Psychiatrische Forschung

Gesundheit, Leistung und Teilhabe stärken

Psychische Störungen sind häufig auftretende, oftmals langwierig oder auch chronisch verlaufende Erkrankungen mit weitreichenden Auswirkungen auf alle Lebensbereiche der Erkrankten und ihrer Angehörigen. Sie sind eine der größten Herausforderungen für die Gesundheits- und Sozialsysteme, genauso wie auch für die psychiatrische Forschung. Diese stellt sich dieser Herausforderung durch eine verstärkte Integration biologischer, psychologischer und sozialer Aspekte mit dem Ziel einer individualisierten Diagnostik und nachhaltigen Therapie.

Die Krankenkassenstatistiken verzeichnen in den letzten 20 Jahren eine deutliche Zunahme von Fehltagen aufgrund psychischer Erkrankungen. Im gleichen Zeitraum hat sich der Anteil der Rentenzugänge wegen verminderter Erwerbsfähigkeit aufgrund psychischer Störungen vervielfacht. Erwerbsminderung aufgrund anderer Erkrankungen ging im gleichen Zeitraum dagegen mehrheitlich zurück. Die Diagnosegruppe der affektiven Störungen (Depression, Bipolare Störung, Dysthymie) trägt mittlerweile am stärksten zu Arbeitsunfähigkeit und Erwerbsminderung bei.

In der Vergangenheit wurden in der Psychiatrie jedoch auch wichtige Erfolge erzielt, die etwa zu einer verbesserten Verträglichkeit von Psychopharmaka und zu einer Verbreiterung der Therapieoptionen geführt haben. Trotz des Anstiegs psychiatrischer Diagnosen hat sich zudem die Suizidrate seit den frühen 80er Jahren in etwa halbiert, vermutlich aufgrund der genannten Fortschritte, wenn auch der Nachweis eines Kausalbezugs schwierig ist. Die Ausgangslage bleibt jedoch nach wie vor eine große Herausforderung.

Optimierung von Diagnostik und Therapie

Vordringliche Aufgabe der psychiatrischen Forschung ist die Verbesserung von Diagnostik und Therapie. Hierzu ist eine noch stärkere Einbindung aktueller Erkenntnisse aus Forschung und Klinik nötig. So zeigt die klinische Forschung, dass psychisch Kranke nahezu immer auch unter kognitiven Beeinträchtigungen leiden, was jedoch in Diagnostik und Therapie zu wenig Berücksichtigung findet. Diese Beeinträchtigungen dauern oftmals noch an, wenn sich die emotionale und Verhaltenssymptomatik bereits gebessert hat. Ihnen gilt ein wichtiges Augenmerk der psychiatrischen Therapieforschung, etwa in Form der Entwicklung von diagnosespezifischen Trainings- und Rehabilitationsprogrammen.

Weitere Beispiele für die anwendungsorientierte Forschung sind die Einbindung neurophysiologischer Methoden wie etwa der funktionellen Bildgebung in die Diagnostik oder von Bio- und Neurofeedback in die Therapie psychischer Störungen. Auch die genetische Forschung liefert wichtige diagnose- und therapierelevante Erkenntnisse. So ist die Durchlässigkeit der Blut-Gehirn-Schranke für viele Psychopharmaka genetisch mitbestimmt, etwa durch Variationen im sogenannten ABCB1-Gen. Die Kenntnis des individuellen Genotyps kann daher die Identifikation der bestmöglichen Medikation und die optimale Dosisfindung unterstützen.

Soziale Interaktionsstörungen als transdiagnostischer Ansatz

Verschiedene psychische Erkrankungen können Einfluss auf die Fähigkeit haben, mit anderen Menschen erfolgreich in Kontakt zu treten. Umgekehrt können auch Schwierigkeiten im zwischenmenschlichen Kontakt psychische Erkrankungen begünstigen. Die zugrundeliegenden neurobiologischen Mechanismen wiederum von transdiagnostisch vorliegenden sozialen Beeinträchtigungen bei psychischen Erkrankungen sind nur unvollständig verstanden.

Weiterentwicklungsschritte im Bereich der „sozialen“ Neurowissenschaft erlauben zunehmend, dass die Mechanismen von sozialer Interaktion auf eine ökologisch valide Art und Weise in Echtzeit untersucht werden. Dies ist wichtig, weil soziale Schwierigkeiten bei psychischen Erkrankungen oft erst in der Interaktionssituation relevant werden. Diese Entwicklung macht es somit möglich, dass die sozialen Neurowissenschaften zur Erforschung der neurobiologischen Grundlagen psychischer Erkrankungen beitragen können. Außerdem bietet sich die Möglichkeit, dass dieser Ansatz zukünftig zur Gewichtung der Relevanz verschiedener Determinanten psychischer Erkrankung sowie zur Bewertung und Prädiktion von Therapieeffekten beitragen kann.

Konzept der Stressfolgeerkrankung

Chronischer und akuter Stress spielen bei Genese, Auslösung oder Aufrechterhaltung psychischer Störungen oftmals eine wichtige Rolle. Daraus leitet sich die Bezeichnung Stressfolgeerkrankungen ab, zu denen insbesondere posttraumatische Belastungsstörungen, Angsterkrankungen, Depression und Burnout zählen. Die Hauptmerkmale von Burnout sind Erschöpfung, Zynismus, Gefühl des beruflichen und privaten Versagens, der Ohnmacht, Hilflosigkeit und des Kontrollverlusts. Burnout gilt als Sonderform oder Vorstufe der (Stress-)Depression. Trotz großer symptomatischer Überlappung gibt es dennoch Unterschiede, die eine differential-therapeutische Herangehensweise erfordern. Hier kommt der Psychotherapie und den ihr zugrunde liegenden psychoneuroendokrinen und molekulargenetischen Mechanismen eine besondere Rolle zu. Diese sind Gegenstand des Forschungsansatzes der biologischen Neuropsychotherapie und rücken verstärkt in den Fokus der aktuellen Forschung zu Stressfolgeerkrankungen. Gemeinsames Merkmal dieser Erkrankungsgruppe ist eine gestörte Stressregulation. Die Wiederherstellung der Stressregulation und die Förderung der Widerstandsfähigkeit gegenüber Stress (Resilienz) sind daher wichtige Behandlungsziele. Konvergierende Ergebnisse der präklinischen und klinischen Forschung weisen hierfür beispielsweise dem Protein FKBP5 eine besondere Bedeutung zu, das zur Entwicklung von Stressregulationsstörungen entscheidend beizutragen scheint. Ein vielversprechender Ansatz für die Behandlung von Stressfolgeerkrankungen ist daher die direkte medikamentöse Beeinflussung der FKBP5-Aktivität. Erste prototypische Medikamente sind am Max-Planck-Institut für Psychiatrie gegenwärtig in Entwicklung.

Leistungsfähigkeit, Resilienz und soziale Teilhabe

Der Erfolg der psychiatrischen Behandlung lässt sich auf unterschiedliche Weise abbilden. Lange hat man sich mit dem Nachweis einer relativen Symptomverbesserung von mindestens 50 Prozent zufrieden gegeben (Response), um eine Behandlung als erfolgreich zu deklarieren. In den letzten Jahren wurde dies durch den Remissionsansatz abgelöst, der für eine erfolgreiche Therapie das Abklingen der Symptomatik unter eine bestimmte Schwelle fordert. Auch das reicht nicht aus, um dem Ziel einer nachhaltigen Wiederherstellung psychischer Gesundheit gerecht zu werden. Leitlinien der individuellen Behandlung sollten neben der Beschwerdefreiheit stets auch die umfassende Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit, der Resilienz und der sozialen Teilhabe sein. Dies ist eine Herausforderung, der sich die psychiatrische Forschung stellt. Aufseiten der Kosten- und Entscheidungsträger ist hierfür jedoch mehr Mut erforderlich, Rahmenbedingungen zu schaffen, die einer nachhaltigen Behandlung mit der Perspektive einer mittel- und langfristigen Kostendämpfung Vorrang einräumen.

Weitere Artikel aus ersatzkasse magazin. 3./4.2016