Interview

"Settings in den Fokus rücken"

Portrait des Gesundheitswissenschaftlers Prof. Dr. Rolf Rosenbrock

Im mittlerweile vierten Anlauf soll jetzt ein Präventionsgesetz kommen. Die finanziellen Mittel sollen deutlich aufgestockt, die betriebliche Gesundheitsförderung und die Prävention in Lebenswelten gestärkt werden. Gesundheitswissenschaftler Prof. Dr. Rolf Rosenbrock ist seit Jahrzehnten mit dem Thema Prävention vertraut. Im Gespräch mit ersatzkasse magazin. wirft er einen kritischen Blick auf die Vorhaben und Finanzierung sowie auf die Herausforderungen der Prävention.

Herr Prof. Dr. Rosenbrock, sorgen Sie regelmäßig für Ihre Gesundheit vor?

Prof. Dr. Rolf Rosenbrock Ich bemühe mich, befriedigende soziale Beziehungen zu unterhalten, Spaß an meiner Arbeit zu haben, und daraus resultiert die Motivation, mich gut zu bewegen und darauf zu achten, was ich esse. Dabei ist die Reihenfolge wichtig, denn Versuche, Gesundheit über äußerliches Verhalten herzustellen, zeigten bislang wenig Erfolg und sind auch wissenschaftlich unplausibel. Die Motivation zur Selbstachtsamkeit im Hinblick auf Gesundheit folgt aus der Lebenszufriedenheit und der Lust auf die eigene Zukunft. Hier spielen die Lebenswelten, in denen sich jeder Einzelne bewegt, eine sehr große Rolle. Damit beschäftigt sich die moderne Prävention.

Spiegelt sich der Ansatz in der Realität wider?

Ich glaube, dass weder die professionellen Gesundheitspolitiker noch die Sozialversicherungsträger, und erst recht nicht die Bevölkerung, das Ausmaß der Herausforderungen und Chancen erkennen, die in der Prävention liegen. Dass die Menschen immer älter werden, liegt maximal zu einem Drittel an besserer Medizin und Gesundheitsversorgung. Zwei Drittel machen freundlichere Lebensverhältnisse, bessere Bildung und – vorwiegend dadurch induziert – auch weniger belastendes Verhalten aus. Doch leider gilt nach wie vor für die meisten Politiker wie für die Bevölkerung: Die Gesundheit kommt vom Arzt.

Erfährt die Prävention durch das Präventionsgesetz eine Aufwertung in Ihrem Sinne?

Erfreulich ist, dass die Lebenswelten in den Fokus gerückt werden. Die Ausgaben für Lebenswelten-Interventionen werden in etwa vervierfacht, dadurch erfährt der sogenannte Setting-Ansatz tatsächlich eine starke und von den Gesundheitswissenschaften seit 25 Jahren geforderte Aufwertung. Aber hier geht es dann vielleicht darum, 2.000 Schulen gesundheitsförderlich zu gestalten, in Deutschland gibt es aber über 40.000 Schulen. Dieses Beispiel zeigt, dass weder faktisch noch vom Bewusstsein her die Riesenchance erkannt wurde.

Die finanziellen Mittel werden ja aber deutlich aufgestockt, der Richtwert steigt von sechs auf sieben Euro je Versicherter. Reicht das nicht?  

Mehr Geld steht für mich nicht im Zentrum. Wichtig ist, dass die Prävention in Lebenswelten eindeutig privilegiert ist gegenüber den bisherigen Verhaltensangeboten. Künftig fließen anstatt wie bisher nur 20 Prozent der Mittel der Krankenkassen 60 Prozent in den Setting-Ansatz, 40 Prozent in Verhaltensangebote. Dies ist ein symbolischer, aber bedeutender Schritt mit langfristigen Wirkungen. Natürlich kann ich mit diesen Mitteln bessere Programme starten und langfristiger planen, daher finde ich die Aufstockung generell schon befriedigend. Wir hätten auch gar nicht genügend qualifizierte Akteure, um drei Milliarden Euro auszugeben.

Hauptfinanzier der Prävention bleibt die GKV. 

Es ist ein Problem, dass nach wie vor die GKV praktisch fast die ganze Last der gesellschaftlichen Verantwortung auf ihren Schultern trägt. Man muss aber auch sehen, welche Akteure wirklich fähig, willens und motiviert sind für diese Aufgaben und auch die Ressourcen und Expertise haben. Die GKV hat zum größten Teil gute Arbeit geleistet, wenn ich zum Beispiel an die betriebliche Gesundheitsförderung denke, mit der die GKV seit 1989 praktisch aus dem Stand an die Spitze der internationalen Bewegung vorgeschnellt ist. Allerdings haben die Krankenkassen Begrenzungen, die in den Anreizen liegen, die Staat und Gesetzgeber setzen. So ist es für die Kassen im Wettbewerb nach wie vor interessanter, junge gutverdienende Bankangestellte zu versichern als multimorbide Rollstuhlfahrer. Zugleich haben sie den Auftrag, sozial bedingte Ungleichheit zu vermindern. Das ist ein Zielkonflikt, für den die Kassen nichts können. Ein guter Ansatz ist daher, dass sie nicht zwingend das vorgesehene Budget ausgeben müssen, sondern überschüssige Mittel dem GKV-Spitzenverband übergeben, um damit in die Prävention ohne Wettbewerbsdruck zu investieren.

Wieso wird nicht auch die private Krankenversicherung (PKV) finanziell in die Pflicht genommen?

Das wäre logisch, ist aber rechtlich unmöglich, weil die PKV ein Konglomerat gewinnwirtschaftlicher Unternehmen ist und man sie daher nicht über ein einfaches Präventionsgesetz zur Finanzierung zwingen kann. Deshalb gibt es stets diese krummen Lösungen mit der freiwilligen Finanzierung. Ich kenne das aus der Unabhängigen Patientenberatung, wo der Anteil der PKV-Versicherten, der sich da beraten lässt, überproportional hoch ist. Dafür zahlt die PKV aber auch und ist hier ein verlässlicher Partner. Daher glaube ich, dass sie sich auch bei der Prävention beteiligen wird. Schön ist die Lösung natürlich trotzdem nicht.  

Künftig soll die GKV 50 Cent pro Versicherter an die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) zahlen. Wo verorten Sie die BZgA in der Prävention?

Da bin ich sehr ambivalent. Ordnungspolitisch ist es eigentlich absurd, dass die GKV in einer Wettbewerbsgesellschaft gezwungen wird, der BZgA pro Jahr einen Auftrag für 35 Millionen Euro zu erteilen. Tatsache aber ist, dass die BZgA in Fragen moderner Prävention und Gesundheitsförderung fachlich gut aufgestellt ist. Sie hat auch den Kooperationsverbund Gesundheitliche Chancengleichheit ins Leben gerufen, der eine wichtige Rolle bei der Initiierung, fachlichen Begleitung, Qualitätssicherung und Kommunikation von Setting-Projekten für sozial Benachteiligte hat. Wenn die BZgA diesen Kooperationsverbund mit den 35 Millionen Euro ausbaut, würde ich sogar alle ordnungspolitischen Augen zukneifen.  

Warum übernimmt nicht die öffentliche Hand die Finanzierung der BZgA, die dem Gesundheitsministerium nachgeordnet ist?

Das wäre naheliegend, denn der Staat ist dazu da, seine Behörden zu gründen, zu führen und zu finanzieren. Es war bereits bei vorherigen Anläufen für ein Präventionsgesetz der Grundfehler, nur auf die Sozialversicherung zu zielen. Denn eigentlich findet alle Prävention auf kommunaler Ebene statt. Aber wenn für die Kommunen Prävention und Gesundheitsförderung freiwillige Ausgaben sind, ist der Mechanismus vorgezeichnet, dass sie sich so weit wie möglich unter Verweis auf die Kassen zurückziehen.  

30 Cent pro Versicherter fließen erstmals in die Pflegeversicherung. Begrüßenswert?

Es ist ein Einstieg. Es ist natürlich sehr wenig Geld und soll auch nur in die stationäre Pflege fließen. Dabei befinden sich viel mehr Menschen in der ambulanten Pflege. Man darf auch nicht nur auf Pflegebedürftige gucken, sondern auch auf Pflegende und Angehörige. Das ist eine Herausforderung, die der Gesetzentwurf noch gar nicht angeht. Eine andere Herausforderung ist die Verminderung sozialer Ungleichheit. Dass dies im Gesetz steht, ist sehr wichtig und auch im internationalen Vergleich eine sehr gute Bestimmung. Irritiert bin ich allerdings darüber, dass auch geschlechtlich bedingte Ungleichheit reduziert werden soll; Frauen haben andere Belastungen und Ressourcen als Männer, sie werden auch anders krank, leben im Durchschnitt länger, haben eine andere Selbstwahrnehmung und andere Muster der Selbstachtsamkeit. Die Verminderung dieser Ungleichheiten ist meiner Meinung nach nicht sinnvoll als Auftrag in einem Präventionsgesetz. Vielmehr sollte Prävention einen Beitrag zur Verminderung sozial bedingter Ungleichheit leisten und dabei den Besonderheiten der Altersstufen, Geschlechter und Lebenslagen Rechnung tragen. Denn bei Männern und Frauen liegt bei sozial Benachteiligten die Lebenserwartung zehn Jahre unter den Wohlhabenden, das ist das Problem. Für beide Geschlechter gehören die sozial bedingten Ungleichheiten vermindert.

Wie schafft man das?

Ärmere Menschen haben in der Regel weniger psychosoziale Gesundheitsressourcen, etwa weniger Selbstwertgefühl und Selbstwirksamkeitserfahrungen und eine geringere Verankerung in sozial hilfreichen Netzen. Stärkt man diese Faktoren, stärkt man auch die Voraussetzungen zu besserem Verhalten. Diese psychosozialen Gesundheitsressourcen werden gefördert und gestärkt, indem man praktisch tätig wird. Daher besteht der Setting-Ansatz darin, Menschen beispielsweise an sozialen Brennpunkten die Möglichkeit zu geben, ihre Umwelten mehr nach eigenen Bedürfnissen zu gestalten; die Wahrnehmung dafür zu schärfen, dass man seine Umwelt verändern kann, anstatt sich ihr nur anzupassen. Das ist die simple Idee hinter Setting-Prävention.

Gibt es herausragende Beispiele?

Das Leuchtturmprojekt ist die betriebliche Gesundheitsförderung mit partizipativer Organisationsentwicklung. Wo  beispielsweise Delegierte eines Betriebs in Gesundheitszirkeln unter professioneller Moderation Verbesserungsvorschläge erarbeiten, die auf Basis eines Vertrages zwischen Kasse, Betriebsleitung und Belegschaftsvertretung dann auch so weit wie möglich umgesetzt werden. Diese Verbindlichkeit führt zum verblüffenden Ergebnis, dass die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit bis zu 30 Prozent zurückgeht, und zwar über mehrere Jahre. Natürlich ist für kleine Betriebe die Umsetzung nicht so einfach. Das ist nach wie vor ein massives Problem, für das bislang keiner eine richtig gute Patentlösung parat hat.  

Wo sehen Sie die Rolle des Arztes in der Prävention?  

Der Gesetzentwurf sieht vor, dass der Arzt künftig Empfehlungen für individuelle Verhaltensprävention aussprechen soll. Das aber hat keinen Effekt. Sie würden nur dann Sinn machen, wenn Versicherte nicht an einem von ihnen gewünschten Präventionskurs teilnehmen dürfen, was aber praktisch nicht vorkommt. Deswegen steckt dahinter viel Symbolik, um den Ärzten das Gefühl zu geben, sie seien stark an der Prävention beteiligt. Abgesehen davon setzt es voraus, dass Ärzte Gesundheitsberatung machen können. Dies ist aber nicht unbedingt ein medizinischer Akt, sondern muss gelernt werden. Die Arztpraxis ist ganz generell einfach nicht der Ort, wo wirksame Prävention in Gang gesetzt oder organisiert werden kann. Ärzte sollten das, was sie wirklich können, gut machen. Das würde mir schon reichen.

Besteht die Chance, endlich eine einheitliche Präventionsstrategie auf den Weg zu bringen?

Die Abwesenheit einer Gesamtstrategie ist ein Problem. Man kann mit Prävention überall anfangen: Schulen, Kitas, Stadtteile, Betriebe, Altenheime, Pflegeeinrichtungen, Freizeitzentren. Aber wir können nicht alles auf einmal machen und müssen daher unsere Energien bündeln. Der Gesetzentwurf sieht durch die Präventionskonferenz eine gewisse Koordination vor, allerdings ist diese zu klein gehalten. Denn dort sitzen nur Staat und Sozialversicherungsträger, aber weder Wissenschaft noch Zivilgesellschaft. Besonders zu beklagen ist, dass im derzeitigen Entwurf weder das Bundesbauministerium mit seiner Verantwortung für das Programm „Soziale Stadt“ noch die Bundesagentur für Arbeit mit ihrer Verantwortung für die Millionenschar der gesundheitlich besonders gefährdeten Arbeitslosen angemessen vertreten sind.

Auf übergeordnete Gesundheitsziele hat man sich im Gesetz schon verständigt. Sinnvoll?

Nein, das ist ein Widerspruch in sich. Wenn man eine Präventionskonferenz einrichtet, sollte sie die Verfahren bestimmen, mit denen man Ziele definiert und zur Umsetzung konkretisiert. Zumal diese Ziele keine Präventionsziele sind, zum Beispiel steht dort, man solle an Diabetes mellitus Typ 2 Erkrankte früh erkennen und behandeln. Aus Sicht der Gesundheitswissenschaften ist es in aller Regel falsch, krankheitsspezifische Ziele vorzugeben. Um die große Wende in der Prävention anzustoßen, muss es um Förderung von Gesundheit zur Verminderung der Wahrscheinlichkeit von Krankheit gehen. Dieses Denken findet sich im Gesetzentwurf noch nicht durchgängig wieder. Ich hoffe, dass im parlamentarischen Verfahren noch Veränderungen möglich sind.

Wie viele Ansätze für ein Präventionsgesetz wird die Bundesregierung noch machen?

Diese Regierung wird nur diesen einen Anlauf machen und ich bin zuversichtlich, dass es diesmal funktioniert. Ich bin mir aber auch ganz sicher, dass wir damit nicht am Ende der Präventionsgesetzgebung in Deutschland angelangt sind.

Weitere Artikel aus ersatzkasse magazin. 1./2.2015