
Entgegen dem ambitionierten Titel ist mit dem Pflege-Neuausrichtungs- Gesetz (PNG) die Chance einer Neuausrichtung der sozialen Pflegeversicherung vertan worden. Es fehlt an nachhaltigen Regelungen. Nichtsdestotrotz kommen zahlreiche Detailregelungen den Versicherten zugute und weisen zumindest teilweise in eine richtige Richtung.
Nun ist es also amtlich. Das PNG trat in wesentlichen Teilen am 30. Oktober 2012 in Kraft. Schrittweise werden weitere wichtige Regelungen zum 1. Januar 2013 bzw. zum 1. Juni 2013 folgen. Bereits im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens zeichnete sich leider die fehlende Nachhaltigkeit dieser Reform ab. Der Titel „Neuausrichtung“ erscheint da eher hoch gegriffen.
Die festgeschriebene Beitragssatzerhöhung um 0,1 Prozentpunkte reicht nach eigenen Angaben der Regierung nur bis Anfang 2015, spätestens dann wird sich wieder die (leidige) Frage nach einer Anpassung der Finanzierungsbasis stellen. Weit gedacht ist so etwas nicht. Die Überarbeitung des allseits als unzulänglich eingeschätzten Pflegebedürftigkeitsbegriffs wird zwar in einem neu eingerichteten Expertenbeirat beim Bundesgesundheitsministerium mit vielen Experten aus der Pflegeszene vorangetrieben, nur fehlt mal wieder eine gesetzliche Fixierung für eine Einführung. Den Ergebnissen der Arbeit des neuen Beirats droht ein ähnliches Schicksal wie bereits der Arbeit des „alten Beirats“, dessen Ergebnisse im Jahr 2009 von der damaligen großen Koalition auch nicht politisch verbindlich aufgegriffen wurden. Zudem bleibt in den aktuellen Einschätzungen zur vorgelegten Pflegereform unerwähnt, dass der Gesetzgeber es wiederum versäumt, eine angemessene Dynamisierung der Pflegeleistungen festzuschreiben. Die bisher gesetzlich verankerte Dynamisierung, wonach die Bundesregierung alle drei Jahre eine Anpassung überprüft, ist unzureichend, um einer Entwertung der Leistungen im Zeitverlauf entgegenzuwirken. Notwendig wäre eine Regelung gewesen, die die Dynamisierung an die wirtschaftliche Entwicklung, zum Beispiel Bruttolohnentwicklung, koppelt.
Demenz im Fokus
Für den Versicherten erfreulich und das Kernstück der Pflegereform sind die zusätzlichen bzw. verbesserten Leistungen für Menschen mit Demenz. Ab 1. Januar 2013 erhalten Menschen mit Demenz, die keiner Pflegestufe zugeordnet werden können (Pflegestufe 0) zusätzlich zu den bisherigen zusätzlichen Betreuungsleistungen, die für spezielle Betreuungsangebote eingesetzt werden, auch Geld oder Sachleistungen aus der sozialen Pflegeversicherung. Auch Demenzkranke in den Pflegestufen I und II stehen ab 1. Januar 2013 besser da. Für Demenzkranke in Pflegestufe I und II erhöht sich das Pflegegeld bzw. die Pflegesachleistung. Allerdings bleiben die Leistungen in Pflegestufe III unverändert. Eine Anpassung auch für diese Betroffenen wäre sicherlich wünschenswert gewesen.
Ergänzt werden die verbesserten Leistungen um die Einführung der häuslichen Betreuung als Sachleistung der sozialen Pflegeversicherung. Alle Pflegebedürftigen, also auch die Demenzkranken, können zukünftig neben der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung auch häusliche Betreuung als Sachleistung in Anspruch nehmen. Damit werden die Bemühungen flankiert, den Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz passgenauere Leistungen zur Verfügung zu stellen. Zudem werden damit die pflegenden Angehörigen stärker unterstützt bzw. entlastet. Dass die pflegebedürftigen Menschen dabei frei wählen können, welchen Anteil der ihnen zustehenden Sachleistungen sie für die unterschiedlichen Bereiche Grundpflege, hauswirtschaftliche Versorgung oder häusliche Betreuung einsetzen, entspricht dem Selbstbestimmungsgrundsatz der sozialen Pflegeversicherung. Dieses Wahlrecht darf aber nicht dazu führen, dass es zu einer Vernachlässigung der Grundpflege kommt.
Das Wahlrecht des Pflegebedürftigen stärken sollen auch die neuen Regelungen zu den alternativen Vergütungen für Pflegedienste. Neben der bisher üblichen Abrechnung nach Leistungskomplexen können die Pflegedienste mit ihren Kunden ab 1. Januar 2013 auch Vergütungen nach Zeit vereinbaren. Der Pflegebedürftige kann dann die benötigten Leistungen nach Zeit zusammenstellen und zwischen den beiden Vergütungssystemen „Leistungskomplex“ und „Zeit“ auch wechseln. Der Pflegedienst hat den Kunden dabei zu beraten. Die Praxis wird zeigen, ob ein solches Alternativsystem die Pflegebedürftigen nicht überfordert bzw. inwieweit die Pflegedienste ihrer Beratungspflicht unabhängig von wirtschaftlichen Interessen nachkommen.
Neben den dargestellten Verbesserungen für demenziell Erkrankte im ambulanten Bereich werden mit den Regelungen des PNG auch die Betreuungsleistungen in der stationären Pflege weiter ausgebaut. Wie bereits heute in der vollstationären Dauer- und Kurzzeitpflege gesetzlich verankert, tragen künftig die Pflegekassen auch in der Tages- und Nachtpflege die Kosten des zusätzlichen Betreuungspersonals direkt über Vergütungszuschläge.
Aufbau weiterer Strukturen
Um die Beratung der pflegebedürftigen Menschen und ihrer Angehörigen zu verbessern, enthält die Reform eine Vorschrift, wonach die Pflegekassen künftig jedem Versicherten, der erstmalig einen Antrag auf Leistungen nach dem SGB XI stellt, einen konkreten Beratungstermin anbieten müssen. Dies hat spätestens innerhalb von zwei Wochen nach Antragseingang unter Angaben einer Kontaktperson zu geschehen. Alternativ muss ein Beratungsgutschein ausgestellt werden, in dem die Beratungsstellen benannt sind, bei denen dieser Gutschein zulasten der Pflegekassen eingelöst werden kann.
Die Bemühungen zur Optimierung der Information der Versicherten sind grundsätzlich begrüßenswert. Allerdings ist daran zu erinnern, dass bereits heute umfassende Beratungsangebote zur Verfügung stehen. Sowohl bei den Pflegekassen als auch auf kommunaler Ebene wurden erhebliche Ressourcen in den Aufbau und die Etablierung der Pflegestützpunkte sowie die Bereitstellung und Qualifikation der Pflegeberater bei den Pflegekassen investiert. Es ist daher nicht uneingeschränkt nachvollziehbar, dass nun weitere Stellen mit der Beratung betraut werden sollen. Der Umstand, dass bestehende Beratungsangebote den Versicherten teilweise nicht bekannt sind oder nicht in Anspruch genommen werden, lässt sich nicht durch den Aufbau zusätzlicher Beratungsstrukturen verändern.
Stellt der Versicherte einen Antrag auf Leistungen der Pflegeversicherung, so hat die Pflegekasse binnen fünf Wochen einen Bescheid über die Einstufung der Pflegebedürftigkeit an den Antragsteller zu senden. Diese Regelung existiert bereits seit Juli 2008 (Pflege-Weiterentwicklungsgesetz) und hat zum Ziel, den Antragsteller nicht unzumutbar lange im Ungewissen über seinen Leistungsanspruch zu lassen. Diese Fristsetzung wurde nun insofern mit Sanktionen belegt, als dass die Pflegekasse nach Überschreitung der fünf Wochen 70 Euro je angefangene Woche an den Antragsteller zu überweisen hat. Diese Regelung ist im Sinne des Versicherten, daher arbeiten die Pflegekassen und ihre Verbände bereits intensiv daran, die Begutachtungsprozesse bei den Medizinischen Diensten der Krankenversicherung weiter zu optimieren, um diese Frist in jedem Einzelfall einhalten zu können. Denn dem Antragsteller dürfte in jedem Fall an einer fristgerechten Begutachtung und nicht am Mitnahmeeffekt der Zusatzzahlung gelegen sein. Viel Zeit bleibt jedoch nicht, da diese Regelung bereits sofort in Kraft getreten ist.
Weiterhin besteht mit Inkrafttreten der Reform die Möglichkeit, dass die Pflegekassen neben den Medizinischen Diensten der Krankenversicherung auch andere unabhängige Gutachter zur Überprüfung der Pflegebedürftigkeit und zur Begutachtung von Leistungen der Pflegekassen beauftragen können. Äußerst problematisch ist, dass die beabsichtigten Neuregelungen zur Zulassung von „unabhängigen Gutachtern“ keine gesetzlichen Regelungen zur Organisation, Unabhängigkeit, Finanzierung und Aufsicht dieser Gutachter enthalten. Insbesondere diese Unabhängigkeit der beauftragten Institutionen ist jedoch Grundvoraussetzung für einen einheitlichen Zugang von Versicherten bzw. Pflegebedürftigen zu beitragsfinanzierten Sozialversicherungsleistungen.
Ambulante Wohnformen
Die steigende Zahl Pflegebedürftiger und die gleichzeitig schwindenden Ressourcen familiärer Pflege rücken den Ausbau neuer Wohn- und Versorgungsformen zunehmend in den Blick. Eine angemessene Wohnform ist gerade im Alter und bei Pflegebedürftigkeit eng mit adäquater Teilhabe am Leben verbunden. Hier setzt das PNG mit einigen Regelungen zur Förderung ambulant betreuter Wohngruppen an. Pflegebedürftige in solchen Wohngruppen erhalten einen Zuschlag in Höhe von 200 Euro monatlich, wenn eine Pflegekraft in der Wohngruppe tätig ist, die organisatorische, verwaltende und pflegerische Aufgaben übernimmt. Darüber hinaus können die Pflegekassen die Neugründung von Wohngruppen fördern. Hierzu erhält jedes pflegebedürftige „Gründungsmitglied“ einer Wohngruppe einmalig 2.500 Euro. Der Gesamtbetrag für eine Wohngemeinschaft ist auf 10.000 Euro begrenzt. Zudem stehen zehn Millionen Euro für die wissenschaftlich gestützte Weiterentwicklung neuer Wohnformen in Form von Modellprojekten zur Verfügung. Betrachtet man die vorliegende Reform im Detail, so bringt diese einige Verbesserungen für die Versicherten mit sich und ist damit zumindest in dieser Hinsicht vielleicht besser als ihr Ruf. Kritisch festzustellen bleibt aber, dass es an nachhaltigen Regelungen fehlt, die die soziale Pflegeversicherung auch wirklich zukunftsfest gemacht bzw. in eine neue Richtung gewiesen hätten. Daher ist jetzt schon absehbar, dass sich die Politik nach der Bundestagswahl 2013 sehr rasch wieder gesetzgeberisch um die fünfte Säule der Sozialversicherung kümmern muss.