Interview

„Von einer Stärkung der Selbstverwaltung kann keine Rede sein“

Uwe Klemens, Verbandsvorsitzender des vdek

Uwe Klemens, Verbandsvorsitzender des vdek

Die Politik hat ein GKV-Selbstverwaltungsstärkungsgesetz auf den Weg gebracht, mit dem sie eigener Aussage zufolge dafür sorgen will, dass die Selbstverwaltung im Gesundheitswesen künftig noch besser ihrer großen Verantwortung für eine gute Patientenversorgung gerecht werden kann. Bei der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) stößt das Gesetz auf Kritik. Über die Bedeutung der Selbstverwaltung, die anstehende Sozialwahl 2017 und die Erwartungen an die Politik spricht Uwe Klemens im Interview mit ersatzkasse magazin. Er ist seit dem 9. Dezember 2016 neuer Vorsitzender des Verbandes der Ersatzkassen e. V. (vdek) und engagiert sich bereits seit über 20 Jahren in der Selbstverwaltung der GKV.

Herr Klemens, was treibt Sie an, sich als Selbstverwalter zu engagieren?

Man kann in der Sozialversicherung als Selbstverwalter Einfluss auf wichtige  Lebenssituationen von Versicherten und für Versicherte nehmen. In den Verwaltungsräten der Krankenkassen bestimmen die Vertreter der Selbstverwalter beispielsweise mit über Satzungsleistungen und die Haushaltspolitik der jeweiligen Krankenkasse, und sie treten im Widerspruchsausschuss direkt in Kontakt mit den Versicherten. Im vdek oder im GKV-Spitzenverband nehmen wir noch stärker Einfluss auf die politischen Prozesse, zum Beispiel was die Weiterentwicklung der GKV-Finanzen oder die Leistungsgestaltung anbelangt. Für all das muss man zwar auch viel Gremienarbeit in Kauf nehmen, aber im Kern geht es darum, zu helfen und die gesundheitliche Versorgung im Sinne der Versicherten mitzugestalten.  

Wo sehen Sie Ihre Verantwortung in Ihrer neuen Funktion als vdek-Verbandsvorsitzender?

In meiner neuen Rolle will ich mich bemühen, dass die Ersatzkassenfamilie eigene Akzente im Wettbewerb der Kassen setzt und die gesundheitliche Versorgung der Versicherten innovativ weiterentwickelt. Ein gutes Beispiel ist hier der Innovationsfonds. Hier stellen die Ersatzkassen gerade ein gemeinsames  Projekt zum Thema „Einsatz von Antibiotika“ mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung auf die Beine. Als Marktführer in der GKV sind unsere Einflussmöglichkeiten da entsprechend hoch, diese Chance müssen wir gemeinsam wahrnehmen. Mein Anliegen ist es deshalb auch, dass die Ersatzkassengemeinschaft noch näher zusammenrückt. Es gibt viele gemeinsame inhaltliche Ansätze, zum Beispiel die Frage nach der Verbesserung der Wettbewerbsposition, wo es uns gelungen ist, eine gemeinsame Positionierung zur Reform des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs – Morbi-RSA – zu erarbeiten. Zugleich möchte ich mich in meiner Doppelfunktion als Vorsitzender des Verwaltungsrates des GKV-Spitzenverbandes für die Interessen aller gesetzlichen Krankenkassen stark machen. Es gilt, als GKV insgesamt Einfluss auf gesundheitspolitische Prozesse und Entscheidungen zu nehmen.

Wie schaffen Sie in Ihrer Doppelfunktion den Ausgleich zwischen wettbewerblichen und gemeinsamen Interessen der GKV?

Zunächst ist es wichtig, dass sich die gesetzlichen Krankenkassen als Partner und vereinte Kraft gegenüber der Politik verstehen. Nehmen wir noch einmal das Beispiel Risikostrukturausgleich: Natürlich ist diese Debatte für die Ersatzkassen von hoher Wichtigkeit, weil die Gelder aus dem Gesundheitsfonds nicht fair zwischen den Krankenkassen verteilt werden, und zwar zulasten der Ersatzkassen. Diese Auseinandersetzung um eine Neuausrichtung und ausgewogene Gestaltung des Risikostrukturausgleichs müsste aber gleichzeitig auch für alle Krankenkassen relevant sein, denn es muss im Interesse aller liegen, dass die Rahmenbedingungen für die wettbewerbliche Orientierung für die Kassen fair sind. Nur so können wir auch kassenartenübergreifend als starke Kraft für gemeinsame Interessen gegenüber der Politik auftreten. Denn was wir in der Vergangenheit leider immer wieder beobachten mussten, ist, dass die Politik zunehmend in die Kassen der Krankenkassen greift. Stichwort Präventionsgesetz: Hier werden Beitragsgelder genutzt für eine Quersubventionierung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, einer nachgeordneten Behörde des Bundesgesundheitsministeriums. Die Politik entlastet sich finanziell immer mehr auf Kosten der GKV. Dem müssen sich die Krankenkassen vereint entgegenstellen.  

An einem Strang haben die Krankenkassen beim GKV-Selbstverwaltungsstärkungsgesetz gezogen, das Ende Januar verabschiedet wurde. Die GKV forderte eine grundlegende Überarbeitung  – hält der Name nicht, was er verspricht?

Leider nein. Es ist ein Schwächungsgesetz. Anders als der Name vermuten lässt, wird in die Rechte der Selbstverwaltung eingegriffen und damit werden auch die Gestaltungsmöglichkeiten der Selbstverwaltung eingeschränkt. Der von der Politik gewählte Ansatz, die Selbstverwaltungsrechte durch Kontroll- und Weisungsrechte der Aufsicht einzuschränken, ist falsch. Auf den letzten Metern konnten wir zwar weitere massive Eingriffe in das Selbstverwaltungshandeln verhindern und Einschränkungen der Selbstverwaltungsautonomie für das Handeln des Verwaltungsrates entschärfen, was auch ein großer Erfolg für die GKV ist. Aber damit es tatsächlich zu einer Stärkung der Selbstverwaltung kommt, braucht es in der kommenden Legislaturperiode einen erneuten Anlauf des Gesetzgebers für eine Reform, die diesen Namen auch verdient.

Dabei hat sich die aktuelle Regierung eine Stärkung der Selbstverwaltung auf die Fahnen geschrieben.

Davon kann heute leider keine Rede sein. So wurde die Selbstverwaltung nicht nur durch das GKV-Selbstverwaltungsstärkungsgesetz geschwächt, sondern auch in anderen Bereichen. De facto hat die Politik die Rechte und Entscheidungsbefugnisse der Selbstverwaltung in den vergangenen Jahren schrittweise geschwächt und die staatliche Aufsicht über die Krankenkassen ausgebaut. Mit der gesetzlichen Festlegung des allgemeinen Beitragssatzes beispielsweise werden die Gestaltungsspielräume der Selbstverwaltung massiv beschnitten.  

Inwiefern?

Früher haben die Verwaltungsräte der Krankenkassen komplett über die Höhe des Beitragssatzes entschieden, heute macht es zu einem großen Teil der Staat. Wir als Selbstverwaltung einer Krankenkasse können dagegen nur über den Zusatzbeitragssatz entscheiden, den allgemeinen Beitragssatz legt das Bundesgesundheitsministerium jedes Jahr für alle Krankenkassen fest. Für die Selbstverwaltung ist es aber keine wirkliche Entscheidung, darüber zu sprechen, ob der Zusatzbeitragssatz, den ja nur die Versicherten zu tragen haben, abgesenkt, erhöht oder gleich bleibt. Eigentlich müsste es so sein, dass der Verwaltungsrat entscheidet, mit welchem Finanzvolumen sich die entsprechende Kasse für ihre Versicherten insgesamt ausstatten möchte, was dann einen Beitrag in einer bestimmten Höhe erfordert. Doch das findet nicht mehr statt. Der allgemeine Beitragssatz von 14,6 Prozent ist definiert, und darauf aufbauend entscheidet die Krankenkasse im Grunde nur noch, wie viel sie den Versicherten zumuten kann oder muss.

Könnte sich das in der nächsten Legislaturperiode ändern?  

Durchaus. Fakt ist, dass die Beiträge für die GKV immer weiter steigen. Zugleich wächst auch die Zahl der Arbeitgeber, die erkennen, dass sie es ihren Beschäftigten nicht mehr zumuten können, die Last des gesundheitlichen Fortschritts alleine über die Zusatzbeiträge zu finanzieren. Deswegen glaube ich, dass sich in den nächsten Jahren an der Struktur und Gestaltung der Beiträge zur GKV etwas ändern wird, und zwar nicht weiter in eine Richtung, die nur die Versicherten belastet, sondern eher wieder zurück zur paritätisch finanzierten Beitragserhebung. Das muss meines Erachtens auch damit einhergehen, dass die Selbstverwaltung wieder mehr Entscheidungsbefugnis bei der Festlegung der Beitragssätze bekommt.

Das GKV-Selbstverwaltungsstärkungsgesetz betrifft in erster Linie die Spitzenorganisationen. Befürchten Sie, dass die Regelungen auf die Ebene der einzelnen Krankenkassen übergehen?

Das kann passieren. Und wenn dieses Gesetz auf jede einzelne Kasse ausgeweitet wird, und wenn auch andere Organisationen der GKV davon betroffen sind, dann fällt mit diesem Gesetz die Sozialversicherung immer weiter auseinander. Das ist eine Entwicklung, die dem Urgedanken der Sozialversicherung bzw. dem, was Sozialversicherung einst zu bedeuten hatte, völlig widerspricht.

Kommen wir zum Thema Sozialwahl, die ja in diesem Jahr ansteht. Auch hier hat sich die Koalition eine Reform, wie etwa Stärkung der Urwahl und Einführung der Online-Wahl, auf die Fahnen geschrieben. Passiert ist aber nichts.  

Nein, passiert ist leider nichts, die große Koalition konnte sich auf wesentliche Reformschritte nicht verständigen. Das bedauern natürlich vor allem die Ersatzkassen, die traditionell Urwahlen durchführen, außerordentlich, denn gerade sie hätten sich ein politisches Signal zur Modernisierung der Wahlen gewünscht. Nehmen sie die Online-Wahl. Die Versicherten können ihre Stimme derzeit nur per Briefwahl abgeben. Und ich denke, diese Möglichkeit des Wählens muss gerade in der heutigen Zeit mit Blick auf die jungen Menschen auch elektronisch geöffnet werden. Mit der Online-Wahl könnten wir noch andere Wählergruppen Schritt für Schritt erreichen. Gescheitert ist die Online-Wahl an der Politik, die nicht den nötigen Mut aufgebracht hat und sich von den Bedenkenträgern beeindrucken ließ. Die Sicherheitsbedenken hätten jedoch ausgeräumt werden können, das war nicht das zentrale Argument. Eine Chance zur Stärkung der Urwahl ist damit vertan worden. Zudem wäre die Online-Wahl bei der Sozialwahl für die Politik die Chance gewesen herauszufinden, ob es einen Weg gibt, künftig auch politische Wahlen online durchzuführen.

Es war auch von einer Einführung der Frauenquote die Rede.

Ich bin sicher, dass wenn wir in der nächsten Legislaturperiode über strukturelle Fragen bezüglich der Sozialwahl und Selbstverwaltung sprechen, dann wird es auch eine Verankerung der Frauenquote bzw. ein repräsentatives Verhältnis von Frauen und Männern in der Selbstverwaltung geben. Inwieweit diese dann zufriedenstellend ist, muss man sehen. Aber inhaltlich ist die Frauenquote zum Glück nicht mehr aufzuhalten, sie ist überfällig, genauso wie auch in anderen gesellschaftlichen Kontexten und Themenfeldern eine stärkere Beteiligung von Frauen zu Recht gefordert wird.

Über 51 Millionen Versicherte sind aufgerufen, ihre Vertreter der Selbstverwaltung in die Parlamente der Ersatzkassen und der Deutschen Rentenversicherung Bund zu wählen. Was geben Sie ihnen mit auf den Weg, wieso sollten sie bei der Sozialwahl 2017 wählen gehen?

Die Versicherten haben die Möglichkeit mitzuentscheiden, wer in den Verwaltungsräten ihrer Krankenkasse über bestimmte Leistungen der Krankenkassen mitentscheidet und wer darüber wacht, was mit ihren Beiträgen passiert. Auch nehmen wir Einfluss auf politische Entscheidungen im Sinne der Versicherten. Diese Einflussmöglichkeit sollte man sich nicht aus der Hand nehmen lassen. Man darf auch nicht vergessen, dass sich die Selbstverwaltung über Jahrzehnte bewährt hat. Nur wissen Versicherte teilweise noch zu wenig, was die Selbstverwaltung macht bzw. wie sie sich für die Versicherten einsetzt, hier wolle  und müssen wir noch transparenter werden. Wer etwas wissen will, der kann sich bei seiner Krankenkasse informieren. Und wir haben gute Internetportale entwickelt, die über die Selbstverwaltung und über die Sozialwahl informieren. Im Kontext der Sozialwahl 2017 gibt es wieder eine große Sozialwahlkampagne der Ersatzkassen und der Deutschen Rentenversicherung Bund. Demokratie heißt aber auch, sich selbst zu informieren und zu engagieren – und natürlich zu wählen. Dazu fordern wir die Versicherten auf. Je höher die Wahlbeteiligung, desto größer sind auch die Einflussmöglichkeiten der gewählten Vertreter in der Selbstverwaltung.

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