkeit, den Telenotarzt zu testen, mahnt jedoch zu Geduld: „Es ist verfrüht, jetzt abschließend über Wirkungen und Potenziale dieser Ansätze zu befinden.“ Zum Thema Datenschutz fordert Striegel, dass Vitaldaten und medizinische Informationen immer für die Behandlung zur Verfügung stehen, um die Versorgung zu optimieren: „- all diese Informationen müssen über den Rettungswagen und die Leitstelle an das Krankenhaus gelangen.“

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass alle politischen Akteure das Potenzial digitaler Innovationen, wie des Telenotarztes und des Systems IVENA PZC+, anerkennen. Gleichzeitig bestehen unterschiedliche Auffassungen darüber, wie diese Technologien in die bestehende Rettungsdienststruktur integriert werden können. Datenschutzfragen, die Verzahnung der Krankenhausplanung mit dem Rettungswesen und die ministerielle Zuständigkeit sind ebenfalls zentrale Themen der laufenden Debatte. Der Strukturwandel im Rettungsdienst ist dabei nicht von heute auf morgen abzusehen – es bleibt ein dickes Brett, das von der Kommunal- bis zur Bundespolitik gebohrt werden muss. Der Wandel wird nur schrittweise erfolgen. Die nächsten Schritte müssen nun die Bedürfnisse der verschiedenen Akteure sowie die Notwendigkeit einer effizienten und gerechten Versorgung im Rettungswesen miteinander in Einklang bringen.

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