
Der Begriff der Prävention geht zurück auf das lateinische Wort praevenire: zuvorkommen. Prävention setzt im Gegensatz zur Therapie zeitlich vor Eintritt einer Erkrankung an und minimiert bekannte Risikofaktoren. Dabei unterscheidet man verschiedene Strategien und Ansätze.
Je nach Interventionszeitraum lassen sich drei Strategien unterscheiden:
- Primärprävention bezeichnet die Verminderung von (Teil-) Ursachen bestimmter Erkrankungen oder von Krankheit überhaupt. Durch Primärprävention soll die Wahrscheinlichkeit des Krankheitseintritts - bevölkerungsbezogen die Anzahl der Neuerkrankungen (Inzidenz) - verringert und/oder die Erkrankung in höhere Lebensalter verschoben werden.
- Sekundärprävention beginnt mit der Entdeckung von meist noch symptomlosen, aber biomedizinisch eindeutig feststellbaren Frühstadien einer Erkrankung (Früherkennung). Durch die Vorverlegung der medizinisch- kurativen Behandlung soll die Erkrankung vermieden bzw. der Krankheitsverlauf gemildert werden.
- Tertiärprävention zielt darauf, Folge- und Spätschäden einer bereits eingetretenen, manifesten Erkrankung zu verzögern, zu begrenzen oder zu verhindern. Sie umschließt die medizinische Behandlung chronischer Krankheiten einschließlich der Vermeidung des Wiedereintritts eines akuten Krankheitszustands (Rezidivprophylaxe). Vielfach wird aber auch ein engeres Konzept zugrunde gelegt, dem zufolge Tertiärprävention darauf zielt, medizinische, psychische, berufliche und soziale Einschränkungen oder Funktionsverluste, die infolge einer Krankheit auftreten (können), zu vermeiden, zu verzögern oder zu lindern. Hier wird Tertiärprävention weitgehend mit Rehabilitation gleichgesetzt.
Medizinische und nichtmedizinische Prävention
Unterscheiden lassen sich auch medizinische und nicht-medizinische Prävention. In der Primärprävention ist vor allem die Impfung Sache der Medizin, die Sekundärprävention ist insgesamt eine im Kern medizinische Aufgabe. In der Tertiärprävention gibt es fließende Übergänge, weil Therapie und Rehabilitation beide (und am besten gemeinsam) darauf zielen, Chronifizierung und Tod zu verhindern. Die medizinische Seite der Prävention ist in Deutschland – bei allen Defiziten – gut geregelt und vor allem über das SGB V, VI, VII, IX und XI verlässlich finanziert.
Die große Versorgungslücke liegt in der nicht-medizinischen Primärprävention. Das zeigt die Gesundheitsentwicklung der Bevölkerung: Am kontinuierlichen Anstieg der Lebenserwartung um knapp zwei Jahre pro Jahrzehnt hat die kurative Medizin einen Anteil von maximal einem Drittel. Zwei Drittel gehen auf eine – im Einzelnen und in ihren wechselseitigen Abhängigkeiten durchaus nicht immer klare – Mischung zurück: verbesserte Lebens-, Arbeits-, Wohn- und Verkehrsverhältnisse, bessere Ernährungs- und Bildungsbedingungen und in der Folge auch gesundheitsgerechteres Verhalten.
Auf der anderen Seite lassen sich ungefähr drei Viertel des Krankheits- und Sterbegeschehens und auch der Versorgungsausgaben in den reichen Ländern neben Unfällen auf die wenigen großen regelmäßig chronisch-degenerativ verlaufenden Krankheiten zurückführen: Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Muskel-Skelett-Erkrankungen, Diabetes, chronisch obstruktive Lungenkrankheit (COPD) sowie – mit der höchsten Steigerungsrate – psychische Erkrankungen. In den meisten Fällen kann die Medizin hier nicht wirklich heilen, es muss – meist lebenslang – therapiert und/oder unterstützt werden. Das ist die wichtigste Ursache dafür, dass für etwa ein Fünftel der Versicherten etwa vier Fünftel der Versorgungskosten aufgewendet werden müssen. Alle diese Erkrankungen sind aber grundsätzlich zu einem sehr hohen Anteil der Primärprävention zugänglich. Unter den chronisch Kranken sind Menschen aus den unteren Sozialschichten stark überrepräsentiert.
Sozial bedingte Unterschiede in der Lebenserwartung
Die Chancen für ein gesundes und langes Leben sind in Deutschland extrem ungleich verteilt: Arme Männer (Frauen) sterben in Deutschland 10,8 (8,4) Jahre früher als wohlhabende. Zudem werden bei ihnen chronisch-degenerative Erkrankungen 3,5 (0,8) Jahre früher behandlungsbedürftig, sodass arme Menschen im Durchschnitt 14,3 (9,2) gesunde Jahre weniger zu leben haben als wohlhabende. Diese sozial bedingte Ungleichheit von Gesundheitschancen folgt der sozialen Schichtung der Gesellschaft und bildet ein Kontinuum.
Mit der zunehmenden sozialen Spreizung vergrößern sich die Abstände in der sowohl Morbidität als auch Mortalität. Die Unterschiede erklären sich etwa zur Hälfte aus den Folgen gesundheitlich riskanteren Verhaltens in den Unterschichten (vor allem Ernährung, Bewegung, Rauchen, Stressregulation), die andere Hälfte ist die Folge direkter Wirkungen aus der sozialen Lage, wie etwa schlechtere Wohnbedingungen, geringere Handlungsspielräume und schwächere soziale Netze.
Versuche, das Gesundheitsverhalten durch Information, Erziehung, Kurse, Kampagnen und Aufklärung zu verändern, führen zu nur geringen und meist nicht nachhaltigen Erfolgen. Durch Verbesserungen der Medizin kann dieses Problem kaum angegangen werden. Gebraucht werden vor allem nicht-medizinische Interventionen und Strategien der Primärprävention, die insbesondere bei sozial benachteiligten Menschen auf die Vermeidung oder zeitliche Verschiebung chronisch-degenerativer Erkrankungen abzielen.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat 1986 mit der Ottawa-Charta für Gesundheitsförderung Fundamente und Eckpunkte für eine Herangehensweise vorgelegt, mit denen diese zentrale Herausforderung erfolgreich angegangen werden kann. Die Charta thematisiert drei Innovationen: Erstens geht es bei Prävention nun nicht mehr nur um die Senkung von Gesundheitsbelastungen (durch die soziale Lage und riskantes Verhalten), sondern mindestens ebenso stark um die Steigerung von Gesundheitsressourcen (vor allem Selbstwertgefühl, Selbstwirksamkeit, Einbindung in soziale Netze). Diese Ressourcen steigern nicht nur die Widerstandkraft gegen gesundheitliche Belastungen (Resilienz), sondern befähigen auch besser zur Veränderung sowohl des Verhaltens als auch der gesundheitlich belastenden und gesundheitlich belastendes Verhalten begünstigenden Lebenswelt. Das ist der Aspekt der Gesundheitsförderung.
Zum Zweiten werden sehr viele Interventionen erst dann wirksam, wenn sie in der Lebenswelt ansetzen und dabei auf die Veränderung nicht nur des Verhaltens, sondern auch der störenden und belastenden Faktoren der physischen und sozialen Umwelt abzielen. Solche Interventionen zielen also auf die Lebenswelt bzw. das Setting.
Zum Dritten ist es für die Wirksamkeit essenziell, dass die Zielgruppen solcher Interventionen von vornherein an der Auswahl, dem Entwurf, der Umsetzung und der Weiterführung solcher Interventionen direkt beteiligt sind und maximalen Einfluss haben. Dieser Prozess der direkten Beteiligung ist für den Gewinn an Gesundheitsressourcen mindestens ebenso wichtig wie die damit zu erzielenden Veränderungen der Umwelt. Beispielhaft und erfolgreich zeigt sich dies in Projekten der betrieblichen Gesundheitsförderung, bei denen durch Vorschläge in Gesundheitszirkeln durch direkte Partizipation der Beschäftigten die Arbeitssituation in technischer und sozialer Hinsicht verändert wird und in der Folge der Krankenstand zeitstabil um etwa ein Drittel sinkt, während Arbeits- und Lebenszufriedenheit steigen. Demonstriert wird dies auch durch die HIV/Aids-Prävention, deren Gestaltung in Deutschland wesentlich in den Händen der am stärksten betroffenen Gruppen liegt, und eben nicht nur das Verhalten, sondern auch solche Faktoren thematisiert, die das Verhalten beeinflussen, zum Beispiel Diskriminierung. Das Modell führte zu den niedrigsten HIV-Neuinfektionsraten in Europa. Der Ansatz der partizipativen Gestaltung gesundheitsförderlicher Settings lässt sich erfolgreich auf Kitas, Schulen, Alteneinrichtungen, Freizeitstätten und soziale Brennpunkte übertragen.
- Die Qualität nicht-medizinischer Primärprävention lässt sich an fünf Kriterien feststellen. Belastungssenkung und Ressourcenförderung: Neben der Senkung von Gesundheitsbelastungen kommt es darauf an, die gesundheitsdienlichen Ressourcen der Zielgruppen zu vermehren bzw. zu steigern, zumal dadurch auch die Chancen erfolgreicher Belastungssenkung steigen.
- Aufwertung unspezifischer Interventionen: Die Beeinflussung von allgemein gesundheitsförderlichen Faktoren (Partizipation, soziale Unterstützung, Selbstwertgefühl, Achtsamkeit) hat in der Regel einen größeren präventiven Effekt als die unmittelbare Bearbeitung von Faktoren, deren kausale Beziehung zu Krankheitsentstehung (zum Beispiel Bewegungsmangel, Tabakrauchen) sehr viel enger ist.
- Priorität für Kontextbeeinflussung: Die Wahrscheinlichkeit des Erfolgs steigt mit der Beeinflussung der Bedingungen und der sozialen Zusammenhänge gesundheitsriskanten Verhaltens. Das gilt sowohl auf individueller Ebene als auch im Setting sowie im Rahmen von Kampagnen für die gesamte Bevölkerung oder für definierte Teilgruppen.
- Priorität für Partizipation: Gesundheitsprojekte müssen auf allen Stufen der Planung und Durchführung partizipativ gestaltet werden. Einerseits damit an den tatsächlichen Bedürfnissen der Zielgruppen angesetzt werden kann, andererseits weil die mangelnde Teilhabe an der Gestaltung der eigenen Lebensbedingungen selbst eine Gesundheitsbelastung und einen Ressourcenmangel darstellt.
- Qualitätssicherung: Um die Potenziale dieser vier Innovationen der Primärprävention nachhaltig zur Gestaltung zu bringen und zu verallgemeinern, tritt Qualitätssicherung als Querschnittserfordernis hinzu.
Zu wenig Mittel, zu wenig Struktur
Die gegenwärtige Praxis der Primärprävention erfüllt diese Kriterien durchweg nicht. Zwar gibt es sehr viele gute Einzelprojekte, aber diese enden meist nach kurzer Förderungsdauer. Die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) kann – trotz vieler guter Ansätze und Projekte – den ihr seit 1999 übertragenen Auftrag, mit Primärprävention insbesondere einen Beitrag zur Verminderung sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen (zu) erbringen, nicht wirklich erfüllen. Die dazu vorgesehenen Mittel (2011 ca. 4,33 Euro pro Versicherten pro Jahr) sind absurd gering und weder die anderen Sozialversicherungen noch staatliche Stellen beteiligen sich systematisch. Zudem setzt die Konkurrenz in der GKV zusammen mit den Defiziten des Risikostrukturausgleichs keinen wirtschaftlichen Anreiz für die Kassen, einen Schwerpunkt auf die Prävention mit sozial Benachteiligten zu legen. Auch sind derzeit weder Zielorientierung noch Qualitätssicherung in der Prävention verbindlich.
Seit Jahren fordern die Zivilgesellschaft, Wissenschaft und die derzeitige Opposition im Bundestag ein Bundesgesetz zur nichtmedizinischen Primärprävention und Gesundheitsförderung, das diesen Defiziten effektiv begegnet. Der jetzt im Bundeskabinett beschlossene Gesetzentwurf ist nicht geeignet, diese Defizite zu beheben. Die Kluft zwischen dem Tatsächlichen und dem gesundheitspolitisch Möglichen (und Notwendigen) nimmt weiter zu.