Interview

„Mehr Freiräume für die Versorgung der Versicherten“

Foto: Verbandsvorsitzender Christian Zahn und vdek-Vorstandsvorsitzende Ulrike Elsner

Die Bundestagswahl steht vor der Tür. Wo muss die Gesundheitspolitik umsteuern, was hat sich bewährt, was muss verändert werden? Der Verband der Ersatzkassen e. V. (vdek) engagiert sich seit jeher für die gesundheitliche Versorgung der Versicherten. Er tritt zugleich als politische Interessenvertretung und Dienstleister für seine Mitgliedskassen auf. Im Interview mit ersatzkasse magazin. sprechen der Verbandsvorsitzende Christian Zahn und die vdek-Vorstandsvorsitzende Ulrike Elsner über die Bedeutung des Verbandes, über die Herausforderungen im Gesundheitswesen und über Ziele und Erwartungen an eine optimale Gesundheitsversorgung.

Frau Elsner, seit gut einem halben Jahr sind Sie Vorstandsvorsitzende des Verbandes der Ersatzkassen e. V. (vdek). Sie kennen die Verbandsarbeit schon lange als Leiterin der Abteilung Ambulante Versorgung und vorher als Leiterin der vdek-Landesvertretung Sachsen. Was hat sich verändert?

Ulrike Elsner Als Vorstand verändert sich noch einmal die Perspektive. Hinzu kommen ein Mehr an Verantwortung – auch für die rund 550 Mitarbeiter auf Bundes- und Landesebene – und neue Aufgabengebiete. Die politische Arbeit nimmt einen anderen Raum ein, gerade hier auf Bundesebene. Mir hilft dabei, dass ich an unterschiedlichsten Stellen gearbeitet habe und die Anforderungen und Bedarfe der Mitgliedskassen kenne. Ungeachtet der jeweiligen Verantwortungsbereiche stand für mich immer fest: Im Mittelpunkt unserer Arbeit steht stets die optimale medizinische Versorgung der Versicherten. Das ist der gemeinsame Nenner, die gemeinsame Motivation aller Ersatzkassen und aller Mitarbeiter des vdek.

Herr Zahn, Sie sind nun schon seit 2006 Verbandsvorsitzender, was erwarten die Ersatzkassen von ihrem Verband?

Christian Zahn Der vdek ist ein moderner, schlagkräftiger Verband. Wer heute als Krankenkasse Marktmacht entwickeln will, braucht einen Verband, der die gemeinsamen Interessen der Mitgliedskassen bündeln und vorantreiben kann. Die Ersatzkassen haben gemeinsame Ziele, sie haben auch eine Ersatzkassen-Identität, die zum Beispiel darin zum Ausdruck kommt, dass sie immer um ihre Versicherten werben mussten.

Die Versicherten haben sich immer freiwillig für eine Ersatzkasse entschieden. Es gab anders als bei anderen Kassenarten auch in der „alten Welt“ vor der Wahlfreiheit keine Pflichtzuweisungen. Die Ersatzkassen wollen besonders leistungsstark und für ihre Versicherten im Leistungsangebot attraktiv sein. Der Verband kennt sich mit diesen Strukturen seit mehr als 100 Jahren aus, im vdek waren immer Einzelkassen organisiert, die im Wettbewerb zueinander standen und auch heute noch stehen. Die Rahmenbedingungen ändern sich fortlaufend, der Wettbewerb ist stärker geworden. Doch es ist uns auch in den letzten Jahren sehr gut gelungen, den vdek als schlagkräftigen, politischen Verband mit Sitz in Berlin zu etablieren und für die Prinzipien einer solidarischen selbstverwalteten Krankenversicherung zu werben.

Frau Elsner, welche Schwerpunkte möchten Sie in Ihrer Arbeit setzen?

Ulrike Elsner Der vdek vertritt sechs Ersatzkassen mit insgesamt 25,8 Millionen Versicherten. Den Ersatzkassen ist es in den letzten Jahren gelungen, Marktführer unter den Kassenarten zu werden. Die Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten des Verbandes wachsen damit. Je mehr Menschen bei den Ersatzkassen versichert sind, desto mehr finden wir bei der Politik, bei Vertragsverhandlungen mit den Leistungserbringern und in den Gremien der Selbstverwaltung Gehör.

Zudem geht es darum, den Verband als Dienstleister weiterzuentwickeln. Wir unterstützen die Mitgliedskassen durch Bündelung der Aufgaben in Bereichen, die für die Mitgliedskassen nicht unmittelbar wettbewerbsrelevant sind. Ich meine damit die operativen Verhandlungen im Kollektivbereich, EDV-Datenbanken, Zulassungen von Heilmittelerbringern, Arbeitgeberverfahren, Pflegequalitätsprüfungen. Hier schaffen wir Angebote und Synergien, die unsere Mitgliedskassen gerne annehmen.

Weitere Beispiele sind die Lotsenportale, die wir im Auftrag der Ersatzkassen entwickelt haben und von denen die Versicherten unmittelbar profitieren: www.pflegelotse.de, www.vdek-arztlotse.de und der www.vdek-kliniklotse.de.

Wo sehen Sie die zentralen gesellschaftlichen bzw. gesundheitspolitischen Herausforderungen der nächsten Jahre?

Christian Zahn Der demografische Wandel und der Umgang mit dem medizinischen Fortschritt sind die zentralen Herausforderungen, denen wir uns alle stellen müssen. Entsprechend müssen wir auch unsere Sozialsysteme anpassen.

Beispiel Pflege: Immer mehr Menschen erreichen ein hohes Alter. Damit steigt die Möglichkeit, im Alter pflegebedürftig zu werden. Die schwarz-gelbe Bundesregierung hat mit dem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz nur kleine Reformen angestoßen, womit aber bei Weitem nicht die bestehenden nachhaltigen Herausforderungen in der Pflege gemeistert werden können.

Dringend erforderlich ist die Ausrichtung der pflegerischen Versorgung an moderne wissenschaftliche Erkenntnisse. Die nächste Bundesregierung darf sich nicht um die Frage drücken, wie wir eine „gute Pflege“ künftig finanzieren. An dieser Stelle zeigt sich, wie unsere Gesellschaft mit alten und pflegebedürftigen Menschen umgeht.

Und wie sieht es in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) aus?

Christian Zahn Im vdek beschäftigen wir uns seit Langem mit Fragen rund um den demografischen Wandel. Die Menschen werden älter, sie bleiben aber auch länger agil. Wir müssen daher die Versorgungsstrukturen auf die neue Situation anpassen, zielgerichtet Präventionsangebote für ältere Menschen entwickeln, aber natürlich auch in der Ausbildung der Ärzte oder Pflegekräfte umsteuern.

Was muss konkret getan werden?

Ulrike Elsner Die hausärztliche Aus- und Weiterbildung muss sich stärker mit altersbezogenen Krankheiten beschäftigen. Das gilt auch für die Krankenhäuser, die sich stärker auf Krankheitsbilder im geriatrischen Bereich einstellen müssen. Multimorbidität und chronische Erkrankungen werden eine größere Rolle spielen. Diesem Thema hat sich unser jüngster Zukunftspreis gewidmet.

Wichtig sind in diesem Zusammenhang vernetzte Strukturen. Alte alleinstehende Menschen brauchen nach einem Krankenhausaufenthalt eine abgestimmte Nachversorgung und häusliche Betreuung bzw. Unterstützung in der Pflege. Ich setze meine Erwartungen da auf ein verbessertes Entlassmanagement.

Über vernetzte Strukturen oder sektorenübergreifende Versorgung reden wir ja schon seit vielen Jahren. Es gibt eine Reihe von Ansätzen zum Beispiel im Bereich der Integrierten Versorgung, aber der große Durchbruch ist noch nicht erfolgt. Woran liegt das?

Ulrike Elsner Oberste Prämisse bei den Integrierten Versorgungsverträgen ist Geduld! Wenn wir Versorgungsstrukturen verändern wollen, müssen wir zunächst Erfahrung in einer modellhaften Umsetzung sammeln.

Diese Zeit sollten sich alle Beteiligten nehmen und nicht verfrüht düstere Szenarien einer unversorgten Bevölkerung zeichnen. Mir persönlich imponiert, wie viele engagierte Initiativen es gibt.

Dennoch gibt es Schwierigkeiten gerade nach Wegfall der Anschubfinanzierung.

Ulrike Elsner Zentral für die Umsetzung von Projekten der Integrierten Versorgung sind zunächst stabile gesetzliche Rahmenbedingungen, die den Vertragspartnern eine verlässliche Planung ermöglichen. Weil die Anschubfinanzierung 2006 ausgelaufen ist, bekamen einige Projekte Finanzierungsprobleme. Ich meine, ein Businessplan muss so aufgestellt sein, dass Verträge sich aus der üblichen Vergütung finanzieren können. Gleichwohl kann es Situationen geben, dass ein Vertrag, der die Versorgung bzw. ihre Strukturen weiterentwickelt, eine Anschubfinanzierung erfordert. Hier halte ich es für überlegenswert, dafür einen „Zukunftsfonds“ zu schaffen.

Wie kann man noch stärkere finanzielle Anreize setzen?

Christian Zahn Da muss man klar sagen: Gesundheitsfonds, einheitlicher Beitragssatz und vor allem der Zusatzbeitrag haben völlig falsche Anreize im Wettbewerb gesetzt. Wir haben absurde Diskussionen über Überschüsse gehabt, der Zusatzbeitrag hat zu nichts weiter geführt als zu großen Mitgliederwanderungen und Kassenschließungen. Die Kassen waren gezwungen, nach rein ökonomischen Anreizen zu handeln, Ziel war es, möglichst den Zusatzbeitrag zu vermeiden. Der Wettbewerb um die bessere Versorgung wurde jedenfalls zu wenig angestoßen. Ein Versorgungsprojekt im Bereich der Integrierten oder sektorenübergreifenden Versorgung zu starten, ist mit Aufwänden und finanziellen Risiken für die Kassen verbunden. Wir brauchen daher wieder einen Wettbewerb mit richtigen Anreizen für eine bessere medizinische Versorgungsqualität.

Ohne Zusatzbeitrag geht es besser?

Christian Zahn Ja, wir möchten den Beitragssatz wieder kassenindividuell festlegen können. Diskussionen um Rücklagen und Fondsüberschüsse wären überflüssig, weil die Beitragserhebung passgenauer und bedarfsgerechter erfolgen könnte. Zusatzbeiträge würden entfallen. Das ist auch technisch ohne Weiteres möglich und kann unter Beibehaltung des Gesundheitsfonds erfolgen.

Wie steht die GKV, wie stehen die Ersatzkassen 2013 finanziell da?

Ulrike Elsner Ende 2012 hat die GKV nach unserer Schätzung Überschüsse in Höhe von insgesamt 26,7 Milliarden Euro. Davon sind 3,2 Milliarden Euro für die Mindestreserve vorzusehen; zwei Milliarden Euro sind zudem für einen etwaigen Sozialausgleich reserviert. Die Rücklagen bei den Krankenkassen betragen etwa 14 Milliarden Euro; 5,9 Milliarden Euro entfallen davon auf die Ersatzkassen. Um das richtig einzuordnen: Das entspricht in etwa einer Monatsausgabe, wir leben also nicht im Überfluss. Gleichwohl werden die Überschüsse großzügig von der Politik weitergereicht durch Streichung der Praxisgebühr, Kürzung des Bundeszuschusses für versicherungsfremde Leistungen und durch Vergütungszusagen an die Leistungserbringer. Die Apotheker, Krankenhäuser und Ärzte werden mehr Geld bekommen. 2013 wird die GKV aber noch schwarze Zahlen schreiben. Die Einnahmen werden nach Aussage des GKV-Schätzerkreises um 1,6 Prozent steigen, bei den Ausgaben werden wir aber mit 4,6 Prozent wieder einen deutlichen Anstieg erleben.

Wofür sollten Überschüsse oder Beitragsgelder besser verwendet werden?

Ulrike Elsner Wenn die Konjunktur eintrübt, werden die Überschüsse nicht von langer Dauer sein. Deshalb sollten wir kein Strohfeuer entfachen, sondern mittel- und langfristig in die Versorgung investieren. Nehmen Sie die Honorarverhandlungen mit den Ärzten. Da wurde seitens der Ärzte mit heftigen Bandagen gekämpft – letztendlich ging es in den Verhandlungen allein um eine Preiserhöhung. Für mehr Geld erwarten wir allerdings auch eine bessere Versorgung für unsere Versicherten.

Wir müssen neue Versorgungsstrukturen erproben, Qualitätsdefizite, Über- und Unterversorgung abbauen und mehr Transparenz schaffen. Neue medizinische Verfahren müssen konsequent auf ihren medizinischen Nutzen hin bewertet werden. Bei der Nutzenbewertung von neuen Medikamenten sind wir da auf einem guten Weg, den gilt es auszuweiten.

Um diese Dinge auf den Weg zu bringen, brauchen Sie gute Partner.

Christian Zahn Als allererstes brauchen wir verlässliche gesetzliche Rahmenbedingungen und Gestaltungsspielräume, innerhalb deren dann die gemeinsame Selbstverwaltung der Krankenkassen und Leistungserbringer handeln kann. Nehmen wir die Honorarverhandlungen für Ärzte: Hier hat die kurze Halbwertszeit der gesetzlichen Rahmenbedingungen und die dadurch entstandene Verunsicherung bei einer Vielzahl von Ärzten die Selbstverwaltung vor eine Zerreißprobe gestellt. Wenn der Rahmen stimmt, ist die Selbstverwaltung unschlagbar, denn sie ist viel näher dran an der Versorgungsrealität als die Politik.

Auf den Punkt gebracht: Was geben Sie der Politik im Wahljahr 2013 mit auf den Weg?

Christian Zahn Weder zu viel Staat noch zu viel Markt ist der richtige Weg für unser Gesundheitswesen. Ich wünsche mir, dass die Selbstverwaltung ihre Stärke beweisen kann! Und ich wünsche mir, dass der solidarische Charakter der GKV gewahrt bleibt. Ulrike Elsner Ich möchte, dass wir unseren Fokus mehr auf die Versorgung der Versicherten richten. Qualität und Wirtschaftlichkeit der Versorgung müssen die Leitlinien unseres Handelns sein.

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