Interview

"Pflege als geteilte Verantwortung begreifen"

Prof. Dr. Thomas Klie, bei einem Interview für das "ersatzkasse magazin" beim Verband der Ersatzkassen e. V. (vdek)

In den vergangenen Jahren wurde viel über die Weiterentwicklung der Pflege diskutiert, jetzt hat die Reform Fahrt aufgenommen. Anfang des Jahres traten das Erste Pflegestärkungsgesetz sowie das Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf in Kraft, 2016 soll das Zweite Pflegestärkungsgesetz kommen, außerdem steht ein Pflegeberufegesetz auf der Agenda. Prof. Dr. Thomas Klie gilt als einer der führenden Sozialexperten in Deutschland. Seit über zwei Jahrzehnten beschäftigt er sich mit Fragen rund um die Pflege. Im Interview mit ersatzkasse magazin. spricht er über die aktuellen Entwicklungen, über Wünsche und Realität und darüber, wie Pflege in der heutigen Gesellschaft verankert ist.

Herr Prof. Dr. Klie, Sie sind Jurist, Theologe, Soziologe – was hat Sie zur Pflege geführt?

Prof. Dr. Thomas Klie Schon als Jugendlicher, Zivildienstleistender und später während des Studiums hatte ich Berührungspunkte mit der Pflege. Auch habe ich meine Eltern selbst viele Jahre begleitet. Allerdings hatte ich in beruflicher Hinsicht ganz anderes vor. Doch dann war ich angesichts der Desiderate wissenschaftlicher und juristischer Auseinandersetzung damit konfrontiert, mich mit der Pflege zu beschäftigen und so bin ich dann dem Thema treu geblieben. Pflege ist ein politisch hoch relevantes Thema, eine der ganz großen gesellschaftlichen Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte. Es ist ein durch seine Komplexität ausgesprochen reizvolles Thema und verdient weiter einer unabhängigen wissenschaftlichen Befassung, und zwar sowohl analytisch als auch strategisch.

In der Vergangenheit wurde viel um die Pflege gerungen, Reformwille und Stillstand wechselten sich ab. Wieso funktioniert es jetzt?

Wir Deutschen haben ja die Gabe, politische Großprojekte sehr gründlich vorab zu diskutieren. Damals haben wir 20 Jahre gebraucht bis zur Verabschiedung der Pflegeversicherung. Pflege wird immer mehr zu einem gesellschaftlichen Thema, da sich immer mehr Menschen in Deutschland mit diesem Thema konfrontiert sehen. Es ist fest in der Gesellschaft verankert. Man ist in Sorge um die Sorge.

Welchen Stellenwert hat Pflege in der Politik?

Im Vergleich zu anderen Politikfeldern spielt Pflege leider eine untergeordnete Rolle. Wo sind im Bundestag die Politiker, die sich mit Details der Pflegepolitik auseinandersetzen? Viele wichtige Fragen stehen nicht im Mittelpunkt der Debatten.  

Woran macht sich das bemerkbar?

Fragen der Finanzierung stehen im Vordergrund, nicht die Wirkungen der Pflegeversicherung vor Ort. So wichtig er ist, der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff: Er vermittelt ein verändertes Verständnis von Pflege und stützt das Vertrauen der Bevölkerung in die Handlungs- und Anpassungsfähigkeit unseres sozialen Sicherungssystems. Er wird uns nicht die drängenden Zukunftsfragen in der Langzeitpflege beantworten.  

Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff wird aber von vielen Seiten gelobt.

Man muss bescheiden bleiben. Der Pflegebedürftigkeitsbegriff greift nach vielen Jahren der Diskussion den Umstand auf, dass bestimmte Bedarfssituationen und Personengruppen, etwa Menschen mit Demenz, diskriminiert waren. Aber wir müssen genauso dringend schauen, wie man das, was Menschen für ein gutes Leben in Zusammenhang mit „Pflegebedürftigkeit“ brauchen, organisiert bekommt: bei zurückgehenden Ressourcen informeller Pflege. Und da ist der Pflegebedürftigkeitsbegriff erst mal ziemlich uninteressant.

Welche Rolle spielt hier die Pflegeversicherung?

Es ist ein bescheidener Beitrag, den die Pflegeversicherung zur Sicherung eines guten Lebens bei Pflegebedürftigkeit leistet. Das meiste geschieht immer noch aus Familie, Nachbarschaft und kleinen sozialen Netzwerken heraus. Es ist sinnvoll, dass wir eine Pflegeversicherung haben, das will ich gar nicht infrage stellen. Aber die Leistungen der Pflegeversicherung müssen sich stärker in den Dienst lebensweltlicher Bewältigungsstrategien stellen, professionelle Steuerungsfunktionen übernehmen und flexibilisiert werden, etwa in Richtung Budgets: Sachleistungs- und persönliche Budgets.

Was hätten Sie sich gewünscht?

Wenn Sie mich als Gerontologe ansprechen, dann würde ich sagen, wir benötigen Strategien und Konzepte mit Blick auf das, was Menschen, die auf pflegerische Hilfen angewiesen sind, für ein gutes Leben brauchen. Sodass sie sich zugehörig fühlen und gewürdigt sehen, dass sie sich als bedeutsam erleben. In den langen Phasen eines Lebens mit Demenz bis zum Sterben in Verbundenheit. Es geht nicht allein darum, medizinisch gut versorgt zu werden, sondern auch darum, dass ich mich in einer sorgenden Gesellschaft aufgehoben weiß bis zum Ende des Lebens. Das rückt den Lebensort, die Kommunen in den Blick. Diese Dimension kommt in der politischen Debatte zu kurz.

Die Pflegeberatung soll ausgebaut werden. Was kann sie leisten im Kontext der Pflegeangebote?

Es gibt ja bereits die Verpflichtung der Kassen zur Beratung. Dieser Verpflichtung müssen sie mehr nachkommen. Das gelingt in einigen Ländern im Rahmen der Pflegestützpunkte gut, wie etwa im Saarland und Rheinland-Pfalz, in anderen weniger gut, da gibt es zum Teil erheblichen Nachholbedarf. Generell gelingt Pflege und Sorge dann, wenn viele Akteure zusammenwirken. Beratung ist eine Aufgabe, die in ihrer Qualität davon lebt, dass man die Bedingungen vor Ort kennt. Pflegeberatung ist nur dann gut, wenn sie sich in Care Management einbinden lässt und die Vernetzung der Akteure untereinander sowie die Weiterentwicklung der lokalen Infrastruktur fördert.  W

ie sollte eine pflegefachliche Beratung ganz konkret aussehen?

Pflegeberatung – besser „Sorgeberatung“ – ist etwas anderes als die pflegefachliche Beratung im Rahmen der Steuerung des Pflegeprozesses, auf die jeder zurückgreifen können muss und die durch Pflegefachkräfte der Pflegedienste oder stationärer Einrichtungen erfolgt. Aus meiner Sicht gehört diese Aufgabe in den Aufgabenbereich der gesetzlichen Krankenversicherung. Diese Begleitung hätte enorm positive Effekte, weil jeder auf Pflege angewiesene Mensch die Garantie hätte, dass er wie auf einen Hausarzt auf eine Pflegfachkraft zurückgreifen kann. Auch im Sinne der Durchlässigkeit von stationärer und ambulanter Versorgung spricht viel dafür, die pflegefachliche Begleitung, Behandlungspflege und pflegesteuernde Prozesse in eine Hand zu legen.  

Brauchen wir eine Professionalisierung der Pflege, wie es das geplante Pflegeberufegesetz anstrebt?

Meine Hoffnung ist, dass das Pflegeberufegesetz deutlich macht und unterstützt, dass in der Pflege professionelle Kräfte gebraucht werden, die mit ihrem Fachwissen und ihrer Fähigkeit, Menschen zu verstehen, auf Pflege angewiesene Menschen begleiten. Professionalisierung heißt auch, dass der Pflegefachlichkeit ein eigener Status und eine eigene Bedeutung zugemessen werden, was bisher nicht ausreichend der Fall ist. Wir müssen die Fachpflege dringend weiterentwickeln.

Halten Sie es für einen guten Ansatz, die Pflegeausbildungen wie vorgesehen zu generalisieren und gleichzustellen?

Im Sinne der Professionalisierung der Pflege, auch wenn man international anschlussfähig sein will, kommt man daran nicht vorbei. Nur ist es gleichwohl kein einfacher Weg, den man einschlägt. Die Berufsgruppen der Pflege sind sehr unterschiedlich. Blicken Sie etwa auf die unterschiedlichen Finanzierungsstrukturen. Die Pflegerin im Krankenhaus verdient deutlich mehr als die Altenpflegerin. Da erhoffen sich ja auch die Gewerkschaften, dass endlich der Bereich der Langzeitpflege aufgewertet wird und dass diese problematische Unterfinanzierung dort auch, wenn auch nicht behoben, so doch etwas dagegen gesetzt wird.  

Wo sehen Sie Probleme in fachlicher Hinsicht?

Man muss berücksichtigen, dass die in den verschiedenen Berufen tätigen Menschen sozial eine sehr unterschiedliche Herkunft haben. So sehen wir bei den Rekrutierungsstrategien in der Altenpflege, dass einige eine intensive Bildungsbegleitung benötigen und teilweise nach ihrem Abschluss nicht unbedingt in der Lage sind, die ihnen übertragenen Aufgaben zu erfüllen. Und wir müssen zusehen, dass wir auch jenseits der Grundausbildung in die Pflege investieren. Als Hochschullehrer sage ich, dass es ein Fehler war, dass die Pflege nicht viel stärker auch auf universitärer Ebene unterstützt wurde. Wir brauchen Menschen, die auch in der Lage sind, komplexe Führungsaufgaben in der Pflege zu übernehmen.  

Zur Sicherung der Qualität der Pflege in Deutschland sollen die Pflegenoten weiterentwickelt werden. Wie könnte ein Nachfolgemodell aussehen?

Ich bin kein Freund der Pflegenoten, denn sie haben eher zu einem negativen als positiven Image einer Einrichtung beigetragen und sind nicht wirklich aussagekräftig. Die Prüf- und Dokumentationspflichten haben zu viel Bürokratie und Demotivation geführt. Natürlich haben die Pflegenoten auch gewisse Qualitätsaspekte gezeitigt, zu Verbesserungen geführt und Einrichtungen zum Nachdenken gebracht. Als Forschungsprojekt wäre das in Ordnung gewesen, nicht aber als ein flächendeckendes Großexperiment. Natürlich muss man die Qualität kontrollieren. Aber dafür brauche ich keine Doppelprüfung durch die Heimaufsicht einerseits und den Medizinischen Dienst andererseits. Die Heimaufsicht ist unverzichtbar, diese muss in ihrer Aufsichtsverantwortung gegenüber den Pflegeeinrichtungen gestärkt werden. Sie hat dafür zu sorgen, dass die verschiedenen Akteure jeweils ihre Aufgabe wahrnehmen können, um entsprechend gute Qualität zu bieten. Wir müssen es als eine geteilte Qualitätsverantwortung begreifen.

Welche Rolle spielt dann der Medizinische Dienst?

Ich kann mir vorstellen, dass der Medizinische Dienst seine Begleitung ausbaut im Sinne einer individuellen Bedarfsprüfung und subjektorientierten Qualitätssicherung. Er hat den Kontakt zum Pflegebedürftigen und den Angehörigen. Er weiß viel über die Lebenssituation, über Wünsche und Zufriedenheit, kann gezielt konkrete Empfehlungen geben. Aber dieses Wissen wird derzeit nicht systematisch genutzt. Verabschieden muss man sich auch von der Vorstellung, dass man sich das schönste Heim aussuchen kann. Denn bei einem guten Leben angesichts existenzieller Pflege ist das wichtigste Auswahlkriterium immer noch die Nähe der Angehörigen. Die subjektive Lebensqualität hängt davon ab, ob man sich weiterhin zugehörig fühlt. Und fachliche Pflege muss überall gewährleistet sein.

Noch ein Wort zur Finanzierung der Pflege. Der Beitragssatz wurde um 0,3 Beitragssatzpunkte angehoben. Reicht das, um die Pflege zukunftssicher zu gestalten?

Wenn man sagt, die Pflegeversicherung soll einen nennenswerten Beitrag leisten zur Abdeckung des Pflegerisikos, wird man noch viel kräftiger in die Tasche greifen müssen. Und ich glaube, die Menschen wären auch bereit, mehr zu zahlen. Letztlich müsste die Politik mutiger sein. Die dauerhafte Dynamisierung ist ausgeblieben und sollte nachgeholt werden. Es müsste gelingen, die Pflegepolitik auch als Familien- und Frauenpolitik zu verstehen. Wir werden künftig nicht von den pflegebereiten Hausfrauen ausgehen können. Und der Aspekt der Geschlechtergerechtigkeit und der sozialen Ungleichheit muss auf die Agenda der Pflegepolitik.  

Wie bewerten Sie in dem Zusammenhang das Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf und die damit verbundene Familienpflegezeit, die eine Reduzierung der Arbeitszeit für einen Zeitraum von bis zu 24 Monaten vorsieht?

Es ist ein Schritt in die richtige Richtung. Aber dabei kann man nicht stehen bleiben, wenn man es ernst meint. Menschen würden sich vermutlich eher krankmelden, als die Prozeduren zu durchlaufen, um beispielsweise die zehntägige kurzzeitige Arbeitsverhinderung in Anspruch nehmen zu können.

Und die Familienpflegezeit, wer kann sie nutzen?

Insbesondere Personen, die im Niedriglohnsektor arbeiten, können es sich nicht leisten, ein Darlehen aufzunehmen oder die Stelle um zwei Drittel zu reduzieren. Mittelschichtsangehörige wiederum brauchen es nicht unbedingt, da sie die Pflege anders finanzieren können. Hier muss deutlich nachgebessert werden.  

Wo, hoffen Sie, steht die Pflege in 20 Jahren?

Ich hoffe sehr, dass die Menschen die Sorge- und Pflegeaufgabe nicht als Schicksal verstehen, sondern aktiv daran teilhaben und sich vor Ort mit dem Thema Pflege auseinandersetzen, sodass sich dort eine Kultur der Sorge und des sozialen Miteinanders als Standortfrage etabliert. Ich würde mir eine gesamtgesellschaftliche Debatte wünschen, aus der deutlich wird, dass auch die vulnerablen Seiten zum ganzen Leben gehören. Ich wünsche mir, dass wir die Sicht und die Rede vom „Pflegefall“ überwinden und jeweils den ganzen Menschen sehen lernen. Und ich hoffe, dass es bis dahin gelingt, die professionelle Pflege aus ihrem Dornröschenschlaf zu erwecken und in eine stärkere Eigenständigkeit zu führen. Es gibt Gründe, zuversichtlich zu sein, aber hierfür bedarf es konzertierter Aktionen, einer starken Zivilgesellschaft, die sich des Themas annimmt, und einer Politik, die sich in der Pflegepolitik qualifiziert. Da ist noch sehr viel Luft nach oben.

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