Pflegebedürftigkeitsbegriff

Berücksichtigung aller Beeinträchtigungen

Grafik zum Pflegebedürftigkeitsbegriff: Stift und Papier auf Clipchart, auf dem Papier steht: Begutachtung als Überschrift und die Begriffe: Mobilität, Kognitive Fähigkeiten, Psyche, Selbstversorgung, Krankheitsbewältigung, Alltag, neben den Begriffen stehen Zahlen

Die Definition der Pflegebedürftigkeit soll neu gefasst werden, um den besonderen Bedarfen von Personen mit eingeschränkter Alltagskompetenz Rechnung zu tragen. So müssen im Pflegealltag verwertbare Leistungen allen Pflegebedürftigen zuteil werden.

"Pflegebedürftig […] sind Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höherem Maße (§ 15) der Hilfe bedürfen.“ So lautet kurz gefasst die seit Einführung der sozialen Pflegeversicherung 1995 unverändert gültige Definition von Pflegebedürftigkeit nach SGB XI. Auf dieser Grundlage gelten derzeit 2,38 Millionen Menschen als pflegebedürftig und können Leistungen der sozialen Pflegeversicherung in Anspruch nehmen. Dieser Pflegebedürftigkeitsbegriff wird allerdings bereits seit seiner Einführung als unzureichend kritisiert. 

  1. Gefaltete Zeitungen liegen übereinander

    vdek fordert rasche Umsetzung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs

    Berlin, 27.6.2013 - "Die Arbeit des Expertenbeirates hat sich gelohnt. Der neue Bericht geht in vielen Teilen deutlich weiter als der Bericht des "alten" Beirates von 2009. Er geht detailliert auf Fragen zu Überleitungsregelungen sowie zum Bestandsschutz ein und enthält wertvolle Empfehlungen für die Umsetzung der 5 Pflegegrade. Die Politik steht nun in der Pflicht, den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff rasch umzusetzen." » Lesen

Das Hauptproblem: Er ist auf eine verrichtungsbezogene Betrachtung von somatischen Defiziten fokussiert. Damit kann er zwar körperliche und organische Funktionseinschränkungen darstellen, aber die besonderen Hilfs- und Betreuungsbedarfe, die durch psychische und kognitive Einschränkungen entstehen, werden weitgehend nicht erfasst. Dies führt dazu, dass Personen mit einer eingeschränkten Alltagskompetenz – unter anderem demenziell Erkrankte – trotz eines bestehenden Bedarfs an Betreuung und Beaufsichtigung nicht als pflegebedürftig im Sinne der sozialen Pflegeversicherung gelten. Die Leistungen der Pflegeversicherung bleiben den Betroffenen oftmals verwehrt. Dabei leiden derzeit über eine Million Menschen in Deutschland an Demenz (Stand 2008: 1,1 Millionen). Tendenz: weiter steigend. Nach Angaben der Deutschen Alzheimer Gesellschaft wird sich die Anzahl bereits bis 2040 verdoppelt haben.

Modellprojekt und Empfehlungen zur Umsetzung

Die Definition von Pflegebedürftigkeit muss also neu gefasst werden. Dazu wurde 2007 ein Modellprojekt zur Entwicklung eines zukünftigen Pflegebedürftigkeitsbegriffs mit einem dazugehörigen Begutachtungsinstrument initiiert und ein Beirat zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffes berufen. 2009 legte der Beirat seine Vorschläge für einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff und ein neues Begutachtungsassessment (NBA) vor, die sowohl in der Pflege-Fachwelt als auch in der Politik große Zustimmung fanden. Auch die Ersatzkassen fordern seit Langem eine neue Definition von Pflegebedürftigkeit, die den besonderen Bedarfen von Personen mit eingeschränkter Alltagskompetenz Rechnung trägt. 

Dieser neue Pflegebedürftigkeitsbegriff sorgt für eine Gleichbehandlung der Pflegebedürftigen, unabhängig von der Ursache ihres Pflege- oder Unterstützungsbedarfs. Er ist nicht auf körperlich beziehungsweise organisch bedingte Defizite bei den Verrichtungen des täglichen Lebens begrenzt, sondern berücksichtigt gleichermaßen alle – also körperliche, kognitive und psychische – Einschränkungen und Störungen. Zudem wird bei der Bewertung des Unterstützungsbedarfs nicht mehr auf den zeitlichen Umfang der benötigten Hilfen, deren Häufigkeit oder Rhythmus (sogenannte Minutenpflege), sondern allein auf den Grad der Selbstständigkeit (beziehungsweise den Verlust von Selbstständigkeit) bei der Durchführung von Aktivitäten abgestellt. Um dies zu erreichen, wurde die Feststellung und Bemessung von Pflegebedürftigkeit unter anderem in den folgenden wesentlichen Eckpunkten neu konzipiert:

  • Die Bewertung und Einteilung des Grades der Pflegebedürftigkeit erfolgt nicht mehr mittels der drei Pflegestufen, sondern in Form von fünf Bedarfsgraden.
  • An die Stelle der gesetzlich definierten Verrichtungen des täglichen Lebens tritt eine umfassende Aufstellung von „Aktivitäten und Fähigkeiten“, bei denen der Grad der Selbstständigkeit erfasst wird. Diese werden auf sechs Module aufgeteilt (Mobilität, Kognitive Fähigkeiten, Verhaltensweisen und psychische Problemlagen, Selbstversorgung, Umgang mit krankheits- und therapiebedingten Anforderungen, Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte).
  • Die in den einzelnen Aktivitäten und Fähigkeiten bestehenden Einschränkungen der Selbständigkeit werden mittels eines Punktesystems für die einzelnen Module bewertet und zu einem gewichteten Gesamtergebnis zusammengeführt.

Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff und das NBA erwiesen sich im Rahmen des Modellprojektes in der Praxis als verlässlich und treffsicher. Und doch: Seit dem Vorliegen der Empfehlungen des Beirats vor zwei Jahren wurde kein konkreter Schritt zur Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffes unternommen.

Antworten auf offene Fragen

Es fehlt bislang an Antworten auf zwei zentrale Fragen. Zunächst muss die Politik festlegen, welche Leistungen künftig den Pflegebedürftigen in den neuen Bedarfsgraden zur Verfügung gestellt werden. Dabei muss sie beachten, dass allen Pflegebedürftigen – auch in den unteren Bedarfsgraden – im Pflegealltag verwertbare Leistungen zukommen. Darüber hinaus kann eine neue Definition von Pflegebedürftigkeit nur dann auf allgemeine Akzeptanz stoßen, wenn durch ihre Einführung kein Pflegebedürftiger geringere Leistungen erhält als bisher (Bestandsschutz). 

Die bessere Berücksichtigung der Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz durch den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff verursacht in der sozialen Pflegeversicherung laut Umsetzungsbericht des Beirats Ausgabensteigerungen von bis zu 3,6 Milliarden Euro. Hinzu kommen gegebenenfalls Kosten einer Bestandsschutzregelung für die zum Zeitpunkt des Systemwechsels bereits Pflegebedürftigen. Die Sicherstellung der Finanzierung ist indes die zweite offene Frage. Hierzu muss sich die Politik positionieren.  

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