„Gruppentherapie ist genauso wirksam wie Einzeltherapie“
Im Gespräch
Prof. Dr. Bernhard Strauß ist Direktor des Instituts für Psychosoziale Medizin, Psychotherapie und Psychoonkologie des Universitätsklinikums Jena und forscht schon seit langem zum Potenzial der Gruppentherapie. Er hat an der Universität Hamburg promoviert und mehrere Jahre am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf gearbeitet.
vdek: Die Gruppentherapie fristet ein Schattendasein. In Hamburg liegt ihr Anteil an allen Psychotherapien, die von den gesetzlichen Krankenkassen vergütet werden, bei rund fünf Prozent. Bundesweit sieht es tendenziell ähnlich aus. Ist das gerechtfertigt?
Prof. Bernhard Strauß: Nein, auf keinen Fall. In den letzten Jahrzehnten gab es in der Forschung einen deutlichen Zuwachs an Evidenz dafür, dass die Gruppentherapie genauso wirksam ist wie eine Einzeltherapie, dass sie die Symptome der Patienten genauso gut verbessern kann.
Zum anderen ist nachgewiesen, dass die Gruppentherapie sehr gut wirkt im direkten Vergleich zu einem Zustand ohne Therapie. Und drittens gibt es Belege für eine hohe Effizienz. Wissenschaftler gehen davon aus, dass der volkswirtschaftliche Gewinn immens wäre, wenn alle, die auf einer Warteliste für eine Psychotherapie stehen, sofort mit einer Gruppentherapie beginnen könnten. Die Gruppentherapie ist also keine Behandlung zweiter Klasse oder Ersatz für etwas Besseres. Aber wenn man Patienten fragt, was sie bevorzugen, antworten die meisten, dass sie einen Therapeuten für sich allein möchten.
vdek: Wo liegen die Vorteile einer Gruppentherapie? Und für wen eignet sie sich?
Prof. Bernhard Strauß: Es gibt ganz spezifische Wirkfaktoren. In einer Gruppe kann man sich aufgehoben fühlen, es entsteht ein gutes Grundgefühl. Man erfährt auch, dass man mit seinem Leiden nicht allein ist auf der Welt. Außerdem zeigen einem die Fortschritte bei anderen Gruppenmitgliedern, dass man Hoffnung fassen kann, dass man selbst etwas erreichen kann. Auch die Tatsache, altruistisch sein zu können, also anderen Menschen helfen zu können, hat positive Auswirkungen. Die Gruppe ist zudem eine Art „Spiegelsaal“. Bestimmte Seiten einer Person werden hervorgehoben, blinde Flecken können beleuchtet werden, die Gruppenmitglieder erhalten vielerlei Rückmeldungen. Dies kann eine Einzeltherapie so nicht leisten. Letztlich kann man für fast jeden Betroffenen eine Gruppe finden.
Hinzu kommt ein weiterer Aspekt: Es ist problematisch, dass die ambulante Psychotherapie von einer großen Selektion geprägt ist. Menschen aus den sogenannten höheren Schichten, besser gebildete Menschen, finden leichter Zugang. In der Gruppentherapie liegt auch die Chance, diejenigen Betroffenen optimaler ansprechen zu können, die die Schwelle zur Psychotherapie in der Regel nicht überschreiten.
vdek: Was muss sich jetzt ändern, damit die Gruppentherapie stärker angeboten und nachgefragt wird?
Prof. Bernhard Strauß: Hürden müssen so gut wie möglich abgebaut werden. Das gelingt am besten, indem Therapeuten den Patienten, die Vorbehalte gegen die Therapieform haben, mit Verständnis begegnen und indem die Behandler sich genügend Zeit dafür nehmen, Ängste bei Betroffenen zu zerstreuen und sie über die positiven Effekte der Gruppentherapie aufzuklären. Gleichzeitig tragen auch die Psychotherapeuten selbst manchmal noch Skepsis in sich. In ihrer Ausbildung wurden manche von ihnen während ihrer Zeit in einer psychiatrischen Klinik ohne genügend Vorbereitung als Leitung einer Gruppe eingesetzt und damit regelrecht „ins kalte Wasser“ geworfen. Das sollte nicht mehr passieren. Wichtig bleibt auch, dass Kostenträger und Psychotherapeuten-Verbände noch stärker als bisher über die Pluspunkte der Gruppentherapie informieren.
vdek: Seit Corona hat die Psychotherapie per Video Einzug gehalten - eine Chance für die Gruppentherapie?
Prof. Bernhard Strauß: Durch Corona konnte die Psychotherapie insgesamt mehr Erfahrungen mit Online-Behandlungen sammeln, auch in der Gruppentherapie. Im Jahr 2020 gab es die ersten Angebote von Online-Gruppentherapie. Die Studien dazu sind noch nicht so weit, dass sie veröffentlicht werden können. Aber es liegen viele Erfahrungsberichte vor. Wenn die eigene Praxis zu klein ist, um eine Gruppe unterzubringen, ist das Online-Angebot auf jeden Fall eine große Chance für Therapeuten, um diese Therapieform trotzdem anbieten zu können. Auch Patienten, die Angst davor haben, in Präsenz in eine Gruppe zu gehen, können mit dem Online-Angebot ihre Hemmungen leichter überwinden. Insgesamt werden die Online-Formate die Realformate nicht ersetzen, sind aber für bestimmte Patienten eine gute Ergänzung.
vdek: Wo sehen Sie die Gruppentherapie in fünf bis zehn Jahren?
Prof. Bernhard Strauß: Es gibt noch viel Luft nach oben bei der Etablierung der Gruppentherapie. Im Schnitt liegt ihr Anteil an allen Psychotherapien deutschlandweit bei rund zwei Prozent. Mich stimmt aber positiv, dass in letzter Zeit ein Aufwärtstrend erkennbar ist. Weiterbildungen in dem Bereich sind bei Psychotherapeuten sehr gefragt, nicht zuletzt auch deshalb, weil die Gruppentherapie vergleichsweise gut vergütet wird. Dazu kommt, dass die Reform der Psychotherapeuten-Ausbildung dazu führt, dass die komplette Gruppenfachkunde erworben wird. In ein paar Jahren wird es keinen Therapeuten mehr geben, der nicht über das notwendige Rüstzeug verfügt. Ich gehe davon aus, dass der Anteil der Gruppentherapien an allen Psychotherapien in zehn Jahren bei mindestens zehn Prozent liegen wird. Das wäre ein großer Erfolg.
Interview: Stefanie Kreiss
Gruppentherapie wird nach Ansicht von Experten aktuell immer bedeutender und steuert Versorgungsengpässen entgegen. Das geteilte Leid verbindet: Die Gruppensituation gibt Halt und ermöglicht, gelernte Techniken in einem sicheren Raum zu erproben und zu verstärken. Außerdem gehen Menschen ähnliche Hindernisse unterschiedlich an – das erweitert das Problemlösungsspektrum von Patientinnen und Patienten. Nichts, was in der Gruppe besprochen wird, darf in der Regel an Außenstehende weitergegeben werden. Mit Hilfe der sogenannten gruppentherapeutischen Grundversorgung können Erkrankte niedrigschwellig herausfinden, ob die Versorgungsform für sie in Frage kommt.
Ob eine Praxis Gruppentherapien anbietet, ist meist auf deren Homepages ersichtlich. Die Kontaktdaten von Psychotherapeutinnen und -therapeuten können über die Psychotherapeutensuche des vdek-Arztlotsen gefunden werden. Dessen Datenbank enthält neben Daten zu Ärztinnen und Ärzten auch die Adressen aller rund 54.000 approbierten Psychologischen Psychotherapeutinnen – und therapeuten in Deutschland.
Wenn die Gruppentherapie in einem der der vier Therapieverfahren stattfindet und ein medizinischer Bedarf zugrunde liegt, übernehmen die Ersatzkassen die Kosten dafür.
Alle Gruppen werden von Psychotherapeutinnen und -therapeuten geleitet; die Leitung kann von zwei Fachkräften gemeinsam übernommen werden. Damit ist sogar eine praxisübergreifende Zusammenarbeit möglich. Gruppen können halb-offen oder geschlossen sein. Sind sie geschlossen, starten und beenden alle Betroffenen gemeinsam die Behandlung. Sind sie halb-offen, können kontinuierlich neue Mitglieder hinzukommen.
Eine Gruppentherapie ist ab einer Teilnehmerzahl von drei Personen möglich. Die Gruppensitzungen dauern in der Regel 90 Minuten und findet meist einmal in der Woche statt. Eine Kombination von Einzel- und Gruppentherapie ist zulässig. Bei einer Kombinationstherapie aus Einzel- und Gruppentherapie ist sogar eine Behandlung mit den beiden psychodynamischen Verfahren durchführbar (tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und analytische Psychotherapie).