Marktzulassung

Medizinprodukte in der GKV? Aber sicher, bitte!

Grafik: Darstellung einer Tafel, auf der Medizinprodukte, wie eine Spritze oder ein Computertomografgerät, abgebildet sind.

Der GKV-Spitzenverband sieht bei Marktzulassung und -überwachung von Medizinprodukten dringenden Reformbedarf: Neben einer Verschärfung der Regelungen zur behördlichen Meldung von Vorkommnissen sollten für Produkte mit hohem Anwendungsrisiko vergleichende klinische Prüfungen verpflichtend werden.

Der Markt für Medizinprodukte ist hochgradig innovativ und wächst stetig. Implantate wie Herzschrittmacher und Defibrillatoren werden immer kleiner und können gleichzeitig spezielle Überwachungsfunktionen übernehmen. Offen chirurgische Operationsmethoden werden zunehmend durch minimalinvasive Schlüssellochtechnologien mit Computernavigation abgelöst. Verengte Blutgefäße werden immer häufiger mit einem Stent versorgt und nicht operiert. Einige dieser Gefäßstützen können Medikamente freisetzen, andere lösen sich nach einer gewissen Zeit von selbst auf. Sie werden nicht mehr nur in Herzkranzgefäße geschoben, sondern auch in andere Blutgefäße, sogar innerhalb des Gehirns.

Herzklappen können mittlerweile mithilfe spezieller Katheter durch die Beinarterien bis zum Herzen geschoben werden, wo sie sich von selbst entfalten. Patienten mit schweren Lungenerkrankungen bekommen immer häufiger Schäume, Spiralen oder Ventile in die betroffenen Areale der Lunge eingeführt.

Angesicht dieser Entwicklung drängt sich die Frage auf, ob die geltenden gesetzlichen Bestimmungen, welche die Marktfähigkeit der oben beschriebenen komplexen Technologien, aber gleichzeitig auch die von Pflastern, Thermometern und Mundspateln regeln sollen, wirklich noch zeitgemäß sind. Diese Frage ist offensichtlich nicht aus der Luft gegriffen, denn sogar das renommierte „British Medical Journal“ kam im Februar dieses Jahres bei einer kritischen Auseinandersetzung mit den Problemen rund um die sogenannten „Metall-auf-Metall“-Hüftendoprothesen zu der Bewertung: „Die Methoden des (europäischen) Medizinprodukterechts scheinen mehr aus den fünfziger Jahren als aus dem 21. Jahrhundert zu stammen.“ Aus Sicht der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) sind zwei zentrale Probleme im geltenden Medizinprodukterecht erkennbar und dringend reformbedürftig:

1. Problem: Klinische Bewertung

Ein Hersteller muss für sein Medizinprodukt eine sogenannte „klinische Bewertung“ anhand von klinischen Daten vornehmen, bevor er es in den Verkehr bringen darf. Der Begriff suggeriert, dass ähnlich wie bei Arzneimitteln umfangreiche Studien mit Medizinprodukten durchgeführt werden müssen, bevor sie „zugelassen“ werden. Dies ist aber nicht der Fall, wie im Folgenden erläutert werden soll.

Medizinprodukte werden – abhängig davon, ob sie mit dem Blutkreislaufsystem in Berührung kommen, zeitweilig oder dauerhaft im menschlichen Körper verbleiben und/ oder elektrisch funktionieren – vom Hersteller einer Risikoklasse zugeordnet. Mundspatel, Fieberthermometer und Vorlagen gehören beispielsweise in die Risikoklasse I; Hüftendoprothesen, Herzkatheter und Koronarstents dagegen in die höchste Risikoklasse III. Bei der durchzuführenden klinischen Bewertung muss der Hersteller nachweisen, dass sein Produkt für den vorgesehenen „Verwendungszweck“ – diesen legt der Hersteller selbst fest – geeignet ist.

Die Aufgabe lautet also nicht: „Weise nach, dass dein Produkt sicher und wirksam ist“ oder „Zeige, dass dein Produkt für den Patienten einen Nutzen hat“, sondern: „Zeige, dass man dein Produkt so anwenden kann, wie du vorgegeben hast – ohne dass Anwender oder Patient unmittelbar Schaden nehmen.“ Die klinische Bewertung erfolgt anhand klinischer Daten, die entweder aus klinischen Prüfungen mit dem zu bewertenden Medizinprodukt stammen können oder aus klinischen Prüfungen mit einem Produkt, dessen „Gleichartigkeit“ mit dem zu bewertenden Medizinprodukt nachgewiesen worden ist.

Produkte der Risikoklasse I bringt der Hersteller ohne weitere äußere Kontrolle eigenverantwortlich in den Verkehr. Bei höheren Risikoklassen muss die klinische Bewertung einer „Benannten Stelle“ vorgelegt werden. Dabei handelt es sich um privatwirtschaftliche, europaweit im Wettbewerb stehende Unternehmen (in Deutschland unter anderem TÜV und DEKRA), die letztlich darüber entscheiden, ob aus ihrer Sicht die vorliegenden Daten für eine erfolgreiche klinische Bewertung ausreichen oder nicht. Sie entscheiden auch darüber, ob ein auf dem Markt befindliches Medizinprodukt „gleichartig“ zum zu prüfenden Produkt ist (also keine eigenen klinischen Prüfungen mehr nötig sind). Welche „Benannte Stelle“ der Hersteller für die Bewertung seines Produktes dabei europaweit aufsucht, ist ihm überlassen.

Als Konsequenz werden klinische Prüfungen mit Medizinprodukten, wenn sie denn vor dem In-Verkehr-Bringen überhaupt erfolgen, meist nur mit wenigen Patienten durchgeführt. Dabei wird in der Regel nicht untersucht, ob das neue Produkt gleichwertig oder gar besser ist als die bisher angewendete Standardbehandlung. Es gab daher in den vergangenen Jahren mehrere Fälle, bei denen vermeintlich innovative Produkte, deren Anwendung bei Ärzten und Patienten mit großen Hoffnungen verbunden war, im Nachhinein aufgrund erschreckend hoher Nebenwirkungen durchgefallen sind.

2. Problem: Marktüberwachung

Das deutsche Medizinproduktegesetz (das damit europäische Vorgaben umsetzt) schreibt vor, dass in Verkehr gebrachte Medizinprodukte behördlich überwacht werden sollen. Hersteller und Anwender sind verpflichtet, Vorkommnisse mit Medizinprodukten an das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zu melden. Diese Behörde soll anhand der eingegangenen Meldungen regelmäßige Risikobewertungen vornehmen und bei Bedarf Maßnahmen koordinieren. Außerdem sind die Anwender, also die behandelnden Ärzte, bei bestimmten Implantaten dazu verpflichtet, die Rückverfolgbarkeit zum Patienten zu gewährleisten, um Maßnahmen wie zum Beispiel Produktrückrufe zu ermöglichen.

Dass dieses System nicht funktioniert, hat der Skandal um die Brustimplantate des Herstellers Poly Implant Prothèse nachhaltig gezeigt: Bis zum 22. Dezember 2011 hatte das BfArM nur 19 Vorkommnismeldungen deutscher Ärzte für eine Risikobewertung vorliegen und war damit vollständig auf Bewertungen der französischen Schwesterbehörde angewiesen, die anhand einer Auswertung von mehr als 1.000 Meldungen und aufgrund einer Expertenanhörung den betroffenen französischen Frauen eine Entfernung der fehlerhaften Implantate empfahl. In Deutschland war – trotz der Verpflichtung der Behandler, die Rückverfolgbarkeit von Brustimplantaten zu gewährleisten – auch nach mehreren Monaten noch nicht klar, wie viele Frauen überhaupt mit den fehlerhaften Implantaten versorgt wurden und ob diese auch alle von ihren Behandlern kontaktiert worden sind.

Forderungen der GKV

Die geltenden europäischen Richtlinien zur Vermarktung und Überwachung von Medizinprodukten bedürfen daher aus Sicht der GKV einer gründlichen Reform. Produkte mit hohem Anwendungsrisiko müssen künftig auf europäischer Ebene zugelassen werden. Dafür wären hochwertige, vergleichende klinische Prüfungen, die die Produkte auf ihren Nutzen für die Patienten hin testen, die richtige Entscheidungsbasis. Ergebnisse der Prüfungen müssen im Rahmen des Zulassungsverfahrens dann von einer unabhängigen Überwachungsbehörde evaluiert werden – und nicht von privatwirtschaftlichen Unternehmen, die in einem finanziellen Abhängigkeitsverhältnis zu ihrem Auftraggeber stehen. Hersteller müssen dazu verpflichtet werden, ihre klinischen Prüfungen an ein Studienregister zu melden und die Ergebnisse zu veröffentlichen.

Auch die Instrumente der Marktüberwachung müssen verbessert werden. Insbesondere die Anwender von Medizinprodukten müssen künftig durch geeignete Aufklärung, aber auch durch Bußgeldandrohungen dazu gebracht werden, Vorkommnisse sofort an die Überwachungsbehörden zu melden. Die Marktüberwachung und durchzuführende behördliche Maßnahmen müssen auf europäischer Ebene koordiniert werden; bei der Zulassung von Medizinprodukten mit erkennbar hohem Risiko oder fehlenden Daten zur Langzeitsicherheit müssen die Behörden die Möglichkeit erhalten, Auflagen an den Hersteller zu erteilen, besondere Langzeitbeobachtungen (zum Beispiel Register) durchzuführen. Es ist jetzt Zeit für einen Paradigmenwechsel: etwas weniger Markt, dafür aber deutlich mehr Patientensicherheit.

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