Medizinischer Dienst der Krankenversicherung

Neues Einstufungsverfahren für Pflegebedürftige

Ein Pfleger hält die Hand einer Seniorin

Mit der Einführung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffes wird auch das heutige Begutachtungsverfahren durch ein neues Begutachtungs-Assessment (NBA) abgelöst. Ziel ist es, Pflegebedürftige mit unterschiedlichen Hilfebedarfen gleich zu stellen – egal ob mit körperlichen Einschränkungen oder gerontopsychiatrischen Beeinträchtigungen. Menschen mit Demenz und andere Personen mit eingeschränkter Alltagskompetenz werden besser gestellt.

Versicherte, die Leistungen der Pflegeversicherung beantragen, werden durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) begutachtet. Im Rahmen der Begutachtung erheben die Gutachter des MDK die Krankheitshintergründe und stellen Selbstständigkeitspotenziale und Einschränkungen der Selbstständigkeit fest. Zudem geben sie Empfehlungen für Leistungen ab. Für den Versicherten soll damit die Grundlage für eine Leistungsgestaltung, die seinen Präferenzen entspricht, und für eine gute Pflege und Betreuung gelegt werden.

Das aktuell gültige Einstufungsverfahren von Pflegebedürftigen wird seit Einführung der Pflegeversicherung aus zwei Gründen kritisiert. Zum einen wird der besondere Hilfebedarf von Menschen mit Demenz, mit geistigen Behinderungen oder mit chronisch psychischen Erkrankungen nicht umfassend genug berücksichtigt. Zum anderen hat sich die Bemessung des Hilfebedarfs nach Art, Häufigkeit und Zeitumfang nicht bewährt. Insbesondere die Erfassung des Hilfebedarfs auf der Grundlage von Pflegeminuten ist Anlass für Kritik und hat die Minutenpflege in der Leistungserbringung begünstigt.

Zentraler Maßstab: Grad der Selbstständigkeit

Vor diesem Hintergrund ist in Zusammenarbeit von MDK und Pflegewissenschaft ein neues Begutachtungs-Assessment (NBA) erarbeitet worden (vgl. Klaus Wingenfeld/ Andreas Büscher/Barbara Gansweid: Das neue Begutachtungs- Assessment zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit, Bielefeld, Münster 2008). Zentraler Maßstab ist der Grad der Selbstständigkeit bzw. die Beeinträchtigung von Selbstständigkeit und damit das Angewiesensein auf pflegerische Hilfe durch andere. Das neue Verfahren erfasst nicht nur den „klassischen“ Hilfebedarf bei Körperpflege, Ernährung und Mobilität sowie in der hauswirtschaftlichen Versorgung. Neu ist, dass die kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten, das soziale Verhalten und die psychischen Problemlagen sowie die Gestaltung von Alltagsleben und sozialen Kontakten gleichgewichtig betrachtet werden. Damit erfasst es in umfassender Weise Hilfebedarfe und Problemlagen von Pflegebedürftigen.

Ein Beispiel, das die Wirkung des NBA deutlich macht: Herr N., 68 Jahre, leidet an einer beginnenden Demenzerkrankung. Er hat nur einen geringen verrichtungsbezogenen Pflegebedarf bei der Körperpflege, der unterhalb der Pflegestufe 1 liegt. Die Hauptproblematik für ihn selbst und für die betreuende Ehefrau besteht in ausgeprägten Verhaltensstörungen mit aggressiv-abwehrendem Verhalten, mit Unruhe und Wanderungstendenzen – vor allem in der Nacht. So räumt er nachts Möbel von einem Zimmer in das andere, oder er zieht sich an und möchte mit dem Auto zur Arbeit fahren. Auf seine 75-jährige Frau, die ihn beruhigen will, reagiert er mit abwehrendem Verhalten.

Im heutigen Einstufungs- und Begutachtungsverfahren kann Herrn N. keine Pflegestufe zuerkannt werden, da sein Hilfebedarf bezogen auf die gesetzlich festgelegten Verrichtungen des täglichen Lebens nicht hoch genug ist. Seit Einführung der Leistungen für Personen mit eingeschränkter Alltagskompetenz nach dem Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetz hat er aber Anspruch auf zusätzliche Betreuungsleistungen und Entlastungsangebote. Mit Einführung des Pflege-Neuausrichtungs-Gesetzes erhält er außerdem zusätzlich Pflegegeld in Höhe von 120 Euro oder eine Pflegesachleistung in Höhe von 225 Euro.

Im NBA würde Herr N. in den Pflegegrad 3 eingestuft werden und damit umfassendere Leistungen erhalten, die auch den demenzbedingten Hilfebedarf einschließen. Dies zeigt, dass Menschen mit Demenz und andere Personen mit eingeschränkter Alltagskompetenz mit dem NBA gerechter eingestuft werden und deutlich verbesserte Leistungen erhalten.

Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff wird eine neue Grundlage für die Bemessung von Pflegebedürftigkeit schaffen. Das NBA erfasst darauf aufbauend umfassend die für Pflege und Betreuung relevanten Sachverhalte und legt damit die Grundlage für die nötige Leistungsgewährung. Politisch wird es jetzt darauf ankommen, die Leistungen der Pflegeversicherung und die Leistungshöhen so zu gestalten, dass sie dem geänderten Pflegebedürftigkeitsbegriff entsprechen. Insgesamt wird der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff die Leistungen der Pflegeversicherung gerechter zuteilen und Impulse dafür setzen, dass die Pflege im Sinne des umfassenden Pflegeverständnisses geleistet werden kann.

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