Versorgungsangebot

Selektivverträge als Innovationsmotor?

Illustration: Papierstapel, auf dem Menschen und kleine Krankenhäuser stehen. Davor lehnt ein Papier mit der Aufschrift "Kollektivvertrag".

In welchem Verhältnis stehen Kollektiv- und Selektivverträge in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zueinander? Drei Formen lassen sich grob unterscheiden. Wichtig ist, dass sich das Verhältnis im Zeitverlauf zwischen diesen Formen verändern kann, um von positiven Effekten der Selektivverträge auf die Versorgungslandschaft zu profitieren.

Die Ausgestaltung der gesetzlichen Rahmenbedingungen für Selektivverträge hängt stark davon ab, wie man ihr Verhältnis zum Kollektivvertrag definiert. Zu dieser Frage gibt es unterschiedliche Vorstellungen. Mithilfe von etwas idealtypischer Vereinfachung lassen sich drei Formen unterscheiden, von denen die ersten beiden die aktuelle Diskussion prägen:

1. Selektivverträge als Experimentierfeld oder „Labor“, um Verbesserungen für den Kollektivvertrag zu testen und im Erfolgsfall einzuführen.

2. Selektivverträge als Ergänzung des Kollektivvertrags mit zusätzlichen Versorgungsinhalten.

3. Selektivverträge als Ersatz für den Kollektivvertrag oder Teile davon.

Im Folgenden werden die Vorstellungen sowie Pro- und Contra-Argumente betrachtet, die mit den drei Modellen verbunden sind. Als Selektivverträge werden dabei Integrierte Versorgung, Modellprojekte und die Inhalte des § 73 b und c SGB V verstanden. Disease-Management- Programme (DMP) sind faktisch ein kollektives Instrument und sollen hier nicht betrachtet werden.

Der Laborgedanke geht von einem Primat des Kollektivvertrags aus. Selektiv vereinbarte Abweichungen sind nur zeitweise möglich, denn nach dem erfolgreichen Test eines Versorgungsmodells und der entsprechenden Evaluation wird das Modell in den Kollektivvertrag überführt. Die Begründung lautet, dass auch der Selektivvertrag aus Beitragsgeldern des Gesundheitsfonds finanziert wird und die Früchte damit allen Beitragszahlern zur Verfügung stehen müssen. Als Vorzüge dieses Modells lassen sich der Gleichheitsgedanke und der Wunsch nach Verbreitung von Innovationen sehen.

Nachteile ergeben sich in der praktischen Umsetzbarkeit: Zum einen ist eine objektive Evaluation, aus der alle Stakeholder die gleichen Schlussfolgerungen ziehen, nicht so selbstverständlich wie in der skizzierten Gedankenfigur vorausgesetzt. Zudem lässt sich ein Modell, das unter Umständen an lokale Voraussetzungen wie Versorgungsstrukturen, Netzwerke und persönliche Verhältnisse der Akteure gebunden ist, nicht einfach ausrollen. Schließlich ist der Wettbewerbsanreiz fraglich. Der Pionier weiß, dass er den Misserfolg alleine trägt, den Erfolg aber mit der Allgemeinheit teilt. Hiergegen wenden die Befürworter des Modells ein, dass ein mehrjähriger Zeitvorsprung für den Pionier ein ausreichender Wettbewerbsvorsprung sei.

Die zweite Form sieht daher den Selektivvertrag als Ergänzung zum Kollektivvertrag, um spezielle regionale und krankheitsspezifische Versorgungsprobleme zu lösen. Die Besonderheiten sind gerade nicht auf ganz Deutschland übertragbar. Daher können Selektivverträge auch über viele Jahre parallel zum Kollektivvertrag bestehen. Kassen können im Rahmen einer wettbewerblichen Differenzierung oder einer Kostensenkungsstrategie versuchen, mehr oder weniger umfangreich mit Selektivverträgen zu operieren. Die Vorzüge dieses Modells sind der Wettbewerbsgedanke und die Möglichkeit zur Differenzierung der gesetzlichen Krankenkassen. Als Nachteil erscheinen die Kleinteiligkeit und die fehlende Innovationsförderung. Kritiker wenden zu Recht ein, dass sich durch die kassenindividuellen Selektivverträge noch keine einzige Prozessinnovation in der GKV durchgesetzt habe.

Noch weiter geht die Vorstellung, die bei Einführung der Integrierten Versorgung 2004 dominierte: Selektivverträge würden einen relevanten Anteil des Kollektivvertrags ersetzen, oft sprach man von zehn Prozent. In diesem Modell hat jede Kasse eine Vielzahl gesonderter Vereinbarungen mit Leistungserbringern, die zu einem differenzierten Angebotsprofil führen. Der Versicherte kann daraus wählen und kommt damit an die Tarifvielfalt der privaten Krankenversicherung (PKV) oder die Wahlfreiheit vieler Märkte in der Privatwirtschaft heran. Hierin und in der vermuteten Förderung von Innovation durch einen recht freien Wettbewerb liegen die wesentlichen Vorzüge dieses Modells. Doch die hohe Komplexität und die Transaktionskosten, die durch zu viele Vertragspartner auf beiden Seiten entstehen, ließen dies bisher scheitern. Ordnungspolitisch haben viele Akteure im Gesundheitswesen zudem Schwierigkeiten mit der Vorstellung, der Versicherte könne eine Kasse wählen, die ihn im Ernstfall nicht gut genug versorgt, sodass er gegenüber anderen Versicherten benachteiligt ist.

In der aktuellen Gesetzgebung (Entwurfsstand GKV-Versorgungsstärkungsgesetz, GKV-VSG) weist der Innovationsfonds den Weg in Richtung des Labors, da Ansätze sehr systematisch zum Testen ausgewählt und anschließend evaluiert werden. Da der Fonds mit gemeinschaftlichen Geldern finanziert wird, ist das Wettbewerbsproblem hier irrelevant. Die Lockerung des § 140 SGB V kann dagegen als eine Stärkung des zweiten Gedankens gesehen werden, weil sie den Krankenkassen bürokratische Hürden nimmt.

Ist mit diesen Änderungen das richtige Verhältnis schon erreicht? Beide Maßnahmen sind zwar zielführend, weitergehende Entwicklungen aber wünschenswert. Idealerweise zeigt sich das Verhältnis von Selektiv- und Kollektivversorgung als Entwicklungsmodell, das sich im Zeitverlauf verschieben kann. Das reine Labormodell zeigt sich als zu begrenzt, da die Wettbewerbshindernisse zu groß sind und die Vorstellung einer Übertragung zu vereinfacht ist. Weitgehend selektivvertragliche Versorgung (Modell 3) ist derzeit aus Gründen der Komplexität und Akzeptanz nicht umsetzbar.

Zu favorisieren ist momentan das Modell 2, vorausgesetzt die Anreize für Selektivverträge werden verbessert. Zudem ist es nötig, nicht die inhaltsgleiche Verbreitung, sondern die Nachahmung erfolgreicher Modelle durch eine Publikation der Ergebnisse und nicht der Vertragsinhalte zu erleichtern. Die aktuelle Gesetzgebung nimmt zwar manche Hürden für Selektivverträge, daneben ist jedoch die Verbreitung durch Förderinstrumente zu stärken.

Der Umfang der Selektivverträge sollte deutlich schneller als bisher zunehmen, sodass Modell 2 allmählich in Modell 3 übergeht. Die größere Marktvielfalt und Wahlfreiheit verlangen dann eine verantwortliche Wahl durch die Versicherten.

Auf dem beschriebenen Weg könnten Selektivverträge allmählich wirklich eine bedeutendere Rolle im Verhältnis zum Kollektivvertrag ermöglichen: einerseits als Innovationsmotor, andererseits als zusätzliche Angebote im Kassenwettbewerb.

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