2025
Gespräche am Wasser zur Kieler Woche 2025:
30 Jahre Pflegeversicherung: Wie kann das System zukunftsfest aufgestellt werden?
Die Soziale Pflegeversicherung besteht seit 30 Jahren und steht jetzt vor den größten Herausforderungen seit ihrer Gründung. Das nahm der Verband der Ersatzkassen e. V. (vdek) zum Anlass, auf den traditionellen „Gesprächen am Wasser“ der vdek-Landesvertretung Schleswig-Holstein zur Kieler Woche über die Zukunft der Pflege zu diskutieren. Dazu waren rund 70 Experten in den Sell-Speicher an der Kieler Förde gekommen: aus dem Sozialministerium, Praktiker aus verschiedenen Bereichen der Pflege sowie Vertreter der Krankenkassen und andere Akteure aus dem Gesundheitswesen.

Die Protagonistinnen und Protagonisten der "Gespräche am Wasser" zur Kieler Woche 2025: Prof. Dr. Uta Gaidys, Pflegewissenschaftlerin von der HAW Hamburg; Dr. Michael Hempel, Abteilungsleiter im schleswig-holstinischen Sozialministerium; Tim Schröder, Geschäftsführer des ambulanten Pflegedienstes "halpy" aus Lübeck; Nicole Knudsen, Vorstandsmitglied von "wir pflegen Schleswig-Holstein e. V."; Sven Peetz, Referatsleiter Pflege in der vdek-Landesvertretung; Eva El Samadoni, Vorständin der Stiftung Kieler Stadkloster; Claudia Straub, Leiterin der vdek-Landesvertretung; Mathias Steinbuck, Landesvorsitzender des bpa.
Zu Beginn gab Sven Peetz, langjähriger Referatsleiter Pflege in der vdek-Landesvertretung, einen kurzen und launigen Rückblick über das, was in 30 Jahren Pflegeversicherung erreicht worden ist, ohne sich dabei in den Details der fast unzähligen Gesetze zu verlieren. Bei ihrer Einführung 1995 galt die Pflegeversicherung als gesellschaftlicher Meilenstein, denn durch sie wurden 90 Prozent der Bevölkerungfür den Fall der Pflegebedürftigkeit von der Gesellschaft abgesichert. Die gravierendste Veränderung hat aus seiner Sicht das Zweite Pflegestärkungsgesetz von 2017 mit sich gebracht. Mit der Einführung des „neuen“ Pflegebedürftigkeitsbegriffs wurde die Förderung der Selbständigkeit der Pflegebedürftigen und ihre individuellen Bedürfnisse in den Mittelpunkt gestellt. Zudem wurden endlich auch die kognitiven Beeinträchtigungen der Pflegebedürftigen im Rahmen der Begutachtung berücksichtigt.
Reformbedarf ist unbestritten
Alle Referenten und Diskutanten der „Gespräche am Wasser" waren sich einig, dass eine große Reform unumgänglich ist, um die Pflegeversicherung zukunftssicher aufzustellen. Das betrifft einerseits die Finanzierung, u. a. durch eine Entlastung der Pflegekassen von versicherungsfremden Leistungen. Dazu gehören etwa die Rentenversicherungsbeiträge für pflegende Angehörige, die als gesamtgesellschaftliche Aufgabe aus Steuermitteln finanziert werden müssten. Eine weitere Entlastung gäbe es durch die Dynamisierung des Zuschusses aus dem Bundeshaushalt, für die sich der vdek seit Langem ausspricht. Nicole Knudsen vom Verein „wir pflegen Schleswig-Holstein“ forderte zudem, dass nicht nur auf den Arbeitslohn, sondern auch auf andere Einkünfte wie Kapitalerträge und Mieteinnahmen Beiträge an die Pflegeversicherung gezahlt werden.
Andererseits muss sich in der Pflegeversicherung auch strukturell etwas ändern. Nicole Knudsen sprach von einem „Pflegedschungel“, in dem sich die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen verlaufen und verheddern würden. Sie forderte mehr Flexibilität bei der Inanspruchnahme der Leistungen statt der strikten Trennung zwischen ambulant, stationär und Tagespflege. Dabei erhielt sie Unterstützung von Dr. Michael Hempel, dem für die Pflege zuständigen Abteilungsleiter im Sozialministerium: „Wir müssen die Leistungen der Pflegeversicherung vereinfachen und zusammenfassen. Vor allem müssen wir sie für die Menschen wieder begreifbar machen!“ Claudia Straub; Leiterin der vdek-Landesvertretung Schleswig-Holstein, bedauerte, dass die bisherigen Versuche, die Pflegeversicherung gerechter zu gestalten, sie vor allem bürokratischer gemacht hätten. Die Akteure vor Ort müssen sich viel besser vernetzen als bisher, um die vorhandenen Ressourcen besser zu nutzen, sagte Eva El Samadoni, Vorständin der Stiftung Kieler Stadtkloster.
Digitalisierung muss schneller vorangehen
Tim Schröder, Geschäftsführer des ambulanten Pflegedienstes halpy aus Lübeck, nutzt in seinem Unternehmen vielfältige digitale Lösungen u. a. für die Dokumentation, die Zeiterfassung und die Tourenplanung. Das entlastet das Personal und erhöht die Arbeitszufriedenheit. Viele Pflegedienste würden diese Möglichkeiten jedoch noch gar nicht nutzen - und nicht einmal die Hälfte der Unternehmen sei an die Telematik-Infrastruktur angebunden. „So wird die verbindliche Teilnahme bis 2026 nicht funktionieren“, befürchtet Schröder.
Fazit: „Wir brauchen mehr Mut in der Pflege“
Übereinstimmend sagten alle Teilnehmer: „Wir brauchen mehr Mut!“. Das gelte im Kleinen, wo man Neues einfach auch mal ausprobieren müsse – auch mit dem Risiko, dass es am Ende vielleicht nicht so funktioniere wie gedacht. Das gelte aber vor allem für die Politik in Berlin, die sich bei der angekündigten Pflegereform trauen müsse, „groß zu denken“. Dazu gehöre auch mehr Ehrlichkeit für die Kosten und die Finanzierung, mahnte Mathias Steinbuck, Landesvorsitzender des bpa. Die Erwartungen an die Pflegeversicherung, die die Politik bei der der Bevölkerung geweckt habe, seien zu hoch. „Das müssen die Einrichtungen und ihre Beschäftigten ausbaden“, so Steinbuck.
Mit dem Maßnahmenpaket des Landespflegeausschusses hat Schleswig-Holstein einen wichtigen und mutigen ersten Schritt gemacht. Der Norden geht voran, ohne auf den Bund zu warten. Das Paket umfasst rund 30 kurz-, mittel- und langfristige Maßnahmen zur Verbesserung der Pflegesituation, die auf Landesebene umgesetzt werden können.
Die Pflegeversicherung als „anthropologische Notwendigkeit"
Zum Abschluss gab Prof. Uta Gaidys, Leiterin des Departments Pflege und Management der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg und Mitglied des Wissenschaftsrats der Bundesrepublik Deutschland, Denkanstöße und Inspiration für weitere Gespräche im Laufe des Abends. Sie bezeichnete die Pflegeversicherung als „anthropologische Notwendigkeit" und erklärte das damit, dass die Fürsorge für Andere – sei es das Kleinkind oder der Pflegebedürftige – kein Altruismus, sondern ein zentrales Strukturprinzip menschlicher Gemeinschaft sei.