Prävention und Gesundheitsförderung in der Langzeitpflege haben mit dem im Juli 2015 in Kraft getretenen Präventionsgesetz in Deutschland neue Aktualität erfahren. Für die stationäre Langzeitpflege ist § 5 SGB XI prägend. Danach sollen die Pflegekassen nun Leistungen zur Prävention in der stationären Langzeitpflege unter Beteiligung von Pflegebedürftigen und Pflegeeinrichtungen erbringen. Konkret besteht ihre Aufgabe darin, die Pflegeeinrichtungen zu beraten, wie sie die gesundheitlichen Ressourcen und Fähigkeiten der Bewohner stärken können.
Die aktuellen gesetzlichen Entwicklungen lassen den Eindruck entstehen, dass ein neues Thema Einzug in die pflegerische Versorgung hält. Aber Prävention und Gesundheitsförderung sind der gerontologischen Pflege nicht fremd – sie sind seit jeher Teil der Ausbildung und des Selbstverständnisses. Die professionelle Altenpflege formuliert als eines ihrer Ziele, die Potenziale älterer Menschen zu entdecken und zu fördern. Und die professionelle Pflege wird als Begleiter und Trainer zum Erhalt und zur Förderung eigenverantwortlicher Lebensgestaltung und gesundheitlichen Wohlbefindens verstanden, weitere Einbußen sollen vermieden werden. In der Langzeitpflege werden seit vielen Jahren die folgenden Themen der Prävention und Gesundheitsförderung diskutiert: Mobilität und Mobilitätsförderung, aktivierende Pflege sowie die Sicherung und Gestaltung der sozialen Bereiche des Lebens. Im Einzelnen geht es darum, Kontakte bei Kommunikationsproblemen zu fördern, auf die Verwendung von Hörgeräten und anderen Hilfsmitteln hinzuwirken, die Bewohner zu aktivieren und deren Potenziale zu stärken.
Die entscheidende Veränderung in der pflegerischen Versorgung ist nun, dass mit der Einführung § 5 SGB XI erstmalig die stationäre Langzeitpflege sowie eine besonders vulnerable Bevölkerungsgruppe für die Thematik Prävention und Gesundheitsförderung explizit gesetzgeberisch berücksichtigt werden. Die Pflegekassen sind jetzt in der Pflicht, entsprechende Maßnahmen und Interventionen zu fördern. Des Weiteren werden zukünftig Fragen nach wirksamen Maßnahmen und Interventionen in den Vordergrund der Diskussionen rücken, sodass der Gesetzgeber für die gerontologische Pflege in Theorie, Forschung und Praxis die Tür zu neuen Entwicklungsmöglichkeiten geöffnet hat. Gleichwohl bleiben diverse Fragen, Themen und Einschränkungen offen, die nachfolgend erörtert werden.
Gesunde Pflegeeinrichtung als Ziel
In der stationären Langzeitpflege leben überwiegend hochaltrige Menschen über 80 Jahre mit einer bereits weit vorangeschrittenen Pflegebedürftigkeit. Sie leben in aller Regel nicht über einen langen Zeitraum in den Pflegeeinrichtungen. Aus diesem Grunde sollten die Ziele, die mit präventiven Maßnahmen erreicht werden sollten, sehr gut definiert werden. In der gesundheitswissenschaftlichen Literatur werden die folgenden allgemeinen Ziele von Prävention im Alter diskutiert:
- Förderung und Erhalt der eigenständigen Lebensführung
- Erhalt der Förderung von Lebensqualität
- Erhalt und Förderung der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit
- Ermöglichung von Teilhabe
- Vorbeugung bzw. Verzögerung altersbedingter Erkrankungen, die im Alter mit höherer Wahrscheinlichkeit auftreten (zum Beispiel Gelenkerkrankungen, Diabetes, Krebserkrankungen)
- Vermeidung von körperlichen und psychischen Erkrankungen
- Verringerung krankheitsbedingter Probleme
- Vorbeugung der Verschlechterungen des Allgemeinzustandes
- Aufrechterhaltung eines Systems der Unterstützung
- Verzögerung und Vermeidung weiterer Hilfe- und Pflegebedürftigkeit
Die meisten dieser Ziele können auf die stationäre Langzeitpflege übertragen werden – jedoch unter dem Vorbehalt der besonderen Bewohnerstruktur, die mit erhöhter Pflegebedürftigkeit, Multimorbidität, Hochaltrigkeit und kurzen Wohnzeiten in den Einrichtungen einhergeht. Es fehlen systematische Erkenntnisse darüber, welche Interventionen und Maßnahmen erforderlich sind, um diese Ziele zu erreichen. Die hier kurz skizzierten Ziele sind auch zu allgemein gehalten und sollten für Maßnahmen und Interventionen der Verhältnis- und Verhaltensintervention, für unterschiedliche Grade und Ursachen von Pflegebedürftigkeit angemessen zugeordnet und operationalisiert werden.
Theoretische Konzepte
Eine relevante Voraussetzung für den Nachweis von wirksamen und wirkungsvollen präventiven Maßnahmen und Interventionen in der Langzeitpflege ist eine angemessene theoretische Fundierung. Es wäre beispielsweise denkbar, auf die theoretischen Konzepte des „Active Ageing“ (2002) oder „Healthy Ageing“ (2012) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zurückzugreifen. Diese zielen darauf ab, durch Veränderung von Strukturen und Rahmenbedingungen älteren Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung im Bereich Gesundheit zu ermöglichen. Das übergreifende Ziel besteht darin, Gesundheitsförderung in jedem Alter zu unterstützen, wobei „Healthy Ageing“ auch die Gestaltung der Strukturen der gesundheitlichen und pflegerischen Versorgung und die Förderung der subjektiven Gesundheit und Lebensqualität, die Förderung von Ressourcen und die Berücksichtigung der individuellen und sozialen Lage umfasst. Mit diesen beiden Konstrukten sollen förderliche Lebenswelten entstehen, die zur Gesundheitserhaltung älterer Menschen beitragen – zum Beispiel durch eine zielgenaue und bedarfsgerechte Ausrichtung von bestehenden Versorgungssystemen auf die Versorgungsbedarfe der Gruppe älterer Menschen. Das Konzept „Active Ageing“ beinhaltet vor allem Fragen zur Wahrung der Unabhängigkeit und Aktivität während des gesamten Lebens. Auch beschäftigt es sich mit der Herausforderung, welche gesundheitsrelevanten und vorbeugenden Maßnahmen ergriffen werden sollten und wie es gelingen kann, die Lebensqualität auch vor dem Hintergrund der steigenden Lebenserwartung zu erhalten.
Solche theoretischen Ansätze oder Modelle geben mögliche Erklärungsansätze, wie Menschen mit den Veränderungen des Alterns umgehen. Sie bieten demzufolge gute Grundlagen, präventive Maßnahmen und Intervention begründet zu entwickeln und die Ansatzpunkte der Maßnahmen sowie die Wirkungen zu wählen. Gegebenenfalls können die präventiven Maßnahmen zielorientierter und damit wirksamer entwickelt werden, da sie an die Ressourcen und psychologischen Grundlagen sowie physiologischen Veränderungen und Erkenntnisse von Alterungsprozessen anschließen. Es macht einen Unterschied, ob eine präventive Maßnahme gezielt die Fähigkeiten einer Zielgruppe trainiert – oder nach dem Gießkannenprinzip relativ ziellos irgendeine Form der Bewegung unterstützt, beispielsweise den Sitztanz und das Basteln für alle.
Alle Beteiligten in der Pflegeeinrichtung einbeziehen
Weiterhin ist eine wirksame Prävention in der Langzeitpflege nur mit Gesunderhaltung der Pflegekräfte in den Einrichtungen möglich, da sie einen relevanten Umweltfaktor und Faktor in der Leistungserbringung darstellen. Zukünftig wird es demzufolge relevant sein, systematisch betriebliches Gesundheitsmanagement und betriebliche Gesundheitsförderung in die stationäre Langzeitpflege einzuführen (zum Beispiel Work-Family-Balance, Work-Life-Balance, Age- und Demografiemanagement) oder auch die Professionalisierung der Führungsebenen. Dazu gehört auch eine systematische Personalentwicklung (zum Beispiel durch Qualifikations- und Kompetenzentwicklung).
Stationäre Langzeitpflege neu zu denken, bedeutet insbesondere, sie als „gesunde Pflegeeinrichtung bzw. gesundheitsfördernde Pflegeeinrichtung“ zu denken. Es gibt bereits den vielversprechenden Ansatz, Pflegeeinrichtungen durch qualifizierte Beratungslotsen in die Lage zu versetzen, auf dem Weg zu einer gesundheitsfördernden Einrichtung eigene Bedarfe auf den unterschiedlichen Ebenen zu entwickeln. Von der Unterstützung der Lotsen und den getroffenen Maßnahmen bei der gesundheitsfördernden Organisationsentwicklung profitieren letztlich das Personal und die Pflegebedürftigen.
Ausblick
Mit dem Präventionsgesetz sind also nicht nur relevante Punkte der Prävention in der Allgemeinbevölkerung, sondern auch das relevante Setting der stationären Langzeitpflege berücksichtigt worden. Die Chance in der Umsetzung des § 5 SGB XI besteht darin, Einrichtungen stationärer Langzeitpflege als gesunde Einrichtungen auf allen Ebenen zu denken. Das negative Stigma, das der Langzeitpflege immer noch anhaftet, kann abgebaut und ein positives Bild mit entsprechenden relevanten Prozessen der Organisationsentwicklung aufgebaut werden. Der Weg zu einer gesundheitsfördernden Einrichtung kann nur dann erfolgreich sein, wenn alle Ebenen – von der Führungsetage über die Mitarbeitenden bis zu den Bewohnern – integriert werden.