Psychotherapie

Internetbasierte Hilfe als sinnvolle Ergänzung

Psychische Störungen sind mit hohen Belastungen für Betroffene und massiven wirtschaftlichen Kosten verbunden. Therapeutengestützte, über das Internet angebotene Interventionen zeigen sich als hochwirksam bei der Behandlung psychischer Störungen. Die internetbasierte Psychotherapie kann einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, die psychotherapeutische Versorgung maßgeblich zu verbessern und zu erweitern.

Die Vorstellung, Psychotherapie und das Internet miteinander zu kombinieren, klingt zunächst paradox. Psychotherapie erfordert eine positive und vertrauensvolle Beziehung zwischen Therapeut und Patient, zudem lebt sie von der direkten Interaktion vis-à-vis im Behandlungszimmer. Dass eine erfolgreiche Therapie auch über das Internet und ohne den direkten Kontakt mit dem Therapeuten in dessen Sprechzimmer stattfinden kann, zeigen zahlreiche Befunde der klinisch-psychotherapeutischen Forschung seit mehr als einer Dekade.

Internetbasierte Interventionen sind therapeutische Angebote, die über das Internet vermittelt werden, um psychischen Problemen vorzubeugen oder diese zu behandeln. Die Patienten werden anhand störungsspezifischer, meist psychoedukativ gestalteter Module dazu angeleitet, sich mit ihrer Problematik auseinanderzusetzen, und sie erhalten regelmäßig Rückmeldung und Anleitung zum weiteren Vorgehen. Patienten erfahren etwas über die Entstehung und Aufrechterhaltung der eigenen psychischen Belastung und üben zum Beispiel mithilfe von Schreibaufträgen und Videotrainings einen hilfreicheren Umgang mit den eigenen Emotionen und Kognitionen ein. In einer Vielzahl von Übersichtsarbeiten zeigen sich internetbasierte Interventionen als überzeugend wirksam zur Symptomreduktion einer Reihe psychischer Störungen. Besonders depressive und Angststörungen sprechen gut auf die Methoden an, die Symptombelastung reduziert sich regelhaft so weit, dass weiterführende Psychotherapie nicht mehr indiziert ist.

Besonders bemerkenswert in der augenscheinlich anonymen, distanzierten und durch das Fehlen nonverbaler Signale schwierig zu interpretierenden Welt der digitalen Kommunikation ist die Beurteilung der internetvermittelten therapeutischen Beziehung. Patienten und Therapeuten bewerten diese durchgängig als positiv, angenehm und persönlich. Patienten erleben den Austausch als durch Offenheit, Ehrlichkeit und Intimität geprägt, bei zugleich vermindertem Schamerleben. Darüber hinaus zeigt sich, dass beim Vergleich internetbasierter und traditioneller Psychotherapie jeweils gleichermaßen viele Personen die Intervention frühzeitig beenden. Die Gründe für einen vorzeitigen Therapieabbruch scheinen also eher störungs- und weniger interventionsbezogen zu sein.

Man kann sich nun fragen: Psychotherapie über das Internet? Braucht Deutschland das oder verursacht es nur zusätzliche Kosten und Aufwand? Ist es gar eine „Modeerscheinung“ und überhaupt notwendig? Untersuchungen zum Bedarf, Angebot und zur Inanspruchnahme psychotherapeutischer Versorgung in Deutschland machen hingegen zumindest drei Aspekte sehr deutlich:

Psychische Störungen sind in Deutschland hochprävalent – etwa jeder Dritte in Deutschland leidet unter zumindest einer psychischen Störung. Psychische Störungen gehören damit deutschland- und weltweit zu den bedeutsamsten Ursachen für individuelles Leid. Sie tragen bedeutsam zu steigenden Ausgaben im gesundheitswirtschaftlichen Sektor bei. Nach aktuellen Schätzungen stellen psychische Störungen die zweitwichtigste Quelle betrieblicher Arbeitsunfähigkeitstage dar. Trotz des offensichtlichen Bedarfs an psychotherapeutischer Versorgung besteht bundesweit eine beträchtliche Fehl- oder Unterversorgung, was sich in mangelnder psychotherapeutischer Angebots-/Infrastruktur sowie unzumutbar langen Wartezeiten und hohen Ablehnungsquoten für die Patienten äußert.

Internetbasierte Interventionen bieten hier großes Potenzial, um diesen Defiziten entgegenzuwirken. Als Ergänzung zur traditionellen Psychotherapie bieten sie eine niedrigschwellige sowie orts- und zeitungebundene Möglichkeit, um Unterstützung anzubieten. Speziell Betroffene in Regionen mit unzureichender psychotherapeutischer Infrastruktur, Personen mit alters-/krankheitsbedingter Mobilitätseinschränkung oder jene, die aus Scham oder Furcht vor Stigmatisierung ansonsten keinen Psychotherapeuten aufsuchen, können auf diese Weise erstmalig professionelle Hilfe erhalten. Weiter können Internetinterventionen die Wartezeit überbrücken und diese therapeutisch nutzbar machen. Schwerpunktzentren, die sich in Form von „virtuellen Ambulanzen“ auf internetbasierte Interventionen spezialisieren, können hier eine Schlüsselfunktion einnehmen. So kann eine zentrale Koordination der Interventionen erfolgen, bei gleichzeitiger Sorgfalt für die Einhaltung des Datenschutzes, wissenschaftlicher Prüfung der angebotenen Programme sowie Schulung und Supervision der beschäftigten Therapeuten.

In anderen Ländern wie den Niederlanden, Schweden oder Großbritannien sind internetbasierte Interventionen bereits in die Gesundheitsversorgung integriert und den Patienten frei oder mit ärztlicher/psychotherapeutischer Verordnung zugänglich. Beispiele hierfür sind Interapy zur Behandlung der PTBS, Depression, Panikstörung und Essstörungen; daneben Beating the Blues zur Behandlung depressiver Störungen und Fearfighter bei Angststörungen. Es zeigt sich, dass internetbasierte Interventionen wirksam, gut akzeptiert und umsetzbar sind und bestehenden Defiziten in der psychotherapeutischen Versorgung entgegenwirken können.

Der Haken: Internetbasierte Psychotherapie ist in Deutschland berufs- und sozialversicherungs-rechtlich nicht anerkannt, das heißt sie kann nur im Rahmen von Forschungsprojekten umgesetzt werden. Um die internetbasierten Interventionen vollends zu nutzen, bedarf es verschiedener Veränderungen in den berufs- und sozialversicherungsrechtlichen Vorgaben, was sich derzeit als kritisch erweist und insbesondere der Offenheit aller beteiligten Institutionen und Entscheidungsträger bedarf. Dies bedeutet in keinem Fall die Verdrängung altbewährter Interventionen, sondern vielmehr die Erweiterung der psychotherapeutischen Landschaft um hilfreiche, nützliche und gewinnbringen-de Neuerungen. Ziel aller Entscheidungen im gesundheitswirtschaftlichen Bereich sollte es sein, mit bestem Wissen und Gewissen zugunsten und im Sinne der Patienten zu handeln. Hinsichtlich dieses aktuellen „Trends“ sollte dies vor allem bedeuten, die Chancen, die mit der Internettherapie verbunden sind, zu erkennen und für die angemessene, unmittelbar verfügbare und wirksame Versorgung psychisch Belasteter zu nutzen.

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