Gesundheitspolitik

GKV zukunftssicher gestalten

Die gesundheitspolitische Gesetzgebung in dieser Legislaturperiode ist sehr intensiv gewesen: GKV-Finanzstruktur- und Qualitätsweiterentwicklungsgesetz (GKV-FQWG), GKV-Versorgungsstärkungsgesetz (GKV-VSG),  Krankenhausstrukturgesetz (KHSG), Präventionsgesetz und Erstes und Zweites Pflegestärkungsgesetz (PSG I und II). Damit ist der Koalitionsvertrag umfänglich abgearbeitet worden. Ob die Reformen für die Versicherten in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) eine Verbesserung der  Versorgung bewirken, sollte zu Beginn der nächsten Legislaturperiode  bilanziert werden. Sicher ist allerdings heute schon, dass die Reformen viel  Geld kosten werden. Der Verband der Ersatzkassen e. V. (vdek) fordert  Maßnahmen zur Stabilisierung der Beiträge und zur Reform des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs (Morbi-RSA).

Für 2016 und 2017 ist durch das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) ein GKV-weit durchschnittlicher Zusatzbeitrag von 1,1 Prozent festgesetzt worden. Diese Entwicklung wird nicht von Dauer sein: Der durchschnittliche Zusatzbeitragssatz 2017 ist durch die Entnahme von 1,5 Milliarden Euro aus der Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds politisch gewollt im Wahljahr stabil gehalten worden. Die Gesamtausgaben der GKV werden die Gesamteinnahmen des Fonds zunehmend übertreffen.

Sicherung der Finanzierungsgrundlagen

Die Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben geht also weiter auseinander. Die Ausgabensteigerungen sind nicht zuletzt auch durch die in dieser Legislaturperiode verabschiedeten finanzwirksamen und ausgabensteigernden Reformen wesentlich mit beeinflusst. Von 2017 bis 2020 werden die Zusatzbeitragssätze voraussichtlich um jährlich mindestens 0,2 bis 0,3 Prozentpunkte auf 1,8 Prozent im Jahr steigen. Damit die einseitige Belastung der Mitglieder nicht zunimmt, müssen die Finanzierungsgrundlagen verbessert werden. Dazu sind folgende Maßnahmen notwendig:

1. Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds abschmelzen

Nach der Sonderentnahme von 1,5 Milliarden Euro enthält der Gesundheitsfonds Ende 2017 noch immer Rücklagen von über sieben Milliarden Euro. Dieses Geld steht den Kassen nicht für die Versorgung der Versicherten zur Verfügung. Um die künftig zunehmenden Finanzbelastungen für die Mitglieder zu reduzieren, muss die Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds 2018 noch einmal um 1,5 Milliarden Euro abgeschmolzen werden. Damit sind die gesetzlich festgelegte Mindestreserve von 25 Prozent einer durchschnittlichen Monatsausgabe und die für 2019 geplanten Mittel für den Innovations- und Krankenhausstrukturfonds gewährleistet. Mit dem Abschmelzen der Rücklage ist auch ein Abschmelzen der Strafzinsen verbunden; für 2016 müssten voraussichtlich 5,1 Millionen Euro an Negativzinsen gezahlt werden.

2. Einseitige Belastung der Versicherten reduzieren

Angesichts der zunehmenden Belastungen der Versicherten durch Zusatzbeitragssätze muss über eine Anpassung bei dem von den Versicherten und Arbeitgebern gemeinsam finanzierten allgemeinen Beitragssatz nachgedacht werden. Um die absehbare Mehrbelastung der Versicherten zu dämpfen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken, sollte die paritätische Finanzierung der GKV durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber weitgehend wiederhergestellt werden. Die Arbeitgeber müssen ihrer Verantwortung für die Ausgabenentwicklung in der GKV wieder stärker gerecht werden. Damit einhergehen würde auch, dass die Selbstverwaltung mehr Entscheidungsbefugnisse bei der Festlegung der Beitragssätze bekommt (Beitragssatzautonomie).

3. Kompensation der Ausgaben für ALG II-Empfänger

Seit Jahren wird den Krankenkassen für ALG II-Bezieher von der Bundesagentur für Arbeit (BA) ein Beitrag von 96 Euro zugewiesen, der deutlich unter den durchschnittlichen Leistungsausgaben liegt. Das jährliche Defizit von mehreren Milliarden Euro wird heute alleine von Beitragszahlern der GKV aufgefangen. Diese Deckungslücke muss durch eine Erhöhung der Beitragszahlungen der BA oder, da es sich um eine systemfremde Aufgabe handelt, durch einen erhöhten Steuerzuschuss geschlossen werden.  

Faire Wettbewerbsbedingungen schaffen

Der Morbi-RSA muss weiterentwickelt und  reformiert werden, damit er als technisches Fundament für faire Wettbewerbsbedingungen sorgen kann. Eine Weiterentwicklung des Morbi-RSA mit deutlicher Abschwächung der Wettbewerbsverzerrungen und der Manipulationsanfälligkeit sollte folgende Reformmaßnahmen beinhalten:

1. Neuregelung Auslandsversicherte  

Für Versicherte mit Wohnsitz im Ausland gab es jahrelang zu viel Geld aus dem Fonds, weil die tatsächlichen Kosten der Versorgung im Ausland meist geringer ausfallen als die auf inländischen Maßstäben errechneten Zuweisungen. Zukünftig sollten die Zuweisungen im Morbi-RSA auf der Grundlage der jährlichen landesspezifischen Rechnungssummen vorgenommen werden.  

2. Einführung einer Versorgungsstrukturkomponente

Die Ausgaben für die Versicherten für die Versorgung in städtischen Verdichtungsräumen sind deutlich höher als auf dem Land. Krankenkassen mit begrenzter regionaler Ausstrahlung an Versicherten in ländlichen Gebieten sind gegenüber Krankenkassen mit vielen Versicherten in den städtischen Ballungsgebieten bevorteilt. Da die Krankenkassen die Versorgungsstrukturen in den Regionen nicht beeinflussen können, sollten über eine Versorgungsstrukturkomponente die strukturbedingten Ausgabenunterschiede ausgeglichen werden.  

3. Einführung eines Hochrisikopools

Jede Krankenkasse hat Versicherte, bei denen für bestimmte Krankheiten extrem hohe Kosten entstehen. Mit einem Hochrisikopool könnten daraus entstehende wettbewerbliche Nachteile abgefedert werden.

4. Änderung der Berechnungsmethode bei der Krankheitsauswahl

Der Morbi-RSA hatte bei seiner Einführung das erklärte Ziel, jene Krankheiten besonders zu berücksichtigen, die eine besondere Bedeutung für das Versorgungsgeschehen bzw. wesentlichen Einfluss auf das Kostengeschehen der Krankenkassen haben. Dies trifft vor allem auf die Krankheiten zu, bei denen jeder einzelne Behandlungsfall besonders teuer ist. In einem von Solidarität getragenen System sind es diese Fälle, die eine besondere Bedeutung für das Versorgungsgeschehen haben. Durch die Umstellung der Prävalenzgewichtung zugunsten seltener Krankheiten mit individuell sehr hohen Kosten würde diesem Aspekt Rechnung getragen. Mit dieser Umstellung könnte zudem gewährleistet werden, dass der Morbi-RSA weniger manipulationsanfällig wird.

5. Streichung der Zuschläge für Erwerbs-minderungsrentner (EMG-Zuschläge) und der DMP-Programmkostenpauschale

Mit Einführung des Morbi-RSA sind die systemfremden EMG-Zuschläge entbehrlich. Die krankheitsbedingte Ausgabenbelastung wird heute über die Morbidität erfasst. Die Zuschläge für die DMP-Programmkostenpauschale sind heute nicht mehr notwendig und im Übrigen in einem versorgungsneutral ausgestalteten Morbi-RSA systemfremd. Um gleiche Wettbewerbschancen für alle Krankenkassen sicherzustellen, müssen neben einer Reform des Morbi-RSA auch die Aufsichtsbehörden von Bund und Ländern zwingend geltende Prüfkriterien einheitlich anwenden. Die aktuelle politische Diskussion hat dazu geführt, dass das BMG dem Wissenschaftlichen Beirat zur Weiterentwicklung des RSA, ergänzt durch zwei weitere Wissenschaftler, den Auftrag für ein Sondergutachten erteilt. Bis zum 30. September 2017 soll das Gremium, das beim Bundesversicherungsamt (BVA) angesiedelt ist, die Folgen der relevanten Reformvorschläge für den Morbi-RSA empirisch einschätzen und die Auswertungen für  den Wettbewerb der Krankenkassen bewerten. Die Themenliste des Sondergutachtens muss unbedingt auch die Einführung einer Versorgungsstrukturkomponente beinhalten. Dem hat der Gesetzgeber jetzt insofern Rechnung getragen und eine Erhebungspflicht für entsprechende Daten zum 1. Juli 2017 vorgesehen. Damit liegen Daten für das Berichtsjahr 2016 rechtzeitig vor und können im Sondergutachten für die empirische Bewertung der vorliegenden Modelle genutzt werden. Zu Beginn der neuen Legislaturperiode würden dann Ergebnisse des Sondergutachtens vorliegen. Die Politik kann dann auf einer breiten Zahlenbasis die für eine Reform des RSA notwendigen Entscheidungen treffen.

Hochpreispolitik bei Arzneimitteln eindämmen

Trotz vielfältiger Gesetze zur Stärkung der Versorgung gibt es auch in den einzelnen Versorgungsbereichen noch Gestaltungsbedarf in dieser Legislatur. Ohne die bereits vorhandenen wirksamen Instrumente der Arzneimittelsteuerung, wie das Festbetragssystem oder die Rabattverträge, würden die Arzneimittelausgaben weitaus höher liegen. Gemeinsam mit den Herstellerabschlägen und dem Preismoratorium leisten sie einen entscheidenden Beitrag, um die Finanzierbarkeit einer qualitativ hochwertigen Versorgung sicherzustellen. Ergebnis einer Reform darf es also keineswegs sein, die funktionierenden Instrumentarien infrage zu stellen. Auf die politische Agenda gehört weiterhin das Thema Hochpreispolitik bei Arzneimitteln. Ursache hierfür ist, dass Pharma-Unternehmen ihre Produkte direkt nach der Zulassung zum selbstgesetzten Preis in den Markt bringen können. Gleichzeitig können alle niedergelassenen Ärzte diese Produkte ab Markteinführung zulasten der GKV nahezu uneingeschränkt verordnen. Daran wird auch eine Umsatzschwelle im dreistelligen Millionenbereich im ersten Jahr nach Zulassung nicht viel ändern. Notwendig ist es, dass der verhandelte Preis für Medikamente rückwirkend ab dem ersten Tag gelten muss (Wegfall des Schwellwertes).  

Kein Verbot des Versandhandels

Nicht zeitgemäß erscheint das geplante Verbot des Versandhandels mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln. Hier will der Bundesgesundheitsminister auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs, wonach die Deutsche Arzneimittelpreisverordnung für Versandapotheken aus dem EU-Ausland nicht bindend ist, reagieren. Ein Verbot des Versandhandels ist nicht zeitgemäß. Es sollte ein Modell entwickelt werden, in dem der Versandhandel für in- und ausländische Apotheken unter gleichen Lieferbedingungen stattfindet, der in der Arzneimittelpreisverordnung vereinbarte Apothekenverkaufspreis für Versandhandelsapotheken als Höchstpreis gilt, Krankenkassen auf dieser Basis mit Versandapotheken Rabattverträge vereinbaren und Rabatte allen Versicherten der Kasse zur Verfügung stellen.

Digitalisierung befördern

Unzählige „Digital-Health-Start-ups“ entstehen, große Technologieunternehmen drängen in den „Gesundheitsmarkt“. Ähnlich wie in Gesellschaft und Wirtschaft durchlebt das Gesundheitswesen derzeit die Transformation zu digitalen Prozessen. Um diese bestehen zu können, bedarf es einer Digitalisierungsstruktur, welche die Prozesse modernisiert, den beteiligten Akteuren neue Wege der Versorgung eröffnet und Kommunikation und Service unterstützt. Digitale Gesundheitsanforderungen dürfen nicht der Kommerzialisierung von Daten dienen. Eigentümer der personenbezogenen Daten müssen die Versicherten bleiben. Versicherte entscheiden eigenverantwortlich über den Gebrauch ihrer Daten. Die gesetzlichen Anforderungen des Datenschutzes müssen zu jeder Zeit gewahrt sein. Die bisher aufgezeigten Themen verdeutlichen, dass die Politik zeitnah gefordert ist, die Versorgung der Patienten stetig zu verbessern und das Gesundheitswesen finanzierbar zu gestalten.

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