Gesellschaftliches Handeln 

Potenzial älterer Mitbürger erkennen und nutzen

Grafik: lächelnder Senior am Gehstock steht vor einer Tafel, auf der steht: Kompetenz älterer Menschen: Erfahrung, Führungsstärke, Teamfähigkeit, Zuverlässigkeit

Blickt man auf den in unserer Gesellschaft vorherrschenden Umgang mit Fragen des Alters, so wird deutlich, dass ein überzeugender kultureller Entwurf dieses Lebensabschnitts fehlt. Es haben sich bislang keine gesellschaftlichen Visionen entwickelt, deren Mittelpunkt Ideen bilden, wie unsere Gesellschaft das Humanvermögen älterer Menschen konstruktiv nutzen und öffentliche Räume schaffen kann, in denen sich ältere Menschen als mitverantwortlich handelnde, kompetente Bürger angesprochen fühlen.

Der heute dominierende gesellschaftliche Diskurs über Alter ist ein Belastungsdiskurs, der sich fast ausschließlich auf das Thema verengt, die wachsende Anzahl älterer Menschen sei mit Belastungen der sozialen Sicherungssysteme verbunden. Es ist nicht zu bestreiten, dass der demografische Wandel wachsende Anforderungen an die sozialen Sicherungssysteme stellt. Doch ebenso wenig ist zu bestreiten, und dies heben der Fünfte und Sechste Altenbericht der Bundesregierung hervor, dass ältere Menschen mit ihren ideellen, zeitlichen, vielfach auch materiellen Ressourcen einen noch größeren Beitrag zur Unterstützung der nachfolgenden Generationen leisten könnten – wenn sie in gleichem Maße wie jüngere Menschen als Bürger angesprochen würden, die über wertvolle Ressourcen verfügen, auf die unsere Gesellschaft nicht verzichten kann. Angesichts der Tatsache, dass sich eine differenzierte Sicht auf das Alter noch nicht wirklich durchgesetzt hat, ergibt sich ein häufig anzutreffendes Problem: Individuelle Potenziale werden nur selten in gesellschaftliche Potenziale übersetzt.

Diese Übersetzung zu leisten, ist eine Aufgabe, die unserer Gesellschaft in Zukunft gestellt sein wird. Dies in dreifacher Hinsicht:

  • Es ist auf den kontinuierlichen Anstieg älterer Menschen in der Arbeitswelt hinzuwirken.
  • Es ist auf den kontinuierlichen Anstieg älterer Menschen im zivilgesellschaftlichen Engagement hinzuwirken.
  • Es ist auf die stärkere Beteiligung bei der Unterstützung jener Familien hinzuwirken, die einen hilfsbedürftigen oder pflegebedürftigen Angehörigen betreuen – im Sinne eines „Pflegemix“ aus familiärer, professioneller und bürgerschaftlich geleisteter Pflege. Hier sind auch ältere Menschen anzusprechen, die über die notwendigen (körperlichen, kognitiven, emotionalen, kommunikativen) Ressourcen verfügen.

Die Zahl der Erwerbstätigen bei den 55- bis 64-Jährigen stieg in Deutschland von 4,3 Millionen im Jahr 2000 auf 5,5 Millionen Menschen im Jahr 2010 an: 2010 waren es rund 56 Prozent, 2000 hingegen nur 37 Prozent. In der Gruppe der 60- bis 64-Jährigen hat sich der Anteil der Erwerbstätigen seit 2000 verdoppelt und liegt bereits bei mehr als 40 Prozent. Allerdings gingen nur 25 Prozent der 60- bis 64-Jährigen einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nach, mit der sich Rentenansprüche erwerben lassen. 2000 waren dies sogar nur elf Prozent.

Einbindung ins Berufsleben

Ökonomen und Arbeitswissenschaftler stimmen überein, dass die Sicherung des Erwerbspersonenpotenzials in Zukunft nur unter der Voraussetzung einer stärkeren Einbindung älterer Frauen und Männer in das Berufsleben möglich sein wird. Dabei wirken sich berufsbegleitende Qualifizierung, Gesundheitsschutz (Prävention) und die kontinuierliche Anpassung der Arbeitsplätze an die Kompetenzprofile älterer Mitarbeiter positiv auf deren Leistungsfähigkeit, Kreativität und Innovationskapazität aus. Die Flexibilisierung der Altersgrenze sollte als weitere Komponente dieser Strategie gelten; dabei ist die Souveränität älterer Mitarbeiter in Bezug auf die Zeit und das Arbeitsfeld zu erhöhen.

In Bezug auf die Generationengerechtigkeit – verstanden als Chance nachfolgender Generationen, ihr Leben so zu gestalten wie die Eltern oder Großelterngeneration – ist von besonderer Bedeutung, dass sich die Staatsschulden in unserem Land mittlerweile auf 1,95 Billionen Euro angehäuft haben; nur der geringere Teil dieser Schulden dient dabei Investitionen (in die Zukunft). Hinzu kommt, dass sich die Versprechen auf Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung mittlerweile auf fünf Billionen Euro addieren.

Dabei geht die Anzahl jener Menschen, die diese materiellen Lasten zu tragen haben, zurück: Deutschland weist mit durchschnittlich 1,3 Kindern pro Frau eine der niedrigsten Geburtenraten in den Staaten der Europäischen Union auf. In diesem Kontext gewinnt die Frage, inwieweit Staat und Gesellschaft durch vermehrtes zivilgesellschaftliches Engagement (für das auch ältere Frauen und Männer gewonnen werden sollen) entlastet werden können, besondere Bedeutung; genauso die Frage, inwieweit das Prinzip der intragenerationellen (und nicht nur der intergenerationellen) Gerechtigkeit gestärkt werden kann, sowie die Frage nach höherer beruflicher Teilhabe älterer Frauen und Männer.

Unterstützung für pflegende Angehörige

In der öffentlichen Diskussion wird mit Recht auf die Gefahr einer zunehmenden Privatisierung von Pflege hingewiesen, und unter Experten ist weitgehend unstrittig, dass die finanzielle Basis der Pflegeversicherung erweitert werden muss. Dennoch wird auch in Zukunft ein nicht unerheblicher Teil der Pflege unentgeltlich durch Familienangehörige und freiwillig Tätige geleistet werden müssen. Dies allein schon aufgrund der steigenden Anzahl pflegebedürftiger Menschen.

Derzeit sind 2,34 Millionen Menschen im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes (SGB XI) pflegebedürftig, davon zwei Drittel Frauen; 83 Prozent der pflegebedürftigen Menschen sind über 65 Jahre alt, 35 Prozent über 85. Schätzungen zufolge werden im Jahr 2030 etwa 3,4 Millionen Menschen, im Jahr 2050 vier Millionen Menschen pflegebedürftig sein, was vor allem mit dem deutlichen Anstieg der durchschnittlichen Lebenserwartung, insbesondere jenseits des 80. Lebensjahres, zu tun hat. Heute betreuen in Deutschland 1,43 Millionen pflegende Angehörige die im häuslichen Umfeld versorgten 1,6 Millionen pflegebedürftigen Menschen. Die Mehrzahl der Pflegenden ist 55 Jahre und älter, in fast einem Viertel der Fälle 70 Jahre und älter.

Aufgrund der steigenden Erwerbsbeteiligung von Frauen im mittleren Erwachsenenalter wie auch der deutlich höheren räumlichen Mobilität der mittleren Generation werden die familiären Pflegeressourcen zurückgehen. Die Frage, wie diese abnehmenden Ressourcen durch zivilgesellschaftliches Engagement kompensiert werden können, wird an Bedeutung gewinnen. Dabei könnte das bürgerschaftliche Element vor allem in der emotionalen Begleitung schwerkranker Menschen und gezielter alltagspraktischer Unterstützung der Familienangehörigen liegen. Entsprechende Anreize für dieses Engagement könnten aus der Pflegeversicherung selbst kommen – zum Beispiel im Sinne der (Mit-)Finanzierung von Urlauben für Menschen, die sich bürgerschaftlich im Bereich der Pflege engagieren.

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