Kinder- und Jugendmedizin heute: Ein Spiegel der Gesellschaft

Grafik: Eltern mit ihren Kindern im Wartezimmer beim Kinderarzt

Die meisten Kinder hierzulande sind körperlich gesund. Immer mehr Heranwachsende scheitern jedoch an den gesellschaftlichen Anforderungen – und reagieren mit andauernden körperlichen oder psychischen Störungen. Um sie zu behandeln, brauchen Kinderärzte Unterstützung.

Der sächsische Arzt Otto Heubner sagte vor 130 Jahren: „Kranke Kinder sind andere Objekte als Erwachsene.“ Dieser Satz gilt als die Geburtsstunde der Kinderheilkunde. Denn Heubner begründete damals erstmals eine eigenständige kinderärztliche Schule, im Jahr 1880 wurde er als Professor für Kinderheilkunde an die Medizinische Fakultät der Universität Leipzig berufen. Bis 1913 baute der Mediziner dann an der Berliner Charité eine Kinderklinik auf. Seitdem ist die Pädiatrie erwachsen geworden. Sie hat sich nicht nur von ihren „Eltern“ – den Fachbereichen der Geburtshilfe und Inneren Medizin –, längst emanzipiert. Auch inhaltlich hat sich viel verändert. „Noch vor 60 Jahren haben wir vor allem die Folgen von Infektionskrankheiten wie Masern oder Diphtherie oder Mangelernährung behandelt“, erklärt Prof. Norbert Wagner, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinderund Jugendmedizin (DGKJ). „Heute sehen wir Kinderärzte durch verbesserte Lebensverhältnisse, Impfungen und wirksame Therapien schwerer Organerkrankungen eher komplexe Störungen. Die meisten können wir nicht mehr nur medizinisch lösen.“

Auch demografische, kulturelle und soziale Veränderungen führen zum „Wechsel hin zu neuen Morbiditäten“. „Neben chronischen Erkrankungen wie Asthma oder krankhaftem Übergewicht haben Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS), Verhaltensauffälligkeiten oder Sprachentwicklungsstörungen in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen“, weiß der Direktor der Klinik für Kinderund Jugendmedizin des Universitätsklinikums Aachen. Ein Medikament allein reiche oft nicht. „Um Kinder und Jugendliche zukünftig wirksam behandeln zu können, brauchen wir neue vorbeugende und therapeutische Ansätze“, so Wagner.

Die Ergebnisse der Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS) des Robert Koch-Instituts (RKI) zur Kinderund Jugendgesundheit geben dem Experten recht. Für diese erste repräsentative Studie in Deutschland untersuchten und befragten Forscher über zehn Jahre 17.641 Kinder und Jugendliche und deren Eltern. Die Auswertung der Daten aus den Jahren 2003 bis 2006 zeigte, dass 93 von 100 Befragten gesund sind.

Allerdings gibt es immer mehr Kinder, die an chronisch allergischen Problemen wie Asthma, Heuschnupfen oder Neurodermitis erkranken. So leiden der KiGGSStudie zufolge beispielsweise 3,2 Prozent aller Jungen an Asthma und etwa jeder zehnte an Heuschnupfen. Einen wichtigen Grund dafür hat die Wissenschaft mittlerweile erkannt: „Das Immunsystem der Kinder muss sich heute weniger mit Infektionen auseinandersetzen, weil das städtische Leben sehr clean ist“, erklärt Kinderarzt Wagner. „Wer dagegen auf dem Bauernhof aufwächst, hat durch die Tiere früher und häufiger Kontakt mit Bakterien. Kinder vom Bauernhof haben ein geringeres Risiko für Asthma.“

Doch nicht nur das Immunsystem der Heranwachsenden spielt in unseren modernen Zeiten verrückt. Kinder und Jugendliche sind zunehmend psychisch krank. Nationalen und internationalen Untersuchungen zufolge betrifft das etwa jedes 20. Kind oder Jugendlichen. In Deutschland glauben 17 von 100 Heranwachsenden, bei sich Anzeichen für eine psychische Störung zu erkennen. Glaubt man den Beobachtungen der Eltern, ist sogar jedes dritte Kind auffällig. Kinder sind besonders oft aggressiv oder ihr sozialer Umgang ist auffällig. Sie haben Probleme mit Gleichaltrigen, sind ängstlich, depressiv, unaufmerksam oder besonders hibbelig.

ADHS eine Modediagnose?

Es gibt Untersuchungen, nach denen fast jeder fünfte im Jahr 2000 geborene Junge ADHS haben soll. DGKJ-Präsident Wagner sieht solche Zahlen kritisch. „Vielleicht rutschen heute tatsächlich mehr Kinder als früher im Unterricht unkonzentriert auf dem Stuhl herum“, sagt er. Dass alle raufenden Jungs allerdings gleich krank sind, bezweifelt er. Das moderne Zappelphilipp-Syndrom ist umstritten: Für die einen ist ADHS eine Modediagnose, für die anderen das unterschätzte Leiden schlechthin. Ebenso kritisch wie die Diagnose wird auch die Therapie mit dem in vielen Fällen verordneten Medikament Ritalin diskutiert. „Wir sind heute sensibler für Verhaltensauffälligkeiten.“ Viele Eltern fordern die ADHS-Diagnose samt Tabletten regelrecht ein. „Vielleicht weil das einfacher erscheint, als das eigene Leben mehr auf das Kind einzurichten“, spekuliert Wagner. Doch statt durch Diagnosen abzustempeln, sollte sich die Gesellschaft lieber fragen, wo Gesundheit endet, Krankheit beginnt und wie sie mit dem Graubereich dazwischen umgeht, so der Aachener Mediziner.

Am Beispiel ADHS zeigt sich die große gesellschaftliche Relevanz vieler aktueller pädiatrischer Störungen – und warum auch Kinderärzte heute oft keine einfachen Lösungen mehr präsentieren können. „Die Leistungsgesellschaft fordert Eltern viel ab“, erklärt Wagner. „Nicht selten reichen sie diesen Druck an die Kinder weiter.“ Das Dilemma kennt Wagner aus sozial schwachen Schichten genauso wie aus wohlhabenden Familien. „Unterm Strich sind eine hohe Erwartungshaltung gepaart mit eigener Zeitnot keine gute Basis für ein harmonisches Heranwachsen“, weiß Kinderarzt Wagner. „Das Ergebnis sind vielschichtige Störungen, die nicht allein organisch bedingt sind, sondern maßgeblich durch die gesellschaftliche Situation mitbestimmt werden.“

Die Kinder von heute sind nicht nur zappeliger, sondern bringen auch wesentlich mehr Pfunde auf die Waage. Im Vergleich zu 1999 hat sich ihre Anzahl verdoppelt. Mittlerweile sind fast zwei Millionen Kinder und Jugendliche übergewichtig, zusätzliche 800.000 gar fettleibig. Dick sind vor allem Kinder, deren Eltern sozial nicht so gut gestellt sind oder einen Migrationshintergrund haben. „Schon heute steht Übergewicht für soziale Schwäche und Armut“, warnt Wagner. Wie sich dieser Umstand in den nächsten 20 Jahren entwickelt, vermag der Experte nicht vorherzusagen. Damit unsere hoch entwickelte Gesellschaft jedoch zukünftig in der Lage ist, solch offensichtlichen Fehlentwicklungen rechtzeitig zu begegnen, fordert er ein grundsätzliches Umdenken.

Wagners Vorstoß zählt zu den drängenden Anliegen der Kinderund Jugendexperten: Zuletzt stellte er sein Konzept der sozialen Prävention auf dem Kinder- und Jugendärztekongress im September in Düsseldorf vor. Es sieht vor, dass Kinderärzte, Erziehungsberatung und Jugendhilfe sich mehr miteinander verzahnen. „Wir brauchen Kinder-Gesundheitszentren, in denen Ärzte, Sozialarbeiter, Psychologen und Jugendamt unter einem Dach zusammenarbeiten“, verdeutlicht Wagner. „Nur so schaffen wir es, Kindern die Therapien anzubieten, die sie brauchen.“ Bisher gingen viele Familien auf dem Weg vom Kinderarzt zur Familienhilfe verloren – vor allem die, die Hilfe besonders nötig haben. „Wir Kinderärzte bieten an, unsere Türen für neue Strukturen zu öffnen.“

Vorsorge erweitern

Auch die Bundesregierung hat erkannt, dass die Kinderund Jugendmedizin neue Impulse braucht. Als Antwort auf die Ergebnisse der KiGGS-Studie formulierte sie im Jahr 2009 die „Strategie zur Verbesserung der Kindergesundheit“. Nun unterstützt sie spezielle Programme, welche die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen stärken und/oder asthmakranke Kinder im Umgang mit ihrer Krankheit schulen. Zukünftig soll die gesetzliche Vorsorge für Kinder noch erweitert werden. Bisher sind die Kinderuntersuchungen U1 bis U9 und die Jugendgesundheitsuntersuchung J1 vorgesehen. Zusätzlich zum gesetzlichen Angebot bieten schon heute einige Krankenkassen ihren Versicherten die Früherkennungsuntersuchungen U10, U11 und J2. Außerdem ist geplant, die Vorsorge um Aspekte der psychischen Gesundheit zu erweitern. Emotionale Probleme, Ängste, Depressionen oder Essstörungen ließen sich dadurch frühzeitig erkennen und behandeln.

Der DGKJ-Präsident begrüßt das Engagement von Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr und seinem Ministerium. Denn je eher beispielsweise Übergewicht festgestellt werde, desto eher könne man auf das Essverhalten des Kindes und der Familie einwirken. Meist ist ja das Elternhaus Vorbild für die Fehlernährung. „Dennoch werden die zusätzlichen Angebote in der Früherkennung nie ausreichen“, weiß Wagner. „Wir brauchen einen globaleren Ansatz.“ Kinder, die beispielsweise durch zu viel ungesundes Essen und zu wenig Bewegung auffallen, könnten durch frühe Hilfe davon wegkommen. Damit das klappt, müssten aber alle an einem Strang ziehen: die Schulkantine, das Elternhaus, der Sozialarbeiter im Jugendamt und der Trainer im Sportverein oder Jugendclub.

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