"Ohne ein modernes, zukunftsweisendes Zielbild bleibt jede Reform der Notfallversorgung nur Flickwerk."
Herr Professor Dr. Krafft lehrt an der Fakultät für Health, Medicine and Life Sciences der Maastricht University und an der Chinesischen Akademie der Wissenschaften. Am Care and Public Health Research Institute in Maastricht leitet er die Health Geography & System Thinking Group sowie zusammen mit seinem Kollegen Prof. David Townend die interdisziplinär Health Law and Governance Group.
Mit dem Untertitel „Partikularismus vs. Systemdenken“ hat die Forschungsgruppe um Professor Krafft im Auftrag der Bertelsmann Stiftung und der Björn-Steiger-Stiftung eine umfangreiche Studie zum Status und den Entwicklungsoptionen der Notfallversorgung in Deutschland veröffentlicht. Diese zeigt schonungslos auf, wie groß der strukturelle Rückstand in Deutschland gegenüber dem internationalen Stand ist. Gleichzeitig wird betont, dass dies keine Frage der Finanzierung ist. Im Interview spricht Prof. Krafft über die zentralen Lösungsansätze für eine Modernisierung der Notfallrettung in Deutschland.
Herr Krafft, wenn Sie nur Eines benennen könnten: Was ist aus Ihrer Sicht das größte Defizit in der Notfallversorgung in Deutschland?
Aus unserer Sicht ist das Fehlen eines verbindlichen, modernen und umfassenden Leitbildes für die Notfallversorgung das entscheidende und besonders kritische Defizit. Föderale Strukturen und sektorales Denken bewirken einen Flickenteppich an Lösungen bundesweit - aber auch innerhalb der Länder. Rettungsdienst und Notfallversorgung sind zudem nicht das Ergebnis koordinierter und geplanter Systementscheidungen, sondern über die Jahre gewachsen. Um dieses System schnell zukunftsfähig zu machen, müssen Aufgaben und Versorgungsziele umfassend definiert und dann entsprechend der Versorgungsnotwendigkeiten unabhängig von der überkommenen Sektorenabgrenzung koordiniert umgesetzt werden. Ohne ein modernes, zukunftsweisendes Zielbild bleibt jede Reform der Notfallversorgung nur Flickwerk, und nach der Reform ist dann wieder vor der Reform. Da hilft es auch nicht, dass Deutschland ein „Land der Leuchtturmprojekte“ ist, wie das Ärzteblatt kürzlich spöttisch kommentierte. Nur mit einem einheitlichen Zielbild kann beurteilt werden, welche der unzähligen Studien, Pilotprojekte und Modellversuche einen substantiellen Beitrag zur Systementwicklung leisten kann. Und nur um möglichen Missverständnissen vorzubeugen: Die Autoren der Studie sehen die gegebenen föderalen Strukturen und Aufgabenteilung nicht als ein Problem an. Aber die jeweiligen Zuständigkeiten müssen auch wahrgenommen werden. Für den Bund bedeutet das, dass die ausschließliche Zuständigkeit für die Festlegung der Leistungen der GKV beim Bund liegt und dass somit auch die Qualitätsanforderungen und der Leistungsumfang des Rettungsdienstes - soweit er durch die GKV finanziert wird - vom Bund bestimmt wird. Die Debatte zu angeblich notwendigen Verfassungsänderungen oder zu neuen Versorgungssektoren für den Rettungsdienst (obwohl ja gerade die Überwindung der ohnehin schon bestehenden Sektorengrenzen angestrebt wird) erscheint uns nicht zielorientiert und eher kontraproduktiv.
Welcher Lösungsansatz könnte am meisten bewirken, um zum internationalen Stand aufzuschließen?
Um mal im (Hessen-)Land zu bleiben: Mit IVENA (Interdisziplinärer Versorgungsnachweis) wurde eine leistungsstarke, digitale Plattform geschaffen, die konsequent für die notwendige umfassenden Digitalisierungsoffensive genutzt werden kann. Hier war und ist Hessen mal wirklich vorn, und das Potential sollte unbedingt schnell genutzt werden, um international Anschluss an den Stand von Patientenzuweisung und Leistungsdokumentation zu finden. Ein anderes Beispiel: Die KV Hessen hat mit ihren zwei Rufzentralen für ganz Hessen zur Beantwortung der Rufnummer 116117 sowie mit der Umstellung auf das standardisierte bundeseinheitlich Abfragesystem SMed gezeigt, wie medizinische Leitstelle in der ersten Hälfte des 21. Jahrhundert geht. Natürlich hat die KV unabhängig davon noch etliche Baustellen, um eine angemessene und einheitliche Reaktion auf die Hilfeersuchen kontinuierlich zu gewährleisten. Aber die Vielzahl von z.T. sehr kleinen Rettungsleitstellen in Hessen wirkt im Vergleich zu den KV-Strukturen anachronistisch. Und in Mittelhessen zeigt ein großer Rettungsdienst, der vier Landkreise versorgt, wie leistungsfähig, innovativ und effektiv große schlagkräftige Betriebseinheiten sein können. Warum dieser Rettungsdienst von vier verschiedenen Kreisleitstellen gesteuert werden muss, ist nicht wirklich nachvollziehbar. Also, es gibt ausreichend Potential, aber es fehlt der gemeinsame Wille zur Veränderung.
Wie groß ist der Abstand zum internationalen State-of-the-Art überhaupt?
Deutschland war in den letzten beiden Jahrzehnten in der komfortablen Situation mit hohem Finanz- und Ressourceneinsatz strukturelle, organisatorische und technologische Defizite kompensieren zu können. Aber als Folge der anhaltenden Krisen haben wir bereits die Komfortzone verlassen und nun werden die Versäumnisse der letzten Jahrzehnte umso deutlicher. Mit wenigen Ausnahmen sind die Leitstellen hinsichtlich Größe, Leistungsfähigkeit und Organisation weit hinter dem internationalen State-of-the-Art zurück. Mit der Einführung der Notfallsanitäter hat Deutschland einen wichtigen und überfälligen Schritt zur Qualitätsverbesserung gemacht. Aber wenn diese hochqualifizierten Mitarbeiter auf der Leitstelle den Notruf abfragen, den Notarzt fahren und Krankentransporte (in Mehrzweckfahrzeugen) begleiten müssen, dann nutzen wir diese wichtige Ressource nicht angemessen und nehmen Kompetenzverlust (mangels Praxis), Frust und Abwanderung der Mitarbeitenden in Kauf. Trotz jahrelanger Debatte um die Überwindung der Sektorengrenzen zwischen ambulanter und stationärer Versorgung sowie der Versorgung durch den Rettungsdienst verteidigen die Beteiligten vehement ihre jeweiligen sektoralen Interessen. Hier sind Nachbarländer wie Dänemark, die Niederlande oder Österreich bereits viel weiter. Die Verpflichtung, an nationalen Qualitätsregistern teilzunehmen, um Transparenz über die Leistungsqualität und eine Evidenzgrundlage für die notwendige Weiterentwicklung der Notfallversorgung zu schaffen, ist ein weiterer Punkt bei dem Deutschland gegenüber den Schrittmachern weit zurückhängt. Und auch die rettungsdienstliche Bedarfsplanung an Hand von aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts überkommener Wahrscheinlichkeitsstatistik ist nicht wirklich Ausdruck von Innovationsbereitschaft und ausreichender Kenntnis des Standes der Wissenschaft und Technik.
Wenn Sie sich vom aktuellen Bundesgesundheitsminister etwas wünschen könnten: Was wäre das?
Ganz konkret: die Festschreibung einer einheitlichen Gesundheitsleitstelle (als „Single-Point-of Contact“) für die Bevölkerung sowohl bei Notfällen als auch Akutereignissen als verpflichtende Leistung der GKV in § 27 SGB V. Diese Gesundheitsleitstellen sind ein physischer oder alternativ virtueller Zusammenschluss der bisherigen Rettungsleitstellen (Notruf: 112) und der Rufzentralen der Kassenärztlichen Vereinigungen (Ruf: 116117) und werden nach bundeseinheitlichen Qualitätsvorgaben und mit bundeseinheitlichen Dokumentationsverpflichtungen betrieben. Die so festgelegten gesundheitsbezogenen Aufgaben müssen folgerichtig von der Gesetzlichen Krankenversicherung (bzw. PKV) getragen werden und erfordern wesentlich größere Versorgungsbereiche als sie z.T. heute noch bestehen. Gesundheitsleitstellen stellen auch nicht das Prinzip der (mit weiteren Dienste der nicht-polizeilichen Gefahrenabwehr) integrierten Leitstellen in Frage. Im Gegenteil, auch die notwendige Zusammenarbeit und Vereinheitlichung der Gefahrenabwehr wird durch die größeren Organisationseinheiten erhöht und die Schlagkräftigkeit insbesondere bei Großschadenslagen oder Umweltkatastrophen deutlich gestärkt. Allerdings wird die Entwicklung dann nicht mehr so sehr aus der Perspektive der Ortsbrandmeister, sondern eher aus einer umfassenden sektorenübergreifenden Nutzerperspektive bestimmt. Aber das ist aus unserer Sicht eher gewollt und kein Schaden.