In den letzten Jahren findet die personalisierte Medizin (PM) zunehmend Beachtung in Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit. Damit verbunden ist eine Reihe von Hoffnungen. Doch das tatsächliche Potenzial lässt sich derzeit noch nicht abschätzen – und es stellen sich verschiedene ethische Fragen.
Die Verheißungen sind vielversprechend: Mit der PM soll es möglich werden, individuelle Erkrankungsrisiken durch Tests auf genetische Mutationen zu bestimmen und ggf. entsprechende präventive Maßnahmen zu ergreifen. Zweitens erhofft man sich Möglichkeiten einer besseren diagnostischen und prognostischen Beurteilung von Erkrankungen und ihren Verläufen. Dies könnte in frühere und verbesserte therapeutische Interventionen münden. Drittens rechnet man mit der Entwicklung effektiverer und sicherer Behandlungsstrategien durch das stetig steigende Wissen über individuelle Determinanten von Krankheiten und erwünschten sowie unerwünschten Wirkungen therapeutischer Maßnahmen. Diese Hoffnungen verdeutlichen die übergreifende Zielsetzung der PM: eine besser auf das Individuum zugeschnittene Prognostik, Diagnostik, Prävention und Therapie, die letztlich auch zu Effektivitäts- und Effizienzsteigerungen in der gesamten Gesundheitsversorgung führen würden.
Dem wird entgegengehalten, es handele sich bei der PM vor allem um einen von den ökonomischen Interessen der Industrie getriebenen „Hype“. Ihr tatsächliches Potenzial werde überschätzt und unrealistische Hoffnungen würden geweckt. Für diese Kritik spricht eine 2012 im New England Journal of Medicine publizierte Untersuchung, in der Gerlinger et al. in ein und demselben Tumor genetische Profile sowohl mit günstiger als auch mit ungünstiger Prognose nachweisen konnten. Für die PM hat dieses Ergebnis nicht zu unterschätzende Konsequenzen: Werden prognostische Aussagen auf der Grundlage einer einzelnen Tumorbiopsie getroffen, ist offensichtlich nicht gewährleistet, dass diese auf den gesamten Tumor zutreffen. Damit ist auch der Erfolg der avisierten Intervention infrage gestellt.
Grundsätzlich ist der Ansatz der PM nicht neu: Eine Reihe personalisierter Maßnahmen – insbesondere in der Onkologie – wird bereits erfolgreich angewendet, so etwa die Bestimmung von Erkrankungsrisiken durch Gentests auf Mutationen des BRCA1- oder BRCA2-Gens bei familiär vorbelasteten Frauen. Sie lassen Aussagen über Erkrankungswahrscheinlichkeiten für erblich bedingten Brust- und/oder Ovarialkrebs zu und eröffnen primär- wie sekundärpräventive Möglichkeiten. Zwei erfolgreiche therapeutische Anwendungen der PM sind die Wirkstoffe Trastuzumab zur Behandlung von Brustkrebs oder Imatinib zur Therapie der akuten lymphatischen bzw. chronischmyeloischen Leukämie.
Mit der PM verhält es sich jedoch nicht anders als mit anderen technologischen Entwicklungen: Den potenziellen Vorteilen stehen rechtliche, soziale und ökonomische, insbesondere aber ethische Implikationen gegenüber, die es zu berücksichtigen gilt, um eine angemessene Entwicklung individualisierter Präventions- und Therapiemaßnahmen zu ermöglichen.
Die ethische Bewertung der PM steht vor einer Reihe methodischer Herausforderungen. Zunächst einmal handelt es sich bei der PM nicht um einen klar definierten, sondern um einen unscharf begrenzten und vor allem sehr heterogenen Problembereich mit einer Vielzahl divergenter Anwendungen, deren ethische Implikationen ebenfalls divergieren.
Neue Methoden der Identifikation von Patientenuntergruppen
Analysiert man den Diskurs um PM, so kristallisiert sich heraus, dass unter PM eine Medizin zu verstehen ist, die versucht, Stratifizierung (Bildung von Patientensubgruppen) und Timing der Gesundheitsversorgung durch Nutzung von Biomarkern auf der Ebene molekularer Signalwege sowie der Genetik, Proteomik und Metabolomik zu verbessern. Das ist kein neues Paradigma. Hinzugekommen sind aber – insbesondere durch die Fortschritte in den Bereichen der Molekularbiologie und Genetik – neue Methoden und damit neue Möglichkeiten der Identifikation und Unterteilung von Patientensubgruppen für eine gezieltere Diagnostik und Therapie.
Eine zweite Herausforderung für die ethische Bewertung der PM ergibt sich aus ihrem frühen Entwicklungsstadium. Auch wenn einzelne Maßnahmen für die PM zugelassen sind (s. Tabelle) – das heißt ihre Anwendung an Tests auf Nebenwirkungen oder Wirksamkeit gebunden ist –, kann bislang von einer breiten Anwendung in der Praxis keine Rede sein.
In Konsequenz hat eine Folgenabschätzung häufig antizipierenden Charakter. Um dem Anspruch einer realistischen Bewertung dennoch gerecht werden zu können, sind zunächst erwartbare Entwicklungen zu identifizieren, die anschließend auf ihre ethischen Implikationen überprüft werden können. In diesem Zusammenhang ergibt sich allerdings eine dritte Herausforderung: Die großen Hoffnungen in die PM machen es oftmals schwierig, (erwartbare) Möglichkeiten und Grenzen realistisch einzuschätzen. Empirische Untersuchungen zeigen, dass selbst Experten auf dem Gebiet der PM personalisierte Präventions- und Therapiemaßnahmen oftmals umso ethisch problematischer beurteilen, je weniger wahrscheinlich ihr erfolgreicher Einsatz ist. Umgekehrt sehen sie Maßnahmen umso unproblematischer, je wahrscheinlicher ihr Einsatz ist.
Unterschiedliche Handlungsfelder
Vor diesem Hintergrund ist zunächst nur eine erste Annäherung an mögliche ethische Probleme der PM möglich: Die ethischen Implikationen ergeben sich in Abhängigkeit ihrer Handlungsfelder. Hier sind zunächst Erforschung und Anwendung der PM zu unterscheiden. Im Kontext der Anwendung wiederum sind die Bereiche der Prognostik bzw. Prävention und der Therapie zu differenzieren. Die ethischen Implikationen lassen sich unterteilen in individual- und sozialethische Probleme. Im Kontext der Erforschung der PM werden die individualethischen Probleme des informed consent, der informationellen Selbstbestimmung, des Datenschutzes sowie Fragen adäquater Studiendesigns diskutiert. Im Rahmen präventiver Maßnahmen stehen darüber hinaus mögliche Auswirkungen prognostischer Tests auf das individuelle Wohlbefinden sowie das Potential einer zunehmenden Zuschreibung individueller Gesundheitsversorgung zur Debatte. Im Therapiekontext schließlich werden mögliche Risiken durch unzureichend getestete Therapeutika sowie Auswirkungen hochtechnisierter Anwendungen auf das Arzt- Patienten-Verhältnis diskutiert.
Diese Fragen sind nicht unbedingt spezifisch für die PM. Vielmehr handelt es sich vorwiegend um Fragen, die aus anderen biomedizinischen Bereichen, beispielsweise der konventionellen genetischen Diagnostik oder dem Biobanking, bekannt sind. Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass die angesprochenen Probleme weniger dringlich wären – sofern personalisierte Präventions- und Therapiemaßnahmen zukünftig breite Anwendung finden. Vor dem Hintergrund des finanziell belasteten Gesundheitssystems sind aber insbesondere sozialethische Fragen der Ressourcenallokation sowie der Zugangs- und Verteilungsgerechtigkeit von Bedeutung.
Bezüglich der Verteilung von Forschungsressourcen stellt sich die Frage, ob die hohen öffentlichen und privatwirtschaftlichen Investitionen in die PM den richtigen Prioritäten folgen, das heißt ob deren Entwicklung an den prioritären Gesundheitsbedürfnissen einer alternden Bevölkerung orientiert ist. Hier wäre zu prüfen, ob Investitionen in andere Methoden der Gesundheitsförderung und Krankheitsbehandlung einen höheren Zugewinn an Gesundheit zur Folge hätten.
Im Zusammenhang mit der Ressourcenallokation innerhalb der PM ist zu prüfen, ob primär von ökonomischen Interessen getriebene privatwirtschaftliche Investitionen in lohnenswerte Bereiche der PM – etwa die Onkologie – zur Vernachlässigung von Patientenpopulationen mit seltenen Erkrankungen führen. Denkbar ist auch, dass derzeit schon benachteiligte Subpopulationen (mit seltenen Erkrankungen) weiter vernachlässigt werden, da sie keinen profitablen Anwendungsbereich bieten.
Für die gerechte Verteilung von PM-Produkten ist es in erster Linie entscheidend, ob die Gesundheitsversorgung durch einen flächendeckenden Einsatz der PM grundsätzlich günstiger oder teurer würde. Dem optimistischen Szenario von Kosteneinsparungen durch gezieltere Therapien mit einer höheren Effektivität und weniger Nebenwirkungen steht ein pessimistisches Szenario gegenüber, nach dem Kostensteigerungen durch den Einsatz zusätzlicher Diagnostika sowie der teuren Entwicklung und Produktion von hochspezialisierten Therapien für kleine Patientengruppen zu erwarten sind. Das pessimistische Szenario könnte in einem eingeschränkten Zugang für weniger zahlungskräftige oder schlechter versicherte Patienten resultieren. Dies würde neue gesundheitliche Ungleichheiten schaffen oder bestehende verstärken.
Zu berücksichtigen ist allerdings, dass die Kosten-Nutzen-Verhältnisse verschiedener personalisierter Behandlungsstrategien stark divergieren. Vor diesem Hintergrund scheint nicht die Frage entscheidend, ob personalisierte Gesundheitsversorgung als solche günstiger oder teurer wird, sondern vielmehr, wie eine spezifische Anwendung so gestaltet werden kann, dass sie zu einem akzeptablen Kosten-Nutzen-Verhältnis führt.
Zusammengefasst lässt sich sagen: Die Hoffnungen in die PM sind enorm. Man verspricht sich von ihr nicht zuletzt die Lösung drängender Probleme des Gesundheitssystems. Vor diesem Hintergrund ist eine neutrale Beurteilung der Chancen und Risiken schwierig. Insbesondere sind die mit ihr verbundenen ethischen Implikationen für jede Anwendung gesondert zu prüfen.