Reportage

SAPV: Bis zum Schluss zu Hause sein

Foto: Frau F., 73 Jahre alt, leidet an Krebs

Patientin F. lebt schmerzfrei und - vor allem - zu Hause.

Die sogenannte spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV) ermöglicht die Versorgung schwerstkranker und sterbender Menschen in der vertrauten Umgebung zu Hause. Was bedeutet das für Betroffene und ihr Umfeld? Ein Besuch bei der Augsburger Hospiz- und Palliativversorgung.

Es ist ein hektischer Tag in der Augsburger Hospiz- und Palliativversorgung e. V. (AHPV). Die Telefone klingeln ununterbrochen, auf einem Stehpult stapeln sich knallrote Klemmbretter mit Anfragen an die AHPV. Diese müssen schnellstens abgeklärt werden. Das zwölfköpfige Team um Dr. Eckhard Eichner ist für die SAPV in der gesamten Region Augsburg zuständig. Fachärzte, Pflegefachkräfte, Sozialarbeiterin Sabine Bayer und Seelsorger Dr. Franz Schregle betreuen Sterbende in den letzten Wochen und Tagen – und vor allem auch deren Angehörige. Die Pflegefachkräfte der AHPV agieren auch als Pflegelotsen: Sie arbeiten eigenverantwortlich und holen die anderen Teammitglieder dazu, wenn nötig. Denn nicht immer braucht es Arzt, Sozialarbeiter oder Seelsorger.

Die SAPV ist eine Leistung außerhalb der Regelversorgung, die seit 2007 vom Vertrags- oder Krankenhausarzt verordnet werden kann. Der Gesetzgeber hat sie 2007 in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) aufgenommen, um „die Lebensqualität und die Selbstbestimmung schwerstkranker Menschen zu erhalten, zu fördern und zu verbessern und ihnen ein menschenwürdiges Leben bis zum Tod in ihrer vertrauten häuslichen oder familiären Umgebung zu ermöglichen“, wie es in der entsprechenden Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) heißt. SAPV kann bei Patienten mit weit fortgeschrittener und fortschreitender Erkrankung, die in absehbarer Zeit zum Tode führt, verordnet werden, wenn die Versorgungssituation besonders aufwändig ist – etwa aufgrund einer ausgeprägten Schmerzsymptomatik – und ergänzt Leistungen von Hausärzten und Pflegediensten.

„In den letzten Jahrzehnten wurde das Sterben aus dem Alltag rausgeholt und hat sich in die Krankenhäuser verlagert“, sagt Bayer. „Inzwischen lässt sich eine Gegenbewegung beobachten. Viele unserer Patienten sind durch zahlreiche Aufenthalte traumatisiert von der Krankenhausumgebung und wollen zu Hause sterben. Das überfordert dann oft die Angehörigen.“

Wenn es bei einem Fall psychosoziale Probleme gibt oder die Finanzierungslage unklar ist, unterstützt Bayer bei Behördengängen und anderen Dingen. Etwa wenn der Ernährer der Familie im Sterben liegt, könne es zu einem Teufelskreis kommen: „Die Angehörigen wissen nicht, wie sie an Sozialleistungen kommen. Sie trauen sich nicht, einen Pflegedienst zu holen wegen der hohen Kosten. Findet eine Begutachtung der Pflegebedürftigkeit statt – für Palliativpatienten gilt eine verkürzte Begutachtungsfrist –, trauen sie sich nicht auszusprechen, wie groß der Hilfebedarf ist.“ Auch hier hilft Bayer bei der Vorbereitung auf das Gespräch mit den Prüfern.

Als Palliativmediziner Eichner die AHPV vor zweieinhalb Jahren mitgründete, wählte er nicht den Weg der Konkurrenz, sondern der Kooperation. Seiner Meinung nach fehlt es an einer Vernetzungsstruktur unter den einzelnen Beteiligten der ambulanten Versorgung. „Es braucht nicht nur Koordinatoren wie die 2009 geschaffenen Pflegestützpunkte, die die Beratungssituation für die Betroffenen verbessert haben – es geht vor allem darum, gemeinsam und abgestimmt zu agieren.“ Seit AHPV-Gründung habe er Vertrauensaufbau bei den regionalen Pflegediensten, Wohlfahrtsverbänden und regionalen Hospizvereinen betrieben. „Wir definieren SAPV konsequent als Ergänzungsleistung, und wir wollen nur dort tätig sein, wo die anderen Leistungserbringer Unterstützung brauchen. In einer gemeinsamen Arbeitsgruppe haben wir deshalb überlegt, wie diese Versorgung in unserer Region aussehen sollte.“

Anders als etwa in Schleswig-Holstein gibt es in Bayern keinen landesweiten Vertrag, sondern jedes SAPV-Team schließt mit den Kassen einen eigenen Vertrag mit Tages- oder Fallpauschalen für jeden betreuten Patienten ab. Für Eichner ein entscheidender Vorteil, da so die Teamstruktur und die patientenfernen Tätigkeiten finanziert werden können, die eine 24-Stunden-Erreichbarkeit gewährleisten. So lasse sich bei jedem Patienten die angebrachte ergänzende Hilfe leisten: Teil- oder Vollversorgung, Beratung, Koordination. Zehn bis 15 Patienten betreut das Augsburger Team immer gleichzeitig, die Versorgungsdauer liegt im Durchschnitt bei 15 bis 19 Tagen – meist bis der Patient verstirbt. Heilung spielt in dieser allerletzten Lebensphase keine Rolle mehr, es geht vor allem um Schmerz- und Symptomlinderung.

So wie bei der 73-jährigen Frau F., die an Krebs leidet. Es begann mit Brustkrebs, mittlerweile hat sie auch am rechten Fuß ein Geschwür, wurde jahrelang behandelt, kann nicht mehr richtig laufen. Sie war Ende 2012 vier Wochen im Krankenhaus, dann sagten ihr die Ärzte, sie sei austherapiert und solle nach Hause gehen. „Ich war wie vor den Kopf gestoßen!“, erzählt Frau F. „Und meinem Sohn haben sie gesagt, ich hätte nur noch zwei Wochen zu leben. Ich sagte zu denen, ich kann nicht mehr laufen und ich kann nicht alleine daheim bleiben. Da hat das Krankenhaus die Sozialstation verständigt.“ Diese organisierte dann, dass Frau F. vom SAPV-Team mitversorgt wird.

 

Aus den zwei prognostizierten Wochen Restlebenszeit sind mittlerweile über vier Monate geworden, und eigentlich macht Frau F. einen ganz vergnügten Eindruck, wie sie so in ihrer Küche sitzt, von den Enkeln erzählt und von ihren Lieblingsgerichten, und sie ist voller Zuversicht, dass sie sogar noch mal Weihnachten erlebt. Schmerzen habe sie keine, sagt sie, sie sei gut eingestellt, und das Team von Eichner schaue regelmäßig vorbei. Obwohl es dafür aufgrund der in Bayern vertraglich vereinbarten Höchstmengenbegrenzung keine Tagespauschalen mehr gibt. „Das können wir aber gut stemmen“, sagt Eichner, „und es ist für uns natürlich auch etwas sehr Schönes, eine so zufriedene Patientin erleben zu dürfen.“ Viele seiner Patienten versterben schließlich bereits nach einigen Tagen.

Beim 74-jährigen Herrn W. ist es genau andersrum wie bei Frau F. verlaufen. Auch er ein Krebspatient mit monatelangen Behandlungen, dem die Ärzte einen hohen Therapieerfolg und schnelle Erholung attestiert hatten – bis er vor einigen Tagen plötzlich in der Wohnung umfiel und danach nicht mehr ansprechbar war. Jetzt liegt er im Sterben – zu Hause im Ehebett, wo sich seine Frau um ihn kümmern kann. „Ich glaube, dass viele Menschen am liebsten zu Hause sterben wollen. Doch sie wissen gar nicht, dass es diese Möglichkeit überhaupt gibt“, sagt Frau W., die von ihrer Hausärztin über das Betreuungsangebot der AHPV informiert wurde. Die Aufgaben für die AHPV sind hier eher Beratung und Begleitung in den letzten Tagen, Ruhe in die Situation zu bringen und Fragen zu klären, ob zum Beispiel künstliche Ernährung noch Sinn macht, seit Herr W. die Nahrungsaufnahme ablehnt. Frau W. ist sehr aufgewühlt, auch ihre Tochter, die heute zu Besuch ist, macht einen mitgenommenen Eindruck. „Wir können jetzt einfach nur schauen, dass Ihr Mann möglichst wenig leidet“, sagt Eichner zu Frau W. „Infusionen oder künstliche Ernährung würden es ihm jetzt eher schwerer machen. Denn die Zufuhr von Flüssigkeit oder Kalorien hat für seinen Körper den Sinn verloren, weil er sie gar nicht mehr verarbeiten könnte.“

Der letzte Bericht des GKV-Spitzenverbandes zur bisherigen vertraglichen Umsetzung der SAPV zeigt: Ein flächendeckendes vertragliches Angebot – das in der Regel kassenartenübergreifend geschlossen wird – befindet sich noch im Aufbau, in Regionen ohne Verträge ist die Versorgung erst mal über das Kostenerstattungsverfahren durch die GKV gewährleistet. Dort wo der Strukturaufbau nur langsam vorankommt, fehlt es oft an ausreichend erfahrenem oder spezialisiertem Personal, oder es fehlt an Vernetzung der einzelnen Leistungserbringer.

Positiv geht aus dem Bericht hervor, dass durch SAPV Krankenhauseinweisungen und Wiedereinweisungen vermieden werden konnten, auch die Einweisung in Hospize und Pflegeheime ging dadurch zurück. Wer etwas davon hat, das sind Patienten wie Frau F. und Herr W., denn sie müssen nicht in anonymen stationären Einrichtungen sterben.

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