Interview mit Dr. Frank Wösten, Leiter der Notaufnahme am Klinikum Bremen Nord

Was ist ein "echter" Notfall?

Frank_Wösten

Herr Dr. Wösten, es ist allgemein bekannt, dass der Rettungsdienst häufig gerufen wird, ohne dass ein wirklicher Notfall vorliegt. Können Sie schätzungsweise sagen, bei wie viel Prozent der Fälle das passiert?

Es ist deutlich häufiger geworden, dass wir Patienten ohne echten Notfallcharakter beim Rettungsdienst zu Gesicht bekommen. Wenn ich die 33 Jahre überblicke, in denen ich jetzt im Bereich des Rettungsdienstes und der Notfälle tätig bin, kann ich selbst eine deutliche Zunahme feststellen. Die Fachgesellschaft der Notfallmedizin (DGINA) stellt fest, dass es in den letzten 10 bis 15 Jahren rund 20 Prozent mehr geworden sind. Dabei gibt es Unterschiede zwischen dem ländlichen Raum und den Städten. In der Stadt wird eher die 112 gewählt als in den ländlichen Gebieten.

Woran liegt diese Verhaltensänderung aus Ihrer Sicht?

Wenn ich in meine Jugendzeit zurückschaue, dann hatten meine Eltern immer einen festen Ansprechpartner: Das war damals der Hausarzt, der 24/7 erreichbar war. Den gibt es diesem Sinne heute nicht mehr. Diese Anlaufstelle ist verlagert worden zum Rettungsdienst oder zur Notaufnahme. Und viele Menschen im mittleren Alter haben gar keinen Hausarzt. Das heißt, wir haben keinen ersten Ansprechpartner mehr, der uns in dringenden Beratungssituationen hilft. Daher wird häufig die 112 gewählt. Die Hausärzte könnten im Regeldienst zwar auch Notfälle versorgen, aber auch da spürt man die Überlastung des Systems.

Umso wichtiger ist ja die richtige Steuerung der Patienten. Wenn ich z.B. immer stärker werdende Schmerzen im oberen Bauchbereich habe, wohin wende ich mich? Es könnte sich um den Magen oder die Galle handeln, aber auch um einen Herzinfarkt…

Da ist es am besten, man ruft die 116 117, den ärztlichen Notdienst, an. Da gibt es einen Abfragealgorithmus, der genau diese „red flags“, also Hinweise auf eine sehr ernste Erkrankung, sehr gut identifiziert und wo auch die richtige Versorgungsstufe gewählt wird. Sie haben ein gutes Beispiel genannt: der Oberbauchschmerz. Genau bei solchen Beschwerden gibt es eine vernünftige Abfragekaskade. Wenn man da entdeckt, dass es sich um einen Herzinfarkt handeln könnte, wird direkt in den Rettungsdienst übergeleitet und es wird ein Rettungswagen für Sie gerufen. Da müssen also der Patient oder die Angehörigen gar nicht überlegen, wie die Symptome zu deuten sind.

Gibt es bestimmte Indikationen, mit denen man auf jeden Fall die 112 wählen sollte?

Symptome für einen Herzinfarkt oder Schlaganfall, aber auch bei einem Knochenbruch mit stärkeren Schmerzen, auf einer Skala von 1 bis 10 ab der Stärke 7, sollten mit einem Rettungswagen gebracht werden. Ein hängender Mundwinkel, oder eine Körperseite kann nicht bewegt werden, oder Schmerzen in der Brustgegend, das sind auf jeden Fall Indikationen, bei denen ein Krankenwagen gerufen werden muss. Wenn die Schmerzen nicht extrem sind und die Person transportiert werden kann, ist bei chirurgischen Fällen, wie Knochenbrüchen, auch die Notaufnahme die richtige Anlaufstelle. Man ist aber auch immer wieder überrascht, wie wenig Symptome die Menschen haben, aber dann doch eine schwere Erkrankung dahinter steckt. Deswegen ist es auch bei nicht so schwerwiegenden Symptomen am besten, dass man die 116 117 wählt, um mit den Abklärungsfragen herauszufinden, wie ernst die Situation ist.

Bei welchen Symptomen empfehlen Sie, mit Kindern in die Notaufnahme zu gehen oder sogar den Rettungsdienst anzurufen?

Bei Kindern ist es noch schwieriger zu sehen, was hinter Symptomen steckt. Die klassischen Indikationen, die bei Erwachsenen gelten, wie Schlaganfall und Herzinfarkt, gibt es da ja nicht. Daher sollte man auch bei Kindern die 116 117 nutzen; denn bei der Abfrage sind auch Algorithmen für Kinder hinterlegt. Der häufigste Notfall bei Kindern ist „Atemprobleme“. In einem solchen Fall muss man mit dem Kind gegebenenfalls in die Kindernotaufnahme. Bei allen anderen Fällen, außer vielleicht den Frakturen mit starken Schmerzen, die über den Rettungsdienst bewegt werden müssten, sollte über die 116 117 abgeklärt werden, wie man weiter vorgeht.

Was wäre Ihr Wunsch für ein gut funktionierendes System?

Wenn wir es hinbekommen, dass wir die Patienten vor der Klinik und vor den Arztpraxen vernünftig beraten und in die richtige Richtung verweisen, dann haben wir sehr viel gewonnen. Und wenn wir das Thema Gesundheitserziehung in die Schulen brächten, wäre ebenfalls sehr viel gewonnen. Schon ab der fünften Klasse können Erste-Hilfe-Maßnahmen vermittelt werden. Oder es kann auch die Frage behandelt werden: „Wie funktioniert eigentlich unser Gesundheitssystem in Deutschland?“. Aber um erst einmal das ambulante System zu entlasten, müssten wir es schaffen, durch eine gut funktionierende Beratung eine bessere Steuerung der Patienten zu haben und damit das System zu entlasten. Denn das sehen wir auch in den Notaufnahmen: Nicht selten kommen Patienten zu uns, die gar kein Notfall sind, das selber auch sagen, aber berichten, dass sie ambulant niemanden erreicht haben mit ihren Beschwerden.