Demenzerkrankungen

Evidenzbasierte medizinische Versorgung

Demenzerkrankungen haben sich zu einer Volkskrankheit entwickelt, deren Inzidenz und Prävalenz aufgrund der alternden Gesellschaften weltweit zunehmen. Auch Deutschland ist von dieser Entwicklung betroffen: Schätzungsweise eine Million Deutsche leiden an einer Demenz, und es treten etwa 200.000 Neuerkrankungen pro Jahr auf. Prognosen zufolge wird sich diese Zahl bis zum Jahr 2030 verdoppeln.

Bereits heute gehören Demenzerkrankungen zu den größten Krankheitskostenverursachern in Deutschland: Etwa 9,4 Milliarden Euro wurden 2008 für medizinische Heilbehandlungen, Rehabilitation und Pflege ausgegeben. Seit 2002 ist dieser Betrag um 32 Prozent gestiegen. Die Politik hat dem Rechnung getragen und die krankheitsbezogene Forschungsförderung in diesem Bereich durch Gründung neuer Institutionen ausgebaut, wie etwa das Kompetenznetzwerk Demenzen 2001/2002, das krankheitsbezogene Kompetenznetz zum Thema Degenerative Demenzen (KNDD) 2006/2007, das Leuchtturmprojekt Demenz 2007/2008 und zuletzt das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) 2008/2009 unter dem Dach der Helmholtz-Gemeinschaft. Diesen Anstrengungen auf der Forschungsseite stehen Defizite in der Versorgung und Betreuung von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen gegenüber, wie beispielsweise der 4. Altenbericht und das Sondergutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen thematisiert haben. Um die Versorgungssituation und insbesondere die Diagnostik und Therapie bei Menschen mit Demenz zu verbessern, wurden von mehreren medizinischen Fachgesellschaften Leitlinien entwickelt, die aufgrund wissenschaftlicher (evidenzbasierter) Kriterien Empfehlungen für den medizinischen Alltag formulieren. Zurzeit entsteht darüber hinaus eine Nationale Versorgungsleitlinie (NVL) Demenz.

Was bedeutet der Begriff Demenz?

Der Begriff Demenz wird gleichbedeutend mit dem Begriff Hirnleistungsstörungen gebraucht. Er beschreibt ein vielfältiges klinisches Syndrom, das sich durch erworbene Einbußen von intellektuellen Fähigkeiten und Gedächtnis auszeichnet. 

Die häufigsten Formen sind die Alzheimer- Demenz (etwa 60 bis 70 Prozent) und die vaskuläre Demenz (etwa 20 bis 30 Prozent). Die häufigsten Demenzformen sind Erkrankungen des höheren Lebensalters, sie spiegeln aber nicht den natürlichen Alterungsprozess wider. Ergibt sich bei einem Patienten der Verdacht auf eine Demenz, ist zunächst eine akut lebensbedrohliche Erkrankung auszuschließen. Wichtig sind – gerade bei alten Menschen – die Differenzialdiagnosen Depression, Delir und Unterfunktion der Schilddrüse, da diese Erkrankungen mit dem Ziel der Heilung oder zumindest der deutlichen Verbesserung behandelt werden können. 

Sofern es die Situation und der Patient zulassen, sollte einem Verdacht auf eine demenzielle Erkrankung grundsätzlich nachgegangen werden. Zum einen können Patienten im Frühstadium der Erkrankung selbst noch Weichen für die Zukunft stellen, etwa eine Patientenverfügung schreiben, zum anderen können zu diesem Zeitpunkt gegebenenfalls noch umkehrbare Demenzursachen entdeckt und behandelt werden. Eine sensible und bedürfnisorientierte Gesprächsführung mit Patienten und Angehörigen, die Ängste und Tabus anspricht, ist selbstverständlich. Die Herausforderung für den Arzt besteht darin, von Fall zu Fall abzuwägen, welche Aufklärung zum gegebenen Zeitpunkt angemessen ist und wie viele Informationen in der jeweiligen Arzt-Patient- Angehörigen-Situation miteinander zu besprechen sind. 

Eigen- und Fremdanamnese sind wichtig: Bei fortschreitender Demenz lassen Gedächtnisleistung, Reflexionsfähigkeit und Einsicht nach. Der eingeschränkten Aufnahmefähigkeit des Patienten sollte daher im Gespräch durch Ruhe, Geduld und Wiederholungen sowie durch Vermeidung von Störungen Rechnung getragen werden. Dennoch wird die Eigenanamnese des Patienten oft weniger verlässlich sein. Der Fremdanamnese, also der Befragung der nächsten Bezugspersonen – wenn irgend möglich im Beisein des Patienten –, kommt eine erhebliche Bedeutung zu. Sämtliche zuletzt eingenommenen Medikamente sollten bezüglich ihrer Wirkungen, Neben- und Wechselwirkungen bedacht werden. Auch auf möglichen Drogenmissbrauch, insbesondere auf die Dauer und Intensität von Alkoholkonsum, sowie auf Seh- und Hörstörungen sollte ausführlich eingegangen werden.

Psychosometrische Tests

In vielen Fällen reichen Eigen- und Fremdanamnese sowie eine körperliche Untersuchung aus, um den Verdacht auf eine Demenzerkrankung zu erhärten. Psychometrische Testverfahren (= standardisierte mentale Leistungstests) können die diagnostische Treffsicherheit jedoch erhöhen, insbesondere dann, wenn der Patient nicht gut bekannt ist oder seine soziale Fassade weitgehend aufrechterhält. Bei der medikamentösen Therapie der Alzheimer-Demenz ist der Mini- Mental-Status-Test (MMST) sogar von der gesetzlichen Krankenversicherung als Verlaufsmesser vorgeschrieben. Alternativ bieten sich der Demenz-Detektions- Test (DemTect), der Test zur Abgrenzung einer Demenz von einer Depression (TFDD) und mit Einschränkungen der Uhrzeit-Zeichnen-Test an. Alle Tests erfordern eine ruhige, störungsfreie Untersuchungsumgebung – und etwa sieben bis 30 Minuten Zeit. 

Weitere Untersuchungsschritte umfassen einige Laborwerte und bildgebende Verfahren. Die Computertomografie (CT) des Schädels ist für die Diagnose von Raum fordernden Ursachen einer Demenz (etwa eines Tumors) und mit Einschränkung auch einer durch Gefäßveränderungen bedingten (vaskulären) Demenz geeignet. Für die Diagnostik einer Alzheimer-Demenz oder in der Differenzialdiagnose anderer Demenzformen kommt die Magnetspinresonanztomografie (MRT) in Betracht. Eine bildgebende Diagnostik ist nicht bei jedem Demenzpatienten erforderlich; sie sollte aber auf jeden Fall bei allen unklaren, untypischen oder rasch fortschreitenden Verläufen erfolgen.

Empfehlungen zur Versorgung und Therapie der Demenz

Eine Vorbeugung oder eine auf die Ursachen bezogene Behandlung der Alzheimer- und vaskulären Demenz existieren bis heute nicht – trotz aller Forschungsbemühungen. Maßstäbe für eine gute Versorgung und Behandlung sollten deshalb eine Verzögerung des Fortschreitens der Erkrankung und die Verbesserung der Versorgungssituation und Lebensqualität von Patienten und ihren Angehörigen sein. Hierzu empfiehlt sich ein multimodales Behandlungskonzept auf drei Ebenen. Sein Grundtenor ist dabei die Beachtung eines zurückhaltenden Vorgehens: Menschen mit Demenz sollen auf der einen Seite angemessen und bedürfnisorientiert diagnostiziert, therapiert und begleitet werden. Auf der anderen Seite sind die Empfehlungen so gehalten, dass sie vor einer Überdiagnostik ohne therapeutische Konsequenz und ohne Nutzen für den Betroffenen sowie einer Pharmakotherapie ohne ausreichende Evidenzbasierung schützen sollen.

Die Demenzerkrankungen werden zu einer zunehmenden gesellschaftlichen und gesundheitsökonomischen Herausforderung. Wie sich die Versorgungssituation in der Zukunft gestalten wird und welche Schritte bereits heute unternommen werden könnten, um die zukünftige Situation in einer gewünschten Weise zu beeinflussen, ist unklar. In der allgemeinen Diskussion werden der demografische Wandel und die damit verbundene Zunahme von Menschen mit Demenz bei gleichzeitiger Abnahme von versorgenden Menschen fast ausschließlich als bedrohliches Problem dargestellt, welches die gesellschaftlichen und ökonomischen Ressourcen in Deutschland zwangsläufig überfordern wird. 

Ziel des interdisziplinären Szenario-Prozesses Sze-Dem war es daher, Szenarien für die Versorgungssituation von Menschen mit Demenz im Jahre 2030 zu entwickeln und den heutigen Akteuren aktuelle Handlungsmöglichkeiten für den Umgang mit der zukünftigen Situation aufzuzeigen. Adressaten sind in erster Linie Entscheider in Forschung und Politik. 

Wie erwartet hatte das Projekt einige sehr negative Szenarien als Ergebnis. Hierzu zählen „Zusammenbruch der Versorgungsstrukturen“ und „Verwahrung von Menschen mit Demenz“. Das Szenario „Gut gemeint und schlecht gemacht“ ist relativ nah am Status quo und spiegelt zumindest den politischen Willen zur Verbesserung der Situation der Betroffenen. Das Szenario „Demenz meistern“ zeigt dagegen sehr positive Entwicklungen und wird somit als besonders wünschenswert angesehen, während das Szenario „Demenz vermeiden“ grundsätzlich positiv eingeschätzt wird, allerdings die Gefahr einer „Gesundheitsdiktatur“ beinhaltet. Beide positiven Szenarien bauen auf einem Wirtschaftswachstum auf, das dem Durchschnitt der letzten 20 Jahre entspricht, das heißt sie sollten sich auch mit den vorhandenen Ressourcen realisieren lassen. Wichtig erscheinen hierfür eine effiziente Forschung, insbesondere im Bereich der Versorgung und der Prävention der Demenz, und eine konsequente Umsetzung der Forschungsergebnisse auf politischer und struktureller Ebene. Eine angemessene Unterstützung, Versorgung und Pflege der Betroffenen scheint jedenfalls auch ohne „Durchbrüche“ in der Grundlagenforschung möglich zu sein. Voraussetzung dafür ist allerdings ein Umdenken in der Gesellschaft im Hinblick auf die bisherige Stigmatisierung und Dämonisierung der Demenz und indirekt auch der davon betroffenen Menschen.   

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