Die Bundesregierung hat die Absicht, die gesetzlichen Krankenkassen dem Wettbewerbsrecht zu unterwerfen. Die rheinland-pfälzische Gesundheitsministerin Malu Dreyer hält das für einen Fehler. Im Interview mit ersatzkasse magazin. äußert sie massive Bedenken gegenüber dem geplanten Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen und warnt im Zuge der Ausweitung des Kartellrechts vor den Folgen für die Krankenkassen und damit für die gesundheitliche Versorgung zum Wohle der Versicherten.
Die Bundesregierung plant, das Wettbewerbs- und Kartellrecht auf die gesetzlichen Krankenkassen zu übertragen. Sie haben sich dagegen ausgesprochen. Was sind Ihre Hauptargumente?
Malu Dreyer: Die von der Bundesregierung geplante Ausweitung des Kartellrechts auf die gesetzlichen Krankenkassen soll ohne Not und ohne ausreichende Kenntnis der schwerwiegenden Folgen vorgenommen werden. Hier wird ein Paradigmenwechsel eingeleitet, der weder erforderlich noch sinnvoll ist und der dem System der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und damit den gesetzlich krankenversicherten Menschen in unserem Land großen Schaden zufügen kann.
Ein Verbot, dass Krankenkassen sich abstimmen, gemeinsame Beschlüsse fassen oder ihr Handeln untereinander koordinieren, ist systemfremd in der GKV, die traditionell und im Einklang mit den geltenden rechtlichen Regelungen die Versorgung der Versicherten gemeinsam und einheitlich organisiert.
Sollte das Kartellrecht künftig den gemeinsamen Einkauf von Leistungen durch die Krankenkassen beschränken, können die Leistungsanbieter höhere Preise durchsetzen – damit steigen die Ausgaben der Kassen und die Beiträge der Versicherten.
Darüber hinaus würde die Vielfalt der Versorgung eingeschränkt. Viele Verträge und Programme, beispielsweise Disease-Management- Programme, integrierte Versorgungsformen oder Früherkennung und Frühförderung behinderter Kinder, wären nicht mehr möglich, da sie häufig eine kassenübergreifende Zusammenarbeit erfordern, um die notwendige Zahl an Versicherten für die Schaffung neuer Strukturen zu erreichen.
Wenn der Gesetzgeber in der Begründung der neuen Regelung darlegt, dass „gemeinsame Verhaltensweisen der Krankenkassen, deren Schwerpunkt nicht in einer Beschränkung des Wettbewerbs, sondern in einer im Patienteninteresse sinnvollen gemeinsamen Organisation der Versorgung liegt, kartellrechtlich unbedenklich sein dürften“, begegne ich dieser Aussage mit großer Skepsis.
In einer Antwort des Bundesgesundheitsministeriums auf die Kleine Anfrage betreffend die GWB-Novelle wird darauf hingewiesen, dass die Beurteilung einer Neu-Gründung von ARGEn von den Umständen des Einzelfalls abhängig sei. Als Gesundheitsministerin von Rheinland-Pfalz kann ich mit einer solchen Antwort nicht zufrieden sein; meines Erachtens ist eine Einzelfallbewertung willkürlich und gibt den gesetzlichen Krankenkassen und den Versicherten keinerlei Planungssicherheit.
Sie sprechen in Zusammenhang mit der geplanten Neuregelung von falsch verstandenem Liberalismus. Was meinen Sie damit?
Die Bundesregierung will vom besonderen Versorgungsauftrag der sozialen Krankenversicherung abweichen, die Gestaltungsmöglichkeiten der Länder im Bereich der Aufsichtsrechte über die landesunmittelbaren Krankenkassen weiter einschränken und die Kompetenz der Sozialgerichtsbarkeit in einem elementar wichtigen Bereich – der medizinischen Versorgung der Bevölkerung – infrage stellen. Dies stellt meines Erachtens keine „Liberalisierung des gesetzlichen Krankenversicherungsmarktes“ dar, sondern dient der langfristigen Auflösung des etablierten Solidarsystems in Deutschland.
Gesetzliche Krankenkassen versorgen ihre Versicherten unter den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen des Gesundheitsfonds und ohne eigene Erwerbsinteressen mit medizinisch notwendigen Leistungen der Krankenbehandlung. In dem Zusammenhang ist für Regelungen, die die GKV in die Nähe privatwirtschaftlicher Unternehmen rücken, kein Raum. Gesetzliche Krankenkassen sind keine Privatunternehmen. Das hat der Europäische Gerichtshof wiederholt entschieden.
Bekommt die GKV einen anderen Charakter, wenn sie dem Kartellrecht unterliegen würde?
Alles, was zur Sicherung des Wettbewerbs der Krankenkassen untereinander um die Versicherten und deren Versorgung mithilfe von Verträgen erforderlich ist, ist im SGB V bereits festgelegt und völlig ausreichend. In § 4 SGB V wird ausdrücklich gefordert, dass gesetzliche Krankenkassen im Interesse der Leistungsfähigkeit und Wirtschaftlichkeit eng zusammenarbeiten müssen. Dazu zählen auch die Verpflichtungen der Krankenkassen zum gemeinsamen Handeln und zur Abstimmung untereinander.
Das geplante Verbot einer engen Zusammenarbeit mittels Kartellrecht widerspricht dieser Zielsetzung jedoch diametral. Künftig dürften die Gründung von Arbeitsgemeinschaften, etwa im IT-Bereich oder bei der Vertragskooperation, und die Koordinierung von Leistungsentscheidungen unter den Krankenkassen sehr erschwert oder gar nicht mehr möglich sein. Sogenannte „Rettungsfusionen“ würden ebenso erschwert wie der Abschluss von Selektivverträgen, Modellprojekten und zum Beispiel der Abschluss von Rabattverträgen.
Mit dem vorgelegten Entwurf der GWB-Novelle wird die soziale Zwecksetzung der GKV, ihre solidarische Finanzierung und die sozialgesetzliche Gestaltungskompetenz durch den Gesetzgeber und die Selbstverwaltung infrage gestellt.
Wo sehen Sie die zentralen Unterschiede zwischen privaten Unternehmen und gesetzlichen Krankenkassen?
In der GKV mit rund 70 Millionen Versicherten herrscht das Solidarprinzip mit weitgehend noch einkommensabhängigen Beiträgen vor. Die GKV hat einen sozialen Auftrag und anders als private Unternehmen nicht die Absicht, Gewinne zu erzielen. Die Krankenkassen agieren unter einheitlichen Rahmenbedingungen. Wettbewerb gibt es in engen sozialrechtlichen Grenzen mit Kontrahierungszwang, Risikostrukturausgleich, größtenteils einheitlichem Leistungskatalog und anderem mehr, was die GKV auch maßgeblich von der privaten Krankenversicherung unterscheidet. Das Kooperationsgebot, das eine gleichmäßige und effiziente Versorgung sicherstellen soll, hatte ich schon erwähnt.
Auch wenn die Krankenkassen in den letzten Jahren zunehmend auch wettbewerbliche Instrumente an die Hand bekommen haben, bleibt die GKV doch insgesamt ein bundesweites Solidarsystem. Während hier immer noch das Gemeinsame im Vordergrund steht, setzen private Unternehmen weitaus stärker auf Unterscheidbarkeit ihrer Produkte und Dienstleistungen und sind entsprechend wettbewerblich orientiert.
Kartellamtspräsident Andreas Mundt argumentiert, dass die „Nachfragemacht der Kassen“ ohne die Gesetzesnovelle ausufern würde. Was erwidern Sie aus Sicht einer Landesgesundheitsministerin darauf?
Man muss berücksichtigen, dass Wettbewerb in der GKV zum Wohle der Patienten und den Beitragszahlern stattfindet, damit die medizinische Versorgung insgesamt verbessert wird. Damit verfolgt der Wettbewerb in diesem Kontext nicht in erster Linie rein wirtschaftliche Ziele. Deshalb kann man gesetzliche Krankenkassen auch nicht wie Unternehmen behandeln. Krankenkassen müssen ihren Versicherten gute und effiziente medizinische Behandlung bieten.
Darüber hinaus steht einer Bündelung von Kasseninteressen, wie etwa bei der Gründung von Vertragsarbeitsgemeinschaften, in der Regel auch ein Monopol auf Anbieterseite gegenüber.
Die Kassen verhandeln in der Regel mit den Standesorganisationen der Leistungsanbieter (Krankenhausgesellschaft, Kassenärztliche Vereinigungen, Apothekerverbände), sodass auch vor diesem Hintergrund eine Parität gewährleistet sein muss. Es macht durchaus Sinn, dass auch auf der Nachfragerseite, also bei den Krankenkassen, eine entsprechende Verhandlungsstärke vorhanden sein sollte. Ansonsten sehe ich die Gefahr, dass das Verhandlungsgleichgewicht verloren geht. Geht dieses verloren, weil sich die Krankenkassen nicht mehr so abstimmen dürfen, wie das bisher der Fall war, steht zu befürchten, dass sich das Gesundheitswesen verteuert, ohne dass die Versicherten davon etwas haben. Das ist widersinnig.
Wie viel Kooperation, wie viele Absprachen dürfen Ihrer Meinung nach in der GKV erlaubt sein, und welche Handlungsfelder betrifft das?
Entgegen der Auffassung der Bundesregierung sehe ich sehr wohl einen Konflikt zwischen Kooperationsgebot und Wettbewerbsrecht. Sofern das Bundesgesundheitsministerium vorträgt, dass Kooperationen zwischen Krankenkassen zwar weiterhin wünschenswert sind, solange diese nicht zu unzulässigen Wettbewerbsbeschränkungen im Sinne des GWB führen, widerspricht es sich nach meiner Meinung.
Zu beachten sind doch die längerfristigen Folgen für die Versicherten und für deren künftige medizinische Versorgung, wenn seit Jahren bewährte Vorschriften des SGB V künftig ins Leere laufen. Eben dieses Kooperationsgebot der Kassen untereinander, in definierten Bereichen gemeinsam und einheitlich zu handeln, kann bei einer Anwendung privatrechtlicher Maßstäbe nicht länger gelebt werden.
Jede Zusammenarbeit von Kassen, die nicht unmittelbar durch einen gesetzlichen Auftrag veranlasst ist, wäre demnach freistellungsbedürftig durch das Bundeskartellamt. Betroffen sind nach meiner derzeitigen Einschätzung so gut wie sämtliche Handlungsfelder der GKV.
Die Gesetzesnovelle beträfe auch die Zuständigkeiten der Gerichte. Die Sozialgerichte wären bei Wettbewerbsstreitigkeiten außen vor, nur noch die Zivilgerichte zuständig. Was halten Sie davon?
Die Tatsache, dass die Zuständigkeit der Sozialgerichte zugunsten der Kartellsenate der Oberlandesgerichte zurückgedrängt werden soll, wirft nicht zuletzt auch Fragen der Effektivität des Rechtsschutzes auf.
Prozesse, die in einem rein wettbewerbsrechtlichen Umfeld geführt werden, dürften dem besonderen Versorgungsauftrag der sozialen Krankenversicherung nicht mehr gerecht werden.
Sehen Sie, wenn es zur Gesetzesnovelle kommt, auch Folgen für die Kompetenzen der Länder?
Da die Krankenkassen der Rechtsaufsicht einer Landesaufsichtsbehörde bzw. des Bundesversicherungsamtes unterstehen, gibt es derzeit keinerlei Regelunglücken, die mit dem Vorhaben der Bundesregierung geschlossen werden müssten. In der Gesetzesnovelle ist jedoch eine vorrangige Fusionskontrolle durch das Bundeskartellamt vorgesehen zulasten der Aufsichtsbehörden von Bund und Ländern. Nunmehr sollen erst nach „Freizeichnung“ durch die obersten Wettbewerbshüter die bisher schon vorhandenen und bewährten aufsichtsrechtlichen Kontrollmechanismen greifen.
Das Kartellrecht könnte dazu führen, dass eine freiwillige Kassenfusion unmöglich wird, obwohl sie wirtschaftlich sinnvoll wäre. Dessen ungeachtet bleibt der gesetzlich normierte Haftungsverbund der Kassenarten bestehen, der die Kassen verpflichtet, für die Schulden insolventer oder geschlossener Krankenkassen aufzukommen.
Stichwort Europa: Müssen im Sinne der Angleichung der Systeme nicht auch die sozialrechtlichen und wettbewerbsrechtlichen Regeln vereinheitlicht werden?
Derzeit liegt die Kompetenz für die Organisation und Finanzierung des Gesundheitswesens bei den einzelnen Mitgliedstaaten. Das ist angesichts sehr unterschiedlicher Strukturen, Traditionen und Problemlagen auch gut so. Das solidarische Krankenversicherungssystem in Deutschland steht für mich nicht zur Disposition. Mit der schrittweisen Unterwerfung der GKV unter das Wettbewerbsrecht droht Deutschland aber der Verlust der nationalen Regelungskompetenz für weite Teile der Gesundheitsversorgung. Dessen Auswirkungen können wir derzeit noch gar nicht abschätzen.
Die zunehmende Privatisierung im Gesundheitswesen würde zwangsläufig zu einem größeren Einfluss der Europäischen Union führen. Laut EU-Recht wäre nämlich die EU-Kommission für Grundsätze und Einzelfragen im Bereich der wettbewerblichen Regulierung von gesetzlichen Krankenkassen zuständig, der sukzessive dem Einfluss deutscher Behörden entzogen würde.
Der besondere Versorgungsauftrag der gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland könnte nicht mehr berücksichtigt werden. Bislang vertritt der Europäische Gerichtshof die Auffassung, dass die gesetzlichen Krankenkassen keine Unternehmen im herkömmlichen Sinne sind. Damit unterliegen sie auch nicht dem EU-Wettbewerbsrecht, da die Kassen nach Maßgabe des SGB V nicht wettbewerblich und gewinnorientiert, sondern in Erfüllung hoheitlicher Aufgaben handeln. Dies könnte sich ändern, wenn der solidarische Charakter der Krankenversicherung unter die Räder kommt.
Im Bundesrat hat besonders Ihr Land Rheinland- Pfalz massive Bedenken am Gesetz geäußert und Sie haben Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr in einem Brief aufgefordert, der GKV keinen Schaden zuzufügen. Was wären mögliche nächste Schritte, wenn der Bundestag bei seinem Vorhaben bleibt? Die Novelle ist ja nicht zustimmungspflichtig.
Entgegen der Auffassung der Bundesregierung gehe ich davon aus, dass die vorgesehenen Änderungen nur mit Zustimmung des Bundesrates Gesetzeskraft werden erlangen können. Darüber hinaus liegt die berechtigte Annahme vor, dass die vorgesehenen Kompetenzen des Bundeskartellamtes verfassungswidrig sind. Rheinland-Pfalz beabsichtigt daher, in dem für den Herbst 2012 zu erwartenden zweiten Bundesratsdurchgang den Vermittlungsausschuss anzurufen, sollte der Deutsche Bundestag den Vorstellungen der Bundesregierung zum Thema Kartellrecht folgen.
Wenn die Gesetzesnovelle von der Bundesregierung trotz Widerständen verabschiedet würde: Gäbe es eine Möglichkeit, das Gesetz im Falle eines Regierungswechsels wieder zurückzudrehen?
Ich habe nach wie vor die Hoffnung, dass die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen die Einsicht haben werden, sich mit den Folgen ihres geplanten Vorhabens zu befassen. Das Ergebnis dieser Prüfung kann nur der Verzicht auf die vorgesehenen Regelungen sein. Sollte dies nicht der Fall sein, wird es auf die nächste Bundesregierung ankommen, nach 2013 den entstandenen Schaden zu beheben und sämtliche Regelungen zur Ausweitung des Wettbewerbsrechts wieder rückgängig zu machen.