Reportage

Ärzteproteste: Viel Lärm um nichts?

Foto: Streik der Ärzte, die mit Trillerpfeifen und Schildern ausgerüstet sind
Schwierige Honorarverhandlungen

Selten waren die Honorarverhandlungen der niedergelassenen deutschen Ärzte so schwierig wie dieses Jahr. Nach dem gefundenen Kompromiss gingen trotzdem in vielen deutschen Städten Ärzte auf die Straße. Doch was macht Ärzte eigentlich so unzufrieden, welche Rolle spielt das Geld? Eine Suche nach Antworten.

Es ist ein verregneter Mittwochmorgen in Berlin-Mitte. Vor dem Gebäude des GKV-Spitzenverbandes haben sich heute, am 10. Oktober 2012, um die 100 Ärzte und Medizinische Fachangestellte (MFA) versammelt. Ausgerüstet mit Allwetterjacken, Regenschirmen und Schildern, auf denen Sprüche zu lesen sind wie „Wir machen Menschen gesund – Spar-Kassen machen uns krank!“ und „Patientenversorgung statt Bürokratie!!“, drängt sich die Gruppe am Eingang der Kaiserhöfe.

Proteste trotz Einigung

Deutschlandweit sind heute im Rahmen des „Aktionstags ohne Mitarbeiter“ rund 5.000 Ärzte und MFA auf die Straße gegangen. An die 10.000 Arztpraxen haben nur einen eingeschränkten Betrieb oder bleiben ganz zu. Dabei hatten sich Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) und GKV-Spitzenverband am Vorabend in den diesjährigen Honorarverhandlungen auf Bundesebene überraschend auf einen Kompromiss geeinigt. Die Allianz deutscher Ärzteverbände rief jedoch zur Fortsetzung von Protestaktionen auf, die einige Wochen vorher begonnen hatten. „Diese Einigung darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass das grundsätzliche Problem von fehlenden festen Preisen und unbezahlten Leistungen der Ärzte und Psychotherapeuten damit nicht gelöst ist. Der Orientierungspunktwert ist immer noch unverändert“, kritisierte der Sprecher der Allianz deutscher Ärzteverbände, Dr. Dirk Heinrich, im Anschluss an die Verkündigung des Honorarkompromisses.

Wie viel Geld sollen die rund 150.000 niedergelassenen Ärzte und Psychotherapeuten in Deutschland für ihre Arbeit bekommen? „Bisher ging es in den Honorarverhandlungen meistens um Mengen“, sagt Henning Horst, Abteilungsleiter Ambulante Versorgung beim Verband der Ersatzkassen e. V. (vdek). „Die Argumentation der KBV war darauf gerichtet, dass durch die steigende Morbidität mehr bezahlte Leistungsmengen für morbide Patienten nötig seien. Nur sind die morbiditätsbezogenen Veränderungsraten dieses Jahr überraschenderweise wesentlich niedriger ausgefallen als in den Vorjahren. Und deshalb redet man plötzlich über Preise. Da rücken natürlich die tatsächlichen Verdienste der Ärzte in den Mittelpunkt.“ Verändert hatte sich die Situation bereits seit der Einführung von Budgetierungen und Bedarfsplanung unter Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) 1992.

Im Schnitt verdienen niedergelassene Ärzte laut Honorarbericht der KBV knapp 5.500 Euro netto im Monat – zuzüglich der Einkünfte durch Privatpatienten und Zusatzleistungen. Damit gehören sie sicherlich zu den Topverdienern in Deutschland. Es gibt allerdings große Unterschiede bei den Fachrichtungen und auch innerhalb einer Fachrichtung.

Als Hausarzt in Neukölln

Michael Janßen, 53, ist seit elf Jahren niedergelassener Hausarzt in Berlin-Neukölln und gehört damit zur am schlechtesten verdienenden Arztgruppe mit einer Praxis im sozialen Brennpunkt. Er empfängt in seiner Mittagspause zum Interviewtermin, unterschreibt nebenher Rezepte, die er von einem hohen Stapel nimmt. Janßen kann die Haltung der Kollegen, die an den Protestaktionen teilnehmen, nicht akzeptieren. „Die jährlichen Honorarverhandlungen werden fast schon als Ritual mit Kettenrasseln und gegenseitiger Verunglimpfung begleitet. Das ist überholt und unnötig. Ich denke, beide Seiten sollten sich hier an die eigene Nase fassen. Denn solche Aktionen sind kontraproduktiv für die Patientenversorgung und für das Image sowohl der Kassen als auch der Kassenärzte.“

Bei einer rein hausärztlichen Praxis mit vielen chronisch Kranken und wenn der Arzt keine Zusatzaufgaben wie Bereitschaftsdienst mache, sei es finanziell sicherlich nicht ganz einfach, sagt Janßen. Er betreut Substitutionspatienten, was extrabudgetär vergütet wird. Problematisch an der Ärztevergütung findet er aber nicht, dass zu wenig Geld im System sei, sondern „dass die Arbeit unterschiedlich viel wert ist durch regional unterschiedliche Vergütungen. Außerdem gibt es sehr große Unterschiede zwischen den Ärzten der Primärversorgung und den auf Technik ausgerichteten Gebietsärzten, die ich für ungerechtfertigt halte. Unterschiede innerhalb einer Ärztegruppe sehe ich noch am ehesten als leistungsbezogen. Denn beispielsweise durch eine Schwerpunktbildung mit extrabudgetären Leistungen oder durch höhere Fallzahlen kann ich mein Honorar längerfristig steigern.“

Angemessene Maßstäbe für das Honorar eines Niedergelassenen findet Janßen das Gehalt eines Oberarztes und vergleichbare akademische Berufe wie freiberuflich tätige Architekten oder Anwälte. „Die meisten Niedergelassenen dürften netto so viel kriegen wie ein Oberarzt, bei den anderen akademischen Berufen liegen wir sogar im Schnitt noch drüber. Außerdem haben wir im Vergleich zu anderen Freiberuflern das große Privileg, krisenfest zu sein.“

Janßen engagiert sich im Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte e. V., einer gesundheitspolitischen Institution. „Wir setzen uns ein gegen die Kommerzialisierung des Gesundheitswesens. Denn wir sehen, dass teilweise Überversorgung eine Rolle spielt. Es wird das gemacht, was sich lohnt, nicht was für die Versorgung am sinnvollsten ist.“

Seine Arzthelferin Iris Alsdorff sagt, im Großen und Ganzen habe man von den Protesten nichts mitbekommen. „Nur am Tag, als gestreikt wurde, haben einige Patienten angerufen und gefragt, ob unsere Praxis geöffnet hat.“ Die 45-Jährige ist seit 20 Jahren Arzthelferin. Bei der Frage, ob sie etwas an ihrer Arbeit nervt, muss sie überlegen. „Eigentlich nichts. Unsere Substitutionspatienten sind natürlich nicht die leichtesten, da kommt man schon mal an seine Grenzen. Aber ich mache meinen Job sehr gerne, ich glaube, ich bin dafür geboren“, sagt sie und schmunzelt.

Zufriedenheit mit dem Beruf

Ist dieses Gefühl vielleicht einigen Ärzten abhanden gekommen, für ihren Beruf geboren zu sein? Der KBV-Ärztemonitor ist eine repräsentative Befragung der niedergelassenen und ambulant tätigen Ärzte. Demnach sind 90 Prozent mit ihrer Arbeit zufrieden, 82 Prozent würden ihren Beruf wieder ergreifen. Auch wenn ein Großteil der Befragten die Arbeitsbelastung mit einer durchschnittlich angegebenen Wochenarbeitszeit von knapp 55 Stunden als hoch einstuft. Mit dem Einkommen ist die Mehrheit der Befragten zufrieden.

Dr. Markus Müschenich hat das Gesundheitssystem aus vielen Blickwinkeln kennengelernt – der heute 51-Jährige war erst praktizierender Kinderarzt, später im Management des Unfallkrankenhauses Berlin und Vorstandsmitglied der Sana Kliniken AG, übte Tätigkeiten für die Ärztekammer Nordrhein, als Berater und als Zukunftsforscher aus. Pünktlich zu den Honorarverhandlungen ist sein Buch „55 Gründe, Arzt zu werden“ erschienen. Zwischen zwei Terminen ist Zeit für ein Interview. Müschenich glaubt, dass die öffentliche Wahrnehmung von zähen Honorarverhandlungen und protestierenden Ärzten auf der einen Seite sowie ausufernden IGeL-Angeboten bis hin zu den Skandalen rund um Hygiene und Organtransplantation auf der anderen Seite dazu beiträgt, dass sich die Rolle des Patienten zur Rolle eines Kunden ändert. „Patienten sind verunsichert, es fällt schwerer, dem Arzt einen Vertrauensvorschuss zu geben.“ Daher würden sie vermehrt selbst recherchieren, um sich einer guten Behandlung zu vergewissern.

„Ich denke, die Ärzteschaft gestaltet das Gesundheitssystem zu wenig mit, was auch daran liegt, dass wir es hier nicht mit einer homogenen Gruppe zu tun haben und die Einzelinteressen ständig im Vordergrund stehen.“ Nach Müschenich geht es um eine Identitätsfrage, die sich jeder Arzt stellen sollte: „Definiere ich mich rein über mein Fachwissen? Bin ich der bezahlte Experte und unfrei? Dann muss ich damit leben, ersetzbar zu sein. Oder will ich ein Gestalter sein, der sich nicht nur über Wissen definiert, sondern für den Patienten ein Lotse durch das Gesundheitssystem ist?“

Nun gehen die Honorarverhandlungen in den Ländern in die zweite Runde. Und nächstes Jahr fängt alles wieder von vorne an. Oder kommt es ganz anders? Die KBV hat Mitte November eine Gesamtbefragung aller Vertragsärzte und -psychotherapeuten zur Zukunft des Versorgungsauftrags gestartet. Den Systemausstieg versuchte zuletzt der Bayerische Hausärzteverband 2010 – erfolglos. Vielleicht kommt auch einfach heraus, dass die Niedergelassenen gar nicht so unzufrieden sind.

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