In Deutschland sind etwa 2.300 Ärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie tätig sowie rund 10.000 Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten (KJP), die im Grundberuf Sozialpädagogen oder – seltener – Psychologen sind. Zwar gibt es bei den Niedergelassenen große Unterschiede in der regionalen Verteilung. Doch dank eines breiten ambulanten, teilstationären und stationären Versorgungsangebots ist Deutschland unter dem Strich gut aufgestellt.
Psychische Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen sind keine Seltenheit. Sie liegen nach der 2. Welle der „Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland“ (KiGGS) des Robert Koch-Instituts (RKI) seit Jahren gleichbleibend bei rund 20 Prozent. Zu denken gibt, dass die Behandlungsquoten solcher Auffälligkeiten – sofern sich nach Diagnostik eine behandlungsbedürftige Störung herausstellt – eher niedrig sind: Die „Befragung zum seelischen Wohlbefinden und Verhalten“ (BELLA) – das Modul zur psychischen Gesundheit und Lebensqualität der KiGGS – untersuchte 1.255 Kinder und Jugendliche von sieben bis 17 Jahren. Sie zeigte 2,9 Prozent persistierende psychiatrische Störungen (zu drei bis vier Messzeitpunkten). Davon wurden nur 63,9 Prozent beraten oder behandelt – dabei nicht einmal unbedingt spezifisch, denn Schul- oder Erziehungsberatungsstellen wurden hier mitgezählt. Nach einer neuseeländischen Langzeitstudie beginnt die Hälfte aller seelischen Störungen von Erwachsenen (im Alter von 26 Jahren) im Kindesalter, d. h. vor dem Alter von 15 Jahren, und 74 Prozent vor dem Alter von 18 Jahren. Das macht es so wichtig, kinderpsychiatrische Störungen rechtzeitig zu erkennen und zu behandeln.
Ein Grund für die niedrige Inanspruchnahme des medizinischen und psychotherapeutischen Systems könnte darin liegen, dass das Risiko kinderpsychiatrischer Störungen für Kinder aus Familien mit niedrigem Sozialstatus drei- bis viermal höher ist. Das kann allerdings nur ein Faktor sein. Ein weiterer Faktor ist die je nach Region mangelnde Erreichbarkeit der Ärzte und Therapeuten.
Heterogene Verteilung der Niederlassungen
Denn leider gab es im ambulanten Sektor wegen der geringen Niederlassungszahlen bis vor zwei Jahren noch keine Bedarfsplanung. So hat sich unmerklich eine Verteilung gemäß des „inverse care law“ eingestellt – die meisten Psychiater und auch KJP sind dort angesiedelt, wo es die Kinder und Jugendlichen anhand ihrer Schichtmerkmale am wenigsten nötig haben. Bundesweite Spitzenreiter sind seit jeher Freiburg und Heidelberg.
Dabei behandeln die auf Kinder und Jugendliche spezialisierten Psychotherapeuten, die in der Zahl etwa fünfmal so viele sind wie die aktuell 917 in Deutschland niedergelassenen Psychiater, sehr viel weniger Patienten als diese. Das liegt daran, dass Psychotherapien lange dauern, und dass die Psychotherapeuten im Gegensatz zu den Psychiatern nicht im Team arbeiten können.
Der große Vorteil niedergelassener Kinder- und Jugendpsychiater ist nämlich – anders als bei allen anderen Fachgruppen –, dass etwas mehr als die Hälfte von ihnen sozialpsychiatrische Praxen führen, in denen sie ein Team aus Psychologen, Pädagogen, Heilpädagogen, Sozialpädagogen beschäftigen. Wohnt man in der Nähe einer solchen Praxis, ist eine gute Versorgung und Vernetzung mit den Schulen, Kindergärten, dem örtlichen Jugendamt sicher neben dem Fakt, dass das Praxisteam alle erforderlichen Therapieverfahren vom Spielen, Fördern, Üben, Gespräch, Gruppen und Elternarbeit bis zu Medikamenten und Arbeit mit dem sozialen Umfeld anbieten kann. Sprich: Ein Praxisteam kann ebenso effektiv wie eine Stations- oder Tagesklinik-Einheit arbeiten. Dafür ist die Pauschale, mit der diese Arbeit finanziert wird, derzeit ein guter Deal.
Guter Zugang zur Krankenhausversorgung
Neben den niedergelassenen Behandlern gibt es an den voll- und teilstationären Einheiten Institutsambulanzen. Für Kinder und Jugendliche sind – wegen der geringen Versorgungsdichte – die Schwellen, dort behandelt zu werden, einfacher zu überwinden, als für Erwachsene definiert wurde.
Für schwerst psychisch kranke Kinder gibt es, im Vergleich zu Erwachsenen, dreimal weniger Fachabteilungen und Kliniken. Die Versorgungsgebiete sind also durchschnittlich dreimal so groß und die Wege deutlich weiter. In Zahlen sind es (Stand Ende 2014) 143 Fachabteilungen für Kinder und Jugendliche in Deutschland mit durchschnittlich 40 Betten. Allerdings schwankt die Verteilung zwischen den Bundesländern. Kinder- und jugendpsychiatrische vollstationäre Behandlung ist teuer und dauert im Durchschnitt länger als bei Erwachsenen, weil jeweils das gesamte Familiensystem einzubeziehen ist und Lernprozesse bei Kindern ihre Zeit brauchen. Denn schließlich ist Psychotherapie das Hauptbehandlungsverfahren. Medikamente werden bei Kindern deutlich seltener als im Erwachsenenbereich eingesetzt. Sie zeichnen sich oft durch eine nicht nachweisbare Wirksamkeit aus oder dadurch, dass sie für die jüngeren Altersgruppen gar nicht zugelassen sind.
In den letzten Jahrzehnten sind viele teilstationäre Plätze hinzugekommen, die oft vom Hauptstandort etwas entfernt betrieben werden. Kinderpsychiatrische Tageskliniken können all den Kindern helfen, die den täglichen Wechsel zwischen Klinik und Zuhause trotz der Störung bewältigen können und deren Eltern (noch) mit der Störung zurechtkommen. Da Tageskliniken kleiner sind als die stationären Einheiten und da sie am Wochenende schließen, laufen für die Kostenträger deutlich weniger Berechnungstage auf – sie betrugen 2014 nur 38 Prozent der vollstationären Tage und kosten auch nur etwa drei Viertel des vollstationären Satzes. Einige gute Erfahrungen bestehen mit störungsspezifischen Tageskliniken. Dazu zählen eine Tagesklinik für Intelligenzgeminderte in Stuttgart und diverse Tageskliniken für Essgestörte.
Durch die Heterogenität der Versorgung haben sich diverse innovative Projekte entwickelt: das stationsersetzende Hometreatment, das jetzt von der Bundesregierung und den Landesregierungen als „Umbau statt Ausbau“ propagiert wird; aufsuchende Konsiliardienste in der Jugendhilfe; Krisenvereinbarungen oder spezielle Schwerpunktbildungen z. B. für suchtkranke Jugendliche. Diese müssen nach wie vor überregional versorgt werden. Das erleichtert allerdings durch räumlichen Abstand von Szene und Dealern auch einen Neubeginn.
Dennoch ist Deutschland, trotz aller regionalen Unterschiede und Mängel, in Europa hinsichtlich der Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie eher vorbildlich aufgestellt. Eine gute Nachricht, denn angesichts der soziodemografischen Lage dürfte es ganz besonders geboten sein, sich um die psychische Gesundheit jedes einzelnen Heranwachsenden zu bemühen. Und die Effekte der psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlung sind groß, das zeigt sich in den einschlägigen Studien immer wieder.