Interview mit Prof. Dr. Reinhard Burtscher

"Inklusion ist eine Querschnittsaufgabe"

Menschen mit Lernschwierigkeiten werden bis zu dreimal häufiger krank als Menschen ohne Behinderungen – oft mit schwerem Verlauf und längerer Krankheitsdauer. Wie kann diese besonders vulnerable Zielgruppe mit gesundheitsfördernden Angeboten erreicht werden? Prof. Dr. Reinhard Burtscher von der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin (KHSB) spricht im Interview mit ersatzkasse magazin. über Teilhabe und partizipative Gesundheitsforschung, den Stand der Inklusion in Deutschland und das Projekt GESUND!, in dem Menschen mit Lernschwierigkeiten zu Gesundheitsforschern ausgebildet wurden.

Prof. Dr. Reinhard Burtscher

Prof. Dr. Reinhard Burtscher

Herr Prof. Burtscher, Sie sind Heilpädagoge und haben Ihren Forschungsschwerpunkt auf die Teilhabeforschung von Menschen mit Behinderung gelegt. Wie sind Sie zu diesem Thema gekommen?

Während meines Studiums der Behindertenpädagogik und psychosozialen Arbeit an der Universität Innsbruck belegte ich einige Veranstaltungen bei Prof. Volker Schönwiese und war später auch Mitarbeiter an seinem Lehrstuhl. Er sitzt selbst im Rollstuhl. Dadurch bekam ich aus erster Hand mit, was Selbstbestimmung für ein Leben mit Behinderung bedeutet. Nach dem Studium habe ich hier in Berlin anfangs mit benachteiligten Jugendlichen im Bereich der Berufsorientierung und Qualifizierung gearbeitet. Später an der Hochschule entwickelten sich die aktuellen Themen wie etwa Erwachsenenbildung oder Teilhabeforschung.

Was sind die Ziele der Teilhabeforschung?

Sie beschäftigt sich vor allem mit der Frage, wie man Teilhabechancen für Menschen mit Behinderungen verbessern kann: im beruflichen Bereich, im Bildungs- und kulturellen Bereich oder auch politisch. Und natürlich im Bereich des Gesundheitswesens. Partizipative Forschung ist dabei ein Teilbereich der Teilhabeforschung. Die Personen, um die es geht, werden im Forschungsprozess einbezogen. Als Mit-Forschende arbeiten sie mit den akademischen Forschern zusammen. Ich habe viel Kontakt mit behinderten Menschen und beschäftige mich mit der Frage: Wie können wir gemeinsam ein Forschungsprojekt planen und Daten erheben, welche Fragestellungen sind bedeutsam, unter welcher Perspektive wollen wir die Daten analysieren, wie die Ergebnisse veröffentlichen? Es geht in der Partizipativen Forschung um eine maximale Mitbestimmung und Beteiligung von Betroffenen. Diese Arbeit ist manchmal unkonventionell. Zuletzt haben wir beispielsweise unsere Ergebnisse als Ausstellung präsentiert.

Im Projekt GESUND! haben Sie sich mit der Gesundheitsförderung von Menschen mit geistiger Behinderung befasst. Warum gerade dieses Thema?

In Deutschland leben etwa 300.000 Menschenmit sogenannter geistiger Behinderung. Davon leben etwa 190.000 Menschen in stationären Einrichtungen der Eingliederungshilfe. Im Teilhabebericht der Bundesregierung wurde untersucht: Wie viele Menschen schätzen ihren subjektiven Gesundheitszustand als weniger gut oder sogar schlecht ein? Von Menschen ohne Behinderung sagen das neun Prozent. Bei Menschen mit Behinderung sind es rund 50 Prozent. Dies zeigt den sehr deutlichen Bedarf für gesundheitsfördernde Angebote in dieser Zielgruppe. Darüber hinaus wissen wir auch: Menschen mit Behinderung sind häufiger, länger und schwerer krank.

Wie wurde das Projekt GESUND! auf den Weg gebracht?

2014 gab es eine Ausschreibung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung für
Forschungsverbünde aus dem Bereich Prävention und Gesundheitsförderung. Hier im Haus haben wir uns mit dem Forschungsverbund für gesunde Kommunen erfolgreich beworben mit der Fragestellung: Wie kann Gesundheitsförderung von Menschen mit Lernschwierigkeiten gemeinsam mit ihnen gestaltet werden? Wir erprobten mit der Gruppe den Ansatz der partizipativen Gesundheitsforschung.

Was ist dabei Ihre Definition von Menschen mit Lernschwierigkeiten?

Unsere Zielgruppe waren Menschen mit leichter bis mittelgradiger Intelligenzminderung, die voll erwerbsgemindert sind. Diese arbeiten in der Regel in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM). Im Sozialrecht wird hier von Menschen mit geistiger Behinderung gesprochen. Diese Bezeichnung vermeiden wir ganz bewusst. Denn es macht einen Unterschied, wenn Sie in der Werkstatt vor einer Gruppe Menschen stehen und sie ansprechen als geistig Behinderte oder eben als Menschen mit Lernschwierigkeiten. Die Akzeptanz und die Identifikation mit Letzterem sind viel größer, eine diskriminierende Ansprache wird zudem vermieden.

Wie haben Sie die Teilnehmer für das Projekt GESUND! gewonnen?

Bei der Partizipativen Gesundheitsforschung ist der Zugang zur Personengruppe, mit der ich arbeiten will, in der Tat das Wichtigste. Wir haben uns für den Settingansatz entschieden, das heißt wir sind dorthin gegangen, wo sich die Menschen mit Behinderung während des Tages aufhalten. So suchten wir eine Werkstatt für behinderte Menschen. Unsere Hochschule ist hier in Berlin-Lichtenberg, da war es naheliegend, zuerst auf kommunaler Ebene anzufragen. Mit den Lichtenberger Werkstätten gemeinnützige GmbH fanden wir einen sehr aufgeschlossenen Praxispartner, das Gesundheitsamt von Lichtenberg und der Paritätische als lokal verankerte Partner kamen noch hinzu. In der Werkstatt haben wir eine Ausschreibung gemacht: Wer möchte bei einem Projekt zum Thema Gesundheit mitmachen? Denn wir suchten Menschen, die ein allgemeines Interesse an diesem Thema hatten. Lese- und Schreibkompetenzen waren nicht erforderlich. So haben sich zwölf Beschäftigte aus der Werkstatt gefunden, die mit uns lernen und forschen wollten.

Was waren die Inhalte des Projekts?

Das Projekt war auf drei Jahre angelegt. Im ersten Jahr trafen wir uns neun Monate lang wöchentlich mit den Teilnehmern und erarbeiteten verschiedene Gesundheitsthemen. Dabei gab es keinen vorgefertigten Lehrplan, weil wir die Interessen der Teilnehmer einfließen lassen wollten. Eines dieser Themen war die Belastung durch Lärm. Also entwickelten wir in einer Projektphase am Ende des ersten Jahres gemeinsam einen standardisierten Fragebogen, und die Teilnehmer führten damit in ihren Abteilungen mit unserer Unterstützung Befragungen durch. Wir konnten herausfinden: Wenn sich Beschäftigte durch Lärm gestört fühlten, war dies nicht der Lärm von Maschinen, sondern Streitigkeiten und Schimpfereien, wie sie in jedem Unternehmen vorkommen. Also im Prinzip ging es um das soziale Miteinander. In ähnlicher Weise erforschten wir das Thema gesundes Essen in der Kantine. Im zweiten Jahr wechselten wir den Lernort. Wir schafften ein Angebot in Form eines Semesterhochschulkurses für Menschen mit Lernschwierigkeiten: Was kann Gesundheitsförderung für alle bedeuten? Was hält uns gesund, was macht uns krank? Dies wurde in einem Fotoprojekt erforscht. Beschäftigte aus der Werkstatt in einem Kurs an der Hochschule war etwas Besonderes und ziemlich einmalig in Deutschland. Im dritten Jahr besuchten wir mit den Teilnehmern mehrere Tagungen und Fachveranstaltungen. Sie präsentierten als Menschen mit Lernschwierigkeiten gemeinsam mit uns zentrale Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt.

Was nehmen Sie für sich selbst mit aus dem Projekt?

Wir haben bewiesen: Partizipative Gesundheitsforschung braucht einen guten Rahmen, aber sie funktioniert. Wichtig ist, differenziert mit den Teilnehmern zu arbeiten, also nicht alle in der Gruppe müssen alles machen, sondern jeder übernimmt eine andere wichtige Rolle. Andere Voraussetzungen für das Gelingen sind Zeit, Begleitung und Unterstützung. Das Spannende in einem solchen Projekt ist, dass alle Beteiligten lernen: die Teilnehmer genauso wie wir als akademische Forscher und die Praxispartner.

Wie lassen sich diese Erkenntnisse in andere Einrichtungen übertragen, um Maßnahmen zur Prävention und Gesundheitsförderung für Menschen mit Lernschwierigkeiten umzusetzen?

Wir haben die Forschungsergebnisse aus dem Projekt GESUND! in einer Broschüre aufgearbeitet. Die Broschüre ist sehr praxisorientiert und gibt zahlreiche Hinweise, wie man als pädagogischer Mitarbeiter, als qualifizierte Fachkraft einer Einrichtung vorgehen kann. Die Kleingruppenarbeit lässt sich gut in Werkstätten umsetzen. Ein wichtiger Punkt ist verständliche Sprache. Und gutes Lernmaterial, das auf unterschiedlichen Niveaus Zugänge schafft: einfacher Text, viele Bilder. Wir fotografierten auch viel und machten Kurzfilme von jedem Treffen, die wir dann beim nächsten Mal zeigten zum Erinnern, was letztes Mal gemacht worden ist. Das half auch der Identifikation, wenn die Teilnehmer sich in den Filmen selbst sahen.

Reichen diese Maßnahmen, um ein inklusives Angebot zu schaffen?

Natürlich ist das erst ein Anfang. Wenn wir deutschlandweit schauen, wo Kurse zur Prävention und Gesundheitsförderung angeboten werden – beispielsweise in der Volkshochschule, in Sportvereinen –, dann kommen behinderte Menschen dort nicht an. Das Ziel müsste doch sein, ein Angebot zu schaffen, das für alle zugänglich ist.

Wie müssten die Rahmenbedingungen des allgemeinen Präventionsangebots aussehen, um die Inklusion zu ermöglichen?

Zuerst ist zu überlegen, wie kommt die Information eines Präventionskurses zur behinderten Person. Dann braucht sie auch Unterstützung, um das Anmeldeformular auszufüllen und einen Antrag auf Kostenübernahme zu stellen. Dann auch die Frage, wie kommt sie ganz praktisch zu dem Kurs? Manche brauchen beispielsweise eine Wegbegleitung für die ersten Termine, andere können das wiederum selbstständig. Im Kurs selbst ist je nach Bedarf eine Begleitung wichtig, damit der Mensch mit Lernbehinderung in der Gruppe gut ankommt. Die Kursleitung braucht auch Wissen über Behindertenpädagogik, die durch einen Nachweis dokumentiert werden sollten. Das könnte ich mir wie eine Zusatzqualifikation in Form eines „Inklusionsscheins“ vorstellen.

Es ist ja oft schon schwierig genug, Menschen ohne Behinderung zur Teilnahme an solchen Kursen zu motivieren.

Ich bin überzeugt: Inklusion kann eine treibende Kraft sein, dass sich Angebote im Bereich Prävention und Gesundheitsförderung für alle verbessern. Denn viele der genannten Punkte betreffen ja auch andere Menschen, ich denke etwa an Ältere. Bei leichterem Zugang zu Informationen und guter Betreuung während des Kurses sinkt die Hürde, daran teilzunehmen. Man braucht auch nicht zwingend für die Begleitung einer Person mit Behinderung hohe Fachkompetenz. Man braucht vor allem Zeit, und wenn die Kurse für Begleitpersonen kostenfrei sind, könnte das auch über Ehrenamt oder Nachbarschaftshilfe abgedeckt werden. Ich kann mir auch vorstellen, dass eine gute Zusammenarbeit zwischen Krankenkassen und Eingliederungshilfe das unterstützen und beispielsweise die Zusatzqualifikation von Kursleitern über eine Mischkalkulation gut finanzieren könnte. Es würden ja auch alle Teilnehmenden profitieren.

2015 wurde mit dem Präventionsgesetz unter anderem die Prävention in Lebenswelten gestärkt. Ein wichtiger Schritt für die Inklusion?

Ich freue mich, dass es auf den Weg gebracht wurde, und denke, es ist eine gute Basis für die Gesundheitsförderung aller Menschen mit und ohne Behinderung. Aus meiner Sicht ist noch zu wenig im Bewusstsein, was das Gesetz für die Behindertenhilfe ermöglichen kann. Deswegen geht es jetzt darum, in Modellprojekten mehr Praxiserfahrung zu sammeln. Wenn wir die Menschen mit Behinderung im Blick haben, wäre es wichtig, im GKV-Leitfaden stärker zu betonen, dass die Förderung von sozialer Teilhabe ein zentrales Element ist für die Gesundheitsförderung. Ein anderer Aspekt, der mir noch zu kurz kommt, ist die Steigerung des Selbstwertgefühls und die Förderung von Projekten, die sich damit befassen. Denn es ist bei behinderten Menschen oft sehr beschädigt aufgrund zahlreicher negativer Lebenserfahrungen. Wir brauchen aber auf jeden Fall beides: zielgruppenspezifische Angebote in den Settings und die Stärkung der Inklusion für allgemeine Präventionsangebote.

Was würden Sie sagen, wo stehen wir ganz generell beim Thema Inklusion hinsichtlich Prävention und Gesundheitsförderung in Deutschland?

Inklusion ist für mich kein Ziel, sondern ein Prozess. Es ist die Idee von einer gerechteren Gesellschaft, in der die Spaltung verringert wird hinsichtlich Themen wie Chancengerechtigkeit, sozialem Kapital, Bildung, Teilhabe. In diesem Sinne würde ich sagen, wir sind mitten in diesem Prozess, und das ist gut. Ich wünsche mir noch, dass wir vom Fachbereichsdenken weiter weg kommen, dass beispielsweise die Bundesministerien für Gesundheit, für Arbeit und Soziales und für Bildung und Forschung stärker ins Gespräch kommen. Inklusion ist eine Querschnittsaufgabe und betrifft alle Politikbereiche. Da sind wir noch eher am Anfang.

Weitere Artikel aus ersatzkasse magazin. 9./10.2017

  1. Gabriele Lösekrug-Möller, Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Arbeit und Soziales
    UN-Behindertenrechtskonvention

    3 FRAGEN AN