Kommentar

Rigorose IGeL-Vermarktung

Welch ein Fortschritt: Der Patient im herkömmlichen Sinn wurde hinauskomplimentiert aus dem modernen Medizinbetrieb. Leidend, erduldend, allem hilflos ausgeliefert, wie es der Wortherkunft entspricht – so will ihn das System nicht mehr haben. Es hat ihn zum Kunden ernannt, zum mündigen und selbstbewussten Besteller von Dienstleistungen, autonom entscheidend, mit seinen Ärzten „auf Augenhöhe“. Mit der Realität hat dieses Bild leider nichts zu tun. Das Arzt-Patienten-Verhältnis ist paternalistisch und wird es bleiben. Wer krank ist oder auch nur Angst vor Erkrankung hat, befindet sich seinem potenziellen Helfer gegenüber schon emotional niemals auf Augenhöhe. Und er kann, wenn er nicht vom Fach ist, weder dessen Methoden noch die Beweggründe dafür beurteilen. Daran ändert auch das beste Patientenrechtegesetz nichts.

Portrait Rainer Woratschka

Offenbar glauben manche Mediziner, nichts zu verlieren zu haben.

Rainer Woratschka, Parlamentskorrespondent beim Tagesspiegel

Weshalb also diese Dauerbeschwörung des angeblich so mündigen Patienten? Um die Geschäftemacherei mit ihm zu erleichtern? Tatsächlich kassieren Mediziner mit Selbstzahlerleistungen mehr als eine Milliarde Euro im Jahr. Und bei der Vermarktung betätigen sich viele ungemein rigoros. Da werden Ängste geschürt und Kassenleistungen schlecht geredet. Fragwürdige Prozeduren werden ohne Bedenkzeit, Risikoerörterung und schriftliche Einwilligung zwischen Tür und Angel verkauft. Am Ende gibt es oft nicht mal eine Rechnung.

Wohlgemerkt: Der Arztberuf ist ein freier, die Angebotspalette darf erweitert werden, auch um Quacksalberei. Offenbar glauben manche Mediziner, nichts zu verlieren zu haben. Umso verdienstvoller, wenn andere ein Licht darauf werfen. 37 sogenannte IGeL-Leistungen haben die Kassen inzwischen bewertet. Das Ergebnis, nachzulesen im Internet: die meisten sind unnütz, manche sogar gefährlich. Wer seinen „Kunden“ wichtige Informationen vorenthält, sollte sich nicht erregen, wenn es andere tun. Die Bewertungen sind nicht von bösen Versicherern erdacht, sie beruhen auf seriösen Studien. Gut, dass es sie gibt. Sie machen die Patienten nicht mündig, aber vielleicht doch ein wenig kritischer im Umgang mit geschäftstüchtigen Halbgöttern in Weiß. Hoffentlich.

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