Seit Mitte Juli 2012 ist Prof. Dr. Ferdinand M. Gerlach Vorsitzender des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. Das Expertengremium hat im Juni sein aktuelles Gutachten „Wettbewerb an der Schnittstelle zwischen ambulanter und stationärer Versorgung“ vorgestellt. Im Interview mit ersatzkasse magazin. spricht der Allgemeinmediziner Gerlach über die Empfehlungen und Vorschläge des Gutachtens, über die Bedeutung von Qualität, Preis und Menge im Gesundheitssystem sowie über das Potenzial und die Umsetzung innovativer Versorgungsstrukturen.
Herr Prof. Dr. Gerlach, seit Juli 2012 sind Sie Vorsitzender des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. Was treibt Sie als Allgemeinmediziner an, sich gesundheitspolitisch zu engagieren?
Prof. Dr. Ferdinand M. Gerlach Als Allgemeinmediziner habe ich ohnehin ein breites Interesse und beschäftige mich schon lange mit übergeordneten Aspekten, die über die individuelle Arzt-Patient-Beziehung hinausgehen, wie etwa der Organisation des Gesundheitswesens oder mit Themen rund um Prävention und Gesundheitsmanagement. Konkret im Sachverständigenrat reizen mich spannende Themen und die Interdisziplinarität der Zusammensetzung. Hier kommen Experten mit verschiedenen Perspektiven und Kompetenzen zusammen. Ich empfinde es als Privileg, mit einer so hochkarätigen, interessanten Gruppe zusammenarbeiten zu dürfen und gemeinsam das Gesundheitswesen und dessen Zukunft zu diskutieren.
Welche Aufgabe hat der Sachverständigenrat im Gesundheitswesen insgesamt?
Wie schon im Namen deutlich wird, begutachtet der Rat die Entwicklung im Gesundheitswesen. Unsere Analysen und Empfehlungen zielen auf den Abbau von Versorgungsdefiziten und bestehenden Überversorgungen. Mit unseren Gutachten betreiben wir auch ein Agenda- Setting, können also Themen setzen und in die gesundheitspolitische Diskussion einbringen. Dabei machen wir keine Vorschläge zu tagespolitischen Debatten wie etwa zur aktuellen Diskussion um die Praxisgebühr, es sei denn, das Thema wird ohnehin in unserem Gutachten behandelt. Ebenso wenig beschäftigen wir uns mit der Frage der externen Finanzierung, etwa der Beitragserhebung. Uns interessiert, wie die zur Verfügung stehenden Mittel sinnvoll ausgegeben werden können. Wie man sozusagen aus einem Euro möglichst viel Gesundheit herausholen kann.
Das aktuelle Gutachten des Sachverständigenrats beschäftigt sich damit, wie Wettbewerb die Versorgung verbessern kann. Wie viel Wettbewerb brauchen wir?
Wir sind definitiv keine Wettbewerbsfetischisten. Wettbewerb ist für uns kein Ziel, sondern ein Werkzeug, ein Instrument. Uns geht es darum zu überlegen, an welchen Stellen Wettbewerb als Instrument zu einer Verbesserung der Versorgung beitragen kann. Dazu haben wir uns die besonders problematische Schnittstelle zwischen ambulanter und stationärer Versorgung bzw. die dortigen Wettbewerbsbedingungen angesehen. Man kann es sich bildlich so vorstellen, als würde mitten durch unser Gesundheitssystem eine Mauer verlaufen: Auf der einen Seite sind die Kliniken, auf der anderen Seite die Praxen niedergelassener Ärzte, links und rechts dieser Mauer gibt es jeweils vollkommen unterschiedliche Bedingungen.
Wie sehen diese Bedingungen genau aus?
Nehmen wir das Beispiel Honorierung. In den Kliniken arbeiten wir mit diagnosebezogenen Fallgruppen und Sonderentgelten, in den Praxen mit dem einheitlichen Bewertungsmaßstab und Selektivverträgen. Oder richten wir den Blick auf neue Untersuchungs- und Behandlungsverfahren: Im stationären Bereich gilt der Verbotsvorbehalt, es ist also alles erlaubt, solange es nicht ausdrücklich verboten ist. Im ambulanten Bereich gilt der Erlaubnisvorbehalt, also nur das, was ausdrücklich erlaubt ist, kann abgerechnet werden. Zudem gibt es gravierende Unterschiede in der Bedarfsplanung, Investitionsfinanzierung, Qualitätssicherung und Dokumentation. Das verhindert einen effizienten Wettbewerb, weil praktisch zwei weitgehend getrennte Systeme nebeneinander existieren. Wir müssen zunächst diese Unterschiede verringern oder sogar aufheben, bevor es einen fairen und entsprechend effizienten Wettbewerb geben kann.
Wie schafft man einheitliche Rahmenbedingungen mit Blick auf die unterschiedlichen Finanzierungskonzepte im ambulanten und stationären Bereich?
In unserem Gutachten 2009 schlagen wir ein neues „Zukunftskonzept“ vor. Derzeit ist das System so ausgelegt, dass alle Akteure letztlich ein Interesse daran haben, Patienten krank zu halten. Das ist betriebswirtschaftlich wirksamen Anreizen geschuldet. Überspitzt gesagt: Ärzte und Kliniken haben ein immanentes Interesse daran, dass Menschen krank sind und bleiben, denn sonst würde keiner mehr Leistungen erbringen und abrechnen können. In China gab es mal ein System, in dem Ärzte so lange bezahlt wurden, wie die Patienten gesund waren. Der Arzt war derjenige, der die Menschen gesund halten sollte. In diese Richtung wollen wir. Dabei empfehlen wir im internationalen Konsens mit vielen ähnlichen Konzepten eine sektorenübergreifende populationsorientierte Versorgung.
Was hat man sich darunter vorzustellen?
Es geht dabei darum, die Menschen in einer Region so lange wie möglich gesund zu halten. Wir schlagen regionale Gesundheitsnetze vor, also Zusammenschlüsse von Anbietern, die gemeinsam die Verantwortung für die Gesunderhaltung der Versicherten – nicht nur der bereits erkrankten Patienten – sowie umfassende Budgetverantwortung übernehmen und dafür prospektiv risikoadjustierte Pauschalen – eine sogenannte Capitation – erhalten. Diese werden ergänzt durch qualitätsorientierte Vergütungsanreize, die auf der Messung der regionalen Versorgungsqualität basieren. Mithilfe von Area-Indikatoren kann etwa die regionale Qualität der palliativ-medizinischen Versorgung oder der Versorgung im Pflegeheim ermittelt werden. Mit Access-Indikatoren, die beispielsweise Wartezeiten messen, lässt sich feststellen, ob eine gute Zugänglichkeit auch zu teuren Untersuchungen oder in der Notfallversorgung gewährleistet ist.
Gewinnt der ambulante Bereich dadurch mehr an Bedeutung?
Grundsätzlich ja. Wir erwarten natürlich nicht, dass nur noch ambulant behandelt wird. Doch in Deutschland besteht beispielsweise unbestritten ein sehr hoher Anteil an Klinikbetten und stationären Leistungen. Wir haben bezogen auf die Einwohnerzahl ungefähr drei Mal so viele Krankenhausbetten wie Großbritannien, Spanien oder Schweden und sind in dieser Disziplin unangefochtener Betteneuropameister, mit entsprechend hohen Fallzahlen in den Kliniken. Oft entscheiden sich Kliniken etwa bei einem Leistenbruch, den Patienten aus monetären Gründen stationär aufzunehmen, obwohl diese Operation ambulant erfolgen könnte. Zum Vergleich: In den USA liegt die Quote der ambulant durchgeführten Leistenbruch-Operationen bei 84 Prozent, in Dänemark bei 73 Prozent und in Deutschland gerade einmal bei sechs Prozent. Wenn jetzt aber Klinikärzte und niedergelassene Ärzte sich in Versorgungsnetzen zusammenschließen, gemeinsam mit einer prospektiven, kontaktunabhängigen „Capitation“ honoriert und erstmals unter gleichen Bedingungen arbeiten würden, dann gäbe es keine Anreize für unnötige stationäre Aufnahmen und Leistungen mehr. Sie könnten endlich nur nach dem Patientenwohl entscheiden, ob ambulant oder stationär operiert wird.
Sie legen Wert darauf, dass nicht nur ein Mengen- und Preiswettbewerb stattfindet, sondern auch ein Qualitätswettbewerb als gleichberechtigte Säule. Was versprechen Sie sich davon?
Es geht darum, die Qualität der gesundheitlichen Versorgung zu optimieren, und um das zu erreichen, muss der Qualitätswettbewerb genauso viel Gewicht bekommen wie der Preis- und Mengenwettbewerb. Derzeit haben wir leider so gut wie gar keinen Qualitätswettbewerb. Natürlich muss man auch über Mengen und Preise reden, aber in Deutschland wird überspitzt gesagt nur über Menge und Preis geredet, das hat sich auch bei den jüngsten Honorarverhandlungen mit den Ärzten und Kliniken wieder gezeigt. Wir wollen mehr Steuerung in Richtung Qualität, beispielsweise durch Abbau unnötiger Untersuchungen, überflüssiger Diagnostik, von Eingriffen, die den Menschen eher schaden als nützen, und durch Abbau von Über- und gleichzeitig auch Unterversorgung generell. Daher benötigen wir Qualitätsindikatoren. Man muss Qualität letztlich sektorenübergreifend messen und bezogen auf versicherte Populationen transparent machen.
Im Zuge dieses Qualitätswettbewerbs wollen Sie die integrierte Versorgung und Selektivverträge stärker fördern. Wie schafft man Anreize, um hier innovationsfreudiger zu werden?
Nachdem die einprozentige Anschubfinanzierung im Rahmen der integrierten Versorgung ausgelaufen war, tat sich in diesem Bereich und leider auch generell nicht mehr viel. Wir schlagen einen neuen Anlauf vor, um innovative Versorgungsmodelle zu fördern. Dabei sollte man die Fehler des letzten Förderprogramms vermeiden. So waren damals erhebliche Mitnahmeeffekte erkennbar, es wurden Verträge gemacht, die auch ohne Anschubfinanzierung zustande gekommen wären, und teilweise wurden Verträge nur geschlossen, um die Anschubfinanzierung mitzunehmen. Daher sollte die Umsetzung neuer Modelle über gezieltere Maßnahmen erleichtert werden. Die Krankenkassen sollten die Mehrkosten eines neuen Versorgungskonzepts über einen Planungshorizont von fünf Jahren in Form günstiger Darlehn zur Verfügung gestellt bekommen, damit ihnen der Druck genommen wird, dass sich das Modell sofort amortisieren muss.
Sollte die Förderung auf bestimmte Bereiche fokussiert werden?
Wir sollten in erster Linie sektorenübergreifende Projekte voranbringen. Dabei sollten populationsorientierte indikationsübergreifende Versorgungskonzepte gefördert werden, die nicht auf vereinzelte Versorgungsspezialitäten beschränkt sind. Und man sollte den bisher vernachlässigten Bereich der Pflege einbeziehen. Außerdem muss es eine verpflichtende systematische Evaluation geben. Wir wollen wissen, was rauskommt und keine Förderung mit der Gießkanne.
Wie soll die Finanzierung im Detail aussehen?
Wir schlagen vor, dass neue Versorgungskonzepte über Selektivverträge realisiert werden und die Krankenkassen ihre Zusatzkosten aufgrund von Mehraufwendungen wie Management, Controlling und Evaluation nach Bereinigung als Darlehen bekommen, für fünf Jahre entweder zinsverbilligt oder zinsfrei. Nach fünf Jahren wird dann analysiert, ob es sich um ein kosteneffektives Erfolgsmodell handelt und die Krankenkasse ökonomisch profitiert. Lässt sich nachweisen, dass sich die gesundheitlichen Ergebnisse verbessern, empfehlen wir, die gesamten Zusatzkosten direkt aus dem Gesundheitsfonds zu refinanzieren.
Wie stellen Sie sich das Verhältnis von Kollektiv- und Selektivverträgen vor?
Kollektiv und selektiv markieren natürlich ein gewisses Spannungsfeld. Einheitlich und kollektiv ist übersichtlicher und einfacher zu regulieren, aber selektiv ist oft passgenauer und fördert erkennbar Fortschritt und Innovation. Derzeit werden leider neue Versorgungsmodelle kaum angefasst, es gibt zu wenig Innovations- und Risikobereitschaft. Zugleich benötigen wir mehr an die jeweilige Region angepasste Lösungen. Daher brauchen wir Freiraum für die regionale Ausgestaltung. Gesetze und Richtlinien sollten nur einen Rahmen vorgeben, die Ausgestaltung muss vor Ort passieren. Im Endeffekt müssen wir eine faire wettbewerbliche Balance finden zwischen kollektiv und selektiv. Es geht nicht darum, den Kollektivvertrag generell durch Selektivverträge zu ersetzen.
Welche Erwartungen stellen Sie jetzt an die Bundesregierung?
Das aktuelle Gutachten ist weniger ein Appell an die Politik als viel mehr an die Akteure im System, also an Krankenkassen, Ärzte, Kliniken, Verbände. Im Übrigen sind wir es gewohnt, dass unsere Vorschläge von der Politik nicht immer sofort aufgegriffen werden. Wir erwarten auch gar nicht, dass die Politik unsere Vorschläge eins zu eins umsetzt, das würde ich als Politiker wahrscheinlich auch nicht tun. Wir haben Geduld: Viele frühere Empfehlungen des Rates sind – nicht selten mit mehrjähriger Verspätung – inzwischen Gesetz bzw. Realität. Aber in erster Linie verstehen wir unsere aktuellen Empfehlungen als einen Aufruf zum Handeln an die Akteure im System, vor allem an Kostenträger und Leistungserbringer.