Pflegereform

Viel geschafft und noch mehr zu tun

Illustration: Alter Mann am Stock mit Pflegerin und dem Schild "Pflegebedürftigkeitsbegriff". Rechts daneben eine alte Frau im Rollstuhl mit einem Schild "Bessere Leistungen".

Der Countdown läuft: Zum 1. Januar 2017 wird ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff und ein neues Begutachtungsinstrument in der sozialen Pflegeversicherung eingeführt. Damit kommt ein lang geforderter Paradigmenwechsel in der  Versorgungsrealität der Pflegebedürftigen endlich an: Der Fokus wird auf die  Selbständigkeit der Pflegebedürftigen gerichtet. Hierfür hat die Pflegereform die notwendigen gesetzlichen Weichen gestellt. Aber reicht das aus? Wie steht es um die finanzielle Situation dieses wichtigen Sozialversicherungszweiges und was sind die künftigen Herausforderungen?

Es ist gut und richtig gewesen, dass sich die Bundesregierung in dieser Legislaturperiode daran gemacht hat, die soziale Pflegeversicherung grundlegend zu reformieren. Der demografische Wandel und die damit einhergehende Alterung der Gesellschaft machten es notwendig. Mit der Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und des dahinter stehen den neuen Begutachtungssystems werden körperliche sowie geistige und psychische Beeinträchtigungen bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) zukünftig gleichermaßen berücksichtigt. Damit entfällt die Unterscheidung zwischen körperlicher Pflegebedürftigkeit und eingeschränkter Alltagskompetenz, z. B. Demenz. Die drei Pflegestufen werden durch fünf Pflegegrade abgelöst, die Höhe der konkreten Leistungsbeträge hängt vom Pflegegrad ab. Zusätzlich wird „Betreuung“ als Regelleistung der Pflegeversicherung etabliert. Diese Reform kann uneingeschränkt als versichertenfreundlich bezeichnet werden: Nach vorne blickend haben zukünftig mehr Menschen Anspruch auf Leistungen der sozialen Pflegeversicherung, Schätzungen gehen von mittelfristig bis zu 500.000 aus, die erstmalig Anspruch auf Leistungen haben werden. Den Blick auf die aktuell 2,8 Millionen pflegebedürftige Menschen richtend, sorgen großzügige Überleitungs- und Bestandsschutzregelungen dafür, dass nach der Systemumstellung Anfang 2017 keiner schlechter steht. Für viele werden sich die Leistungsbeträge sogar erhöhen.

Auf Systemumstellung bestens vorbereitet

Damit die Umstellung zum 1. Januar 2017 uneingeschränkt versichertenfreundlich und möglichst geräuscharm geschieht, laufen die Vorbereitungen bei den Pflegekassen und deren Verbänden bereits seit Monaten auf Hoch- touren. Bis zum Jahresende sind bundesweit alle Verträge der 25.000 ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen umgestellt. In vielen Ländern wurde die Gelegenheit genutzt, auch über angemessene personelle Verbesserungen in den stationären Einrichtungen zu verhandeln, wird doch allgemein davon aus- gegangen, dass mit den neuen Pflegekonzepten auf Basis des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs auch mehr Personal benötigt wird. Die Mitarbeiter der Pflegekassen und der MDK werden umfassend auf das neue System geschult und die IT-Systeme in den Pflegekassen angepasst. Die Pflegebedürftigen wurden sukzessive über die einschlägigen Medien (Mitgliederzeitschriften, Homepage etc.) zur Systemumstellung informiert. Dabei steht die Botschaft im Mittelpunkt, dass für den Pflegebedürftigen selbst kein Handlungsbedarf besteht. Die rechtsverbindlichen Bescheide der Pflegekassen, mit denen die Pflegebedürftigen über ihren neuen Pflegegrad informiert werden, werden noch vor Weihnachten verschickt.

Finanzierung der Reformen

Ermöglicht wurde dies alles durch die lang anhaltend gute konjunkturelle Lage und die dadurch bedingte stabile finanzielle Situation der sozialen Pflegeversicherung. Sie verfügt mit Stand 2015 über rund 8,3 Milliarden Euro Rückstellungen (Vergleich 2014: 6,6 Milliarden Euro). Die zur Finanzierung der Reformen durchgeführten Beitragssatzerhöhungen zum 1. Januar 2015 um 0,3 Prozent und zum 1. Januar 2017 um weitere 0,2 Prozent sorgen für jährliche Mehreinnahmen von rund 6,1 Milliarden Euro, mit leicht steigender Tendenz, bedingt durch die weiterhin gute Lohn- und Beschäftigungsentwicklung. Mit diesen Mehreinnahmen werden die Kosten der Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und die Bestandsschutzregelungen für die Versicherten weitgehend abgesichert. Dies ist ausdrücklich zu begrüßen.

Herausforderung ist die demografische Entwicklung

Die soziale Pflegeversicherung gerät aufgrund der demografischen Entwicklung mittelfristig unter finanziellen Druck. Nach aktuellen Berechnungen ist davon auszugehen, dass die Zahl von derzeit rund 2,84 Millionen Pflegebedürftigen im Jahr 2015 auf voraussichtlich rund 3,61 Millionen Pflegebedürftige im Jahr 2035 und rund 4,64 Millionen Pflegebedürftige im Jahr 2055 steigt. Dies bringt Druck auf die Ausgabenseite. Gleichzeitig wird auf der Einnahmenseite der Rückgang des Anteils der erwerbsfähigen Personen an der Gesamtbevölkerungszahl dazu führen, dass die Finanzierungsbasis abschmilzt. So werden im Jahr 2030 im Vergleich zum Jahr 2014 rund 700.000 Erwerbspersonen weniger zur Verfügung stehen. Bis zum Jahr 2050 könnte Deutschland bis zu 20 Prozent seiner Arbeitskräfte verlieren. Daran ändert leider auch der im Jahr 2015 gesetzlich eingeführte Pflegevorsorgefonds nichts, der nach Berechnungen des Verbandes der Ersatzkassen e. V. (vdek) den Beitragssatz ab 2035 um maximal 0,12 Beitragssatzpunkte senkt.

Strategien für die Zukunft

Daher ist es dringend geboten, sich bereits heute über mittel- bis langfristige Finanzstrategien Gedanken zu machen. Diese sind innerhalb des umlagefinanzierten Systems zu realisieren, dies gilt auch für den Auf- und Ausbau von Finanzreserven. Individualisierte Kapitaldeckungssysteme zum Aufbau solcher Reserven sind sozial ungerecht, hängen sie doch stets von der individuellen Sparfähigkeit des Einzelnen ab. Zudem gilt es nach vorne blickend, die Höhe der Leistungen der Pflegeversicherung verbindlich an die Entwicklung einer einschlägigen wirtschaftlichen Kenngröße zu koppeln. Nur so kann ein realer Kaufkraftverlust und damit eine weitere Verschiebung des finanziellen Risikos auf den Pflegebedürftigen vermieden werden. Als Kenngröße bietet sich hier die Bruttolohnentwicklung an.

Private und soziale Pflegeversicherung weisen höchst ungleich verteilte Pflegerisiken auf. Zudem sind Privatversicherte deutlich einkommensstärker. So sind die Leistungsausgaben in der privaten Pflegeversicherung um rund 74 Prozent niedriger als in der sozialen Pflegeversicherung. Daher ist im Sinne einer gerechteren Verteilung der finanziellen Belastungen ein Finanzausgleich zwischen der privaten und der sozialen Pflegeversicherung anzustreben, der die soziale Pflegeversicherung um bis zu zwei Milliarden Euro entlasten würde.

Pflegeinfrastruktur weiterentwickeln

Um dem wachsenden Bedarf an pflegerischen Leistungen begegnen zu können, ist die Pflegeinfrastruktur weiterzuentwickeln. Hierzu gehören der Ausbau und die Flexibilisierung bestehender Leistungsangebote im ambulanten Bereich - hier vor allem bei den Angeboten zur Unterstützung im Alltag (ehemals niedrigschwellige Betreuungs- und Entlastungsangebote) - und im Bereich der stationären Tages-, Nacht- und Langzeitpflege genauso wie die Sicherstellung der Versorgung in ländlichen Gebieten. Mit Blick auf die ländlichen Regionen ist allerdings dringend notwendig, dass die Länder ihre gesetzlich festgelegten Aufgaben (§ 9 SGB XI) im Bereich der Investitionsförderung ernst nehmen und gezielt in strukturschwachen Regionen davon Gebrauch machen.

Wer pflegt uns in Zukunft?

Eine entscheidende und bis dato nicht gelöste Zukunftsaufgabe besteht darin, den Pflegeberuf im Wettbewerb mit anderen Fachberufen attraktiver zu machen und damit ausreichend qualifiziertes Personal zu gewinnen. Bereits heute werden rund 52 Prozent aller Pflegebedürftigen durch professionelle Dienste gepflegt, Tendenz steigend. Die mit dem Pflegeberufereformgesetz geplante Abschaffung des Schulgeldes in der Pflegeausbildung und die Anerkennung von Tariflöhnen sind richtige Schritte, um den Pflegeberuf attraktiver zu gestalten. Denn: Viele Schritte sind notwendig, um diese Herausforderung zu meistern, und die Attraktivität eines Berufsbildes ist nicht nur eine Frage der Vergütung. So scheint insbesondere auch eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf in Pflegeberufen einer der Schlüssel zu sein, um das Angebot an Pflegefachkräften in Zukunft zu erhöhen.

Aus Sicht des vdek gehört dazu auch eine konstruktive Debatte um die Frage, inwieweit mehr Verantwortung auf Pflegekräfte zu übertragen ist. Der Gesetzgeber hat die soziale Pflegeversicherung in jüngster Zeit schrittweise weiterentwickelt. Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff und ein neues Verständnis von Pflege sind auf den Weg gebracht, die Versicherten profitieren davon uneingeschränkt. Mit einer soliden Finanzbasis ausgestattet, müssen nun die aufgezeigten Herausforderungen der Zukunft angegangen werden.

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