Interview

"Die Pflege ist eindeutig zu kurz gekommen"

Staatssekretär Karl-Josef Laumann, Patientenbeauftragter der Bundesregierung sowie Bevollmächtigter für Pflege

Die Große Koalition will mehr für die Pflege tun – und dafür auch mehr Geld bereitstellen. Der Koalitionsvertrag sieht eine Steigerung von insgesamt 0,5 Beitragssatzpunkten in der sozialen Pflegeversicherung vor, um Leistungen zu dynamisieren und zu verbessern sowie einen Vorsorgefonds aufzubauen.  Zudem soll der lang diskutierte neue Pflegebedürftigkeitsbegriff nun endlich umgesetzt werden. Seit Anfang Januar 2014 ist Staatssekretär Karl-Josef Laumann der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange der Patientinnen und Patienten sowie Bevollmächtigter für Pflege. Im Gespräch mit ersatzkasse magazin. erläutert der erfahrene Sozialpolitiker, wie er seine Rolle interpretiert und welche Aufgaben auf ihn zukommen. Handlungsbedarf sieht er vor allem in der Pflege.

Herr Laumann, Sie sind schon lange in der Politik tätig. Was reizt Sie an Ihrer neuen Aufgabe als Patientenbeauftragter und Pflege-Bevollmächtigter?

Karl-Josef Laumann Dieses Amt macht deutlich, dass sich die Regierung auch um die Belange der kleinen, normalen Leute in unserem Gesundheits- und Pflegesystem kümmert. Aber wenn ich ehrlich bin, hätte mich die Funktion „Patientenbeauftragter“ allein nicht gereizt, ebenso wenig wie „Pflege-Bevollmächtigter“. Es ist die Kombination, die es interessant macht, beides muss man zusammen sehen. Ein Schwerpunkt der Gesundheitspolitik ist die Qualitätssicherung, damit verbunden mehr Transparenz und mehr Rechte für Versicherte. Zugleich wird die Pflege erhebliche Debatten bestimmen. Eine große Antriebskraft für dieses Amt ist meine Beobachtung, dass die Pflege bislang eindeutig zu kurz gekommen ist. Das hat mich sehr geärgert und das will ich ändern.

Blicken wir zunächst zurück. Im Februar letzten Jahres trat das Patientenrechtegesetz in Kraft. Wie fällt Ihre Bilanz aus?

Seit 20 Jahren wurde über das Patientenrechtegesetz diskutiert, da muss man sich jetzt nicht rühmen, dass es verabschiedet wurde. Aber es macht deutlich, wie die deutsche Tradition im Gesundheitswesen aussieht: Patientenrechte kamen eigentlich nicht vor. Heute aber geht man normaler damit um. Das liegt auch daran, dass die Bürger neue Informationsmöglichkeiten und -zugänge haben, allein durch das Internet. So gibt es dann immer mehr gut aufgeklärte Patienten. Und nur der mündige Patient kann auch seine Rechte wahrnehmen. Entsprechend spielt hier das Gesetz eine wichtige Rolle in der Entwicklung. Das sollte man jetzt erst mal wirken lassen. Ich bin der Meinung, dass man bei einem Gesetz, das noch nicht lange in Kraft ist, nicht sofort über Novellierung reden sollte.

Hätten Sie sich aus Sicht des Patientenbeauftragten denn noch mehr gewünscht, etwa in Bezug auf den Schutz der Patienten vor Individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL)?

Ich glaube nicht, dass man in einem Patientenrechtegesetz auch das letzte IGeL-Angebot regeln kann. Der selbstbewusste Patient weiß, was er macht und was nicht. Es gibt ja durchaus IGeL-Angebote, die ich als vernünftig erachte, andere wiederum nicht. Aber wenn über IGeL vernünftig aufgeklärt wurde, ist dagegen nichts einzuwenden. Ich will ja auch kein Gesundheitssystem, wo alles verboten ist. Aber IGeL-Angebote dürfen in keinem Fall aufgedrängt werden.

Und was sagen Sie zum Thema Behandlungsfehler?

Was Fehler im Gesundheitssystem angeht, vertrete ich eine vielleicht etwas eigenwillige Meinung. Mein Job muss auch dazu dienen, dass wir Fehler, die passieren, nicht skandalisieren. Überall, wo Menschen arbeiten, passieren Fehler. Im Gesundheitsbereich sind diese natürlich besonders tragisch, aber sie sind nicht auszuschließen. Deswegen möchte ich, dass wir in unserem Gesundheitssystem zu einer Fehlerkultur kommen, in der mit Fehlern offen umgegangen und aus ihnen gelernt wird. Der schlimmste Fehler ist eigentlich der vertuschte Fehler: Der Schaden ist da und es wird nichts daraus gelernt.

Welche Einflussmöglichkeiten haben Sie generell auf Gesetzgebungsprozesse oder anstehende Entscheidungen im Gesundheitswesen?

Die Einflussmöglichkeiten sind optimal, aber das hängt auch damit zusammen, dass ich politisch gut vernetzt bin. Einfluss muss man sich immer erkämpfen. Die rechtliche Grundlage und der Kabinettsbeschluss versehen mich mit bestimmten Rechten, in der Pflege und bei Patientenrechten kann nichts an mir vorbeilaufen. Entscheidend ist vor allem, Einfluss auf die politische Willensbildung zu nehmen. In meinem Amt geht es nicht nur darum, Themen in der Öffentlichkeit zu besetzen, sondern auch Themen, die anliegen oder aus der Sicht des Amtes sowie aus Gesprächen heraus erwachsen, in die Gesetzgebung mit einfließen zu lassen.

Kommen wir zur Pflege. Vorgesehen bei der Pflegeversicherung ist eine Beitragssatzerhöhung zum 1. Januar 2015 um zunächst 0,3 Beitragssatzpunkte, nach Umsetzung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffes um noch mal 0,2 Beitragssatzpunkte. Zudem ist eine Pflegerücklage geplant. Sie sprachen es anfangs selbst an: Muss mehr Gewicht auf der Pflege liegen?

Das ist offenkundig, auch die Bevölkerung sieht, dass da mehr gemacht werden muss. So gab es kaum Kritik an der Erhöhung des Pflegeversicherungsbeitrags seitens der Versicherten und Arbeitgeber, das heißt schon was. Es macht deutlich, dass wir dafür eine breite gesellschaftliche Akzeptanz haben. Jeder hat zur Pflege irgendeinen Bezug, es berührt die Menschen.

Wo sehen Sie die größten Baustellen?

In der Alten- und Krankenhauspflege haben wir viel mehr Fälle als früher, ebenso mehr Ärzte, aber weniger Pflegekräfte. Jeder, der mit offenen Augen durch ein Krankenhaus geht, merkt, dass die für die Pflege verantwortlichen Menschen bis zum Anschlag belastet sind. Die Pflegekräfte fühlen sich selbst als fünftes Rad am Wagen, deshalb wünschen sie zum Beispiel auch die Verkammerung. Sie werden selbstbewusster und ich sage Ihnen, die Leute haben meine volle Sympathie für das, was sie tun.

Wie lassen sich mehr Pflegekräfte gewinnen?

Ich denke, langfristig brauchen wir eine Generalistik. Das Ziel muss sein, dass die Pflegekräfte breiter eingesetzt werden können und der Beruf dadurch auch aufgewertet wird. Dass es möglich ist, aus der Altenpflege in ein Krankenhaus zu wechseln und umgekehrt. Darüber hinaus müssen wir in allen Regionen Deutschlands genug Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen. Dadurch, dass wir in Nordrhein-Westfalen die Ausbildungsumlage eingeführt haben, konnten wir die Ausbildung um 30 Prozent nach oben drücken. Aber dies ist eben leider nicht in ganz Deutschland so. Außerdem: Es kann nicht sein, dass es heute möglich ist, in einem Land wie Berlin Arzt zu werden mit daran anschließend überdurchschnittlichem Einkommen, ohne Studiengebühren entrichten zu müssen, aber für die Ausbildung zur Altenpflegefachkraft mit anschließender teilweise schlechter Bezahlung ist Schulgeld fällig. An diesem Beispiel wird die Schere in unserer Gesellschaft deutlich und da wird es mal Zeit, dass es einen Politiker gibt, der mit der Faust drauf haut. In diesem Zuge müssen natürlich auch die Bundesländer zu ihrer Verantwortung stehen. Es ist nicht in Ordnung, wenn ein Landeshaushalt das Geld nicht zur Verfügung stellen kann, um eine Pflegefachschule zu finanzieren.

Welche Bedeutung messen Sie pflegenden Angehörigen bei?                     

Die Familien werden kleiner, aber wir müssen eine starke Beteiligung der häuslichen Pflege erhalten. Daher sind niederschwellige Angebote besonders wichtig. Hier ist vor allem auch die Kommunalpolitik mit den kleinen Lebenskreisen gefordert. Für Trainer örtlicher Sportvereine beispielsweise gibt es eine Übungsleiterpauschale im Steuerrecht. So etwas kann ich mir auch in der Pflege vorstellen. Warum soll man nicht einen Rentner schulen, wie man mit an Demenz erkrankten Menschen umgeht, sodass er dann ein Mal in der Woche die Begleitung übernimmt und pflegende Angehörige entlastet, dafür aber auch ein paar Euro in der Stunde bekommt? Das ist zwar keine Bezahlung in dem Sinne, aber schon eine Anerkennung.

Sie fordern generell eine bessere Bezahlung der Pflegekräfte. Das könnte in der Pflegeversicherung als Teilkasko-Versicherung zu einem gewissen Dilemma führen. Entweder steigen die Versicherungsbeiträge oder der Eigenanteil der Versicherten.

Die Wertschätzung menschlicher Arbeit hat auch mit der Bezahlung zu tun. Natürlich müssen Pflegekräfte fair bezahlt werden. Ich persönlich glaube, dass die Antwort auf die Frage, wie Pflegekräfte bezahlt werden, regional sehr unterschiedlich ist. Wenn ich die Haushaltsmittel in einigen Wochen zur Verfügung habe, dann wird eine meiner ersten Amtshandlungen sein, eine Studie in Auftrag zu geben zur Frage der regionalen Bezahlung von Pflegefachkräften. Ich will nicht vorweggreifen, aber meinen Beobachtungen zufolge gibt es in Deutschland einerseits Regionen, wo die Bezahlung fair ist, andererseits wo sie unterirdisch ist. Das  muss endlich öffentlich werden. Die Betroffenen wissen schon Bescheid, um welche Regionen es geht. Das wird für sie nicht schön werden. Natürlich muss der Politik in dem Zuge die Pflege auch entsprechend viel wert sein.

Reichen da die im Koalitionsvertrag beschlossenen Vorhaben?

Mit unseren Entscheidungen im Koalitionsvertrag können wir die Leistungen in der Pflegeversicherung um 20 Prozent erhöhen. Das ist viel, aber auch dann wieder wenig. Mein Job ist es aufzupassen, dass dieses Geld am Pflegebett ankommt. Dass es dem nützt, der gepflegt wird, und dass es der bekommt, der die Pflege leistet. Sie glauben ja gar nicht, was ich in den letzten Wochen alles an Ideen erlebe, was mit dem Geld in der Pflegeversicherung jetzt Schönes für die Menschheit in den Regionen bezahlt werden muss. Das geht so weit, dass die Kommunen damit ihre Stadtteilquartiere entwickeln. Aber ich bin da ganz klar in meinem Kopf aufgestellt. Das Geld muss die Situation der Pflegebedürftigen verbessern, genauso wie die Situation der Pflegekräfte. Ich werde sehr darauf achten, dass dies stattfindet. Insofern ist es ganz gut, wenn es einen gibt, der auch mal Dinge kritisch hinterfragen kann.

Lange diskutiert wurde über den Pflegebedürftigkeitsbegriff. Jetzt soll er zunächst in Modellregionen getestet werden. Kommt es damit erneut zu einer Verschiebung?

Meine Meinung ist ganz klar: Der Pflegebedürftigkeitsbegriff muss in dieser Legislaturperiode umgesetzt werden. Da wurde lange genug geredet, es ist überreif. Nun ist die Frage, wie man es schlau macht. Ich denke, der jetzige Weg ist der richtige, nämlich: Wir verbessern mit der ersten Beitragserhöhung die Leistungen so, dass es zum neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff passt. Dieser ist ja nun kein Hexenwerk, sondern bedeutet im Grunde, dass Betreuung und Anleitung eine größere Rolle spielen als beim bisherigen Pflegebegriff, was kompatibel zu machen ist. Wenn sich alle Mühe geben und es wirklich wollen, dann muss es doch möglich sein, zum 1. Januar 2017 auch in vollem Umfang mit dem, was wir uns vorgenommen haben, im Bundesgesetzblatt zu stehen. Ich werde auf jeden Fall sehr darauf drängen. Wir haben so lange darüber geredet, jetzt ist doch auch mal gut gewesen. Selbst wenn einer auf die Idee kommt, das alles noch mal neu erfinden zu wollen, er würde doch gar keine Kommission mehr finden, zumindest nicht mit Rang und Namen. Das ist doch wirklich ausdiskutiert.

Wo liegen jetzt die Herausforderungen?

Wichtig ist, dass sich das Ministerium und auch die Fachpolitik nicht unter Zeitdruck setzen lassen und Schnellschüsse machen. Die fünf Milliarden Euro, über die wir in Sachen Leistungsverbesserungen reden, sind schneller ausgegeben, als man denkt. Wir müssen zusehen, dass die Verteilung der Mittel wirklich mit Sinn und Verstand gemacht wird.

0,1 Beitragssatzpunkte fließen in einen Vorsorgefonds, um das System angesichts der demografischen Entwicklung stabil zu halten. Berechnungen deuten bereits darauf hin, dass es nicht reicht. Muss da noch etwas nachfließen?

Wir legen pro Jahr eine Milliarde Euro zurück, das ist ein Signal in die richtige Richtung. Es unterstützt auch mein politisches Bemühen, nicht die Augen davor zu verschließen, was auf uns zukommt. Und es federt die künftigen Lasten für die jüngere Generation ab, wenn die geburtenstarken Jahrgänge, zu denen auch ich gehöre, nach 2030 verstärkt in das „Pflegealter“ kommen.

Wenn Sie vier Jahre in die Zukunft blicken, was möchten Sie erreicht haben als Patientenbeauftragter und Pflege-Bevollmächtigter?

Mein großer Wunsch ist, dass ein großer Teil der Bevölkerung sagt: „Gut, dass wir den Laumann hatten.“ Ich lege nicht so viel Wert darauf, dass es die Großen im Gesundheitssystem sagen, sondern mehr die normalen Leute, die Patienten, die Pflegebedürftigen, die Pflegekräfte. Und da wollen wir mal gucken.

 

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