
Die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) soll nach den Plänen der Großen Koalition neu geregelt werden. Demnach wird ein paritätisch finanzierter Beitragssatz in Höhe von 14,6 Prozent ergänzt um einen prozentualen einkommensabhängigen Zusatzbeitragssatz. Der pauschale Zusatzbeitrag soll abgeschafft werden.
Gesundheitsökonom Prof. Dr. Jürgen Wasem war an den Überlegungen zur Finanzierungsreform beteiligt. Im Gespräch mit ersatzkasse magazin. erläutert er das neue Modell, die Herausforderungen und Umsetzbarkeit und richtet den Blick auf die Finanzsituation im Gesundheitswesen insgesamt.
Herr Prof. Dr. Wasem, die Große Koalition ist die nächsten vier Jahre am Zug. Ist das – bezogen auf die Gesundheitspolitik – gut für Deutschland?
Prof. Dr. Jürgen Wasem Mit Blick auf das Gesundheitswesen wurden wichtige Reformen überwiegend von beiden großen Volksparteien zusammen gemacht. Nehmen wir das Gesundheitsstrukturgesetz unter Horst Seehofer, das GKV-Modernisierungsgesetz unter Ulla Schmidt oder das Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung unter der letzten Großen Koalition. Daher halte ich die Große Koalition aus der Gesundheitssystem-Perspektive prinzipiell für wichtig. Aber als Staatsbürger sehe ich natürlich eine Opposition im Parlament von nicht mal 20 Prozent der Abgeordneten kritisch. Ich finde es auch problematisch, dass über 15 Prozent der Wählerstimmen an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert sind und damit nicht zählen bei der Zusammensetzung des Bundestages. Daher hoffe ich sehr, dass die Große Koalition fair mit der Opposition umgeht. Man sieht aber auch, dass die Medien das Thema ernst nehmen und eine gewisse Kontrollfunktion wahrnehmen. Mein Eindruck ist zum Beispiel, dass die Grünen und Linken so oft in den Tagesthemen sind wie schon lange nicht mehr. Das scheint ein Versuch zu sein, das zu kompensieren.
Sie haben ja an dem neuen Finanzierungsmodell der GKV, das Pate stand für die Eckpunkte im Koalitionsvertrag, mitgewirkt. Aber zunächst rückblickend: Ist das derzeitige Modell des pauschalen Zusatzbeitrags gescheitert?
Die Welt ist nicht schwarz-weiß. Ich war 2009 ein Anhänger des Modells Gesundheitsfonds mit Zusatzbeitrag, und zwar tatsächlich auch wegen der größeren Wahrnehmbarkeit des Zusatzbeitrags gegenüber dem vorherigen Beitrag. Denn ich halte prinzipiell Preissignale für die Versicherten für ein sinnvolles Instrument. Ich hatte allerdings damals direkt gesagt, dass bei Einstieg der durchschnittliche Zusatzbeitrag bei etwa 30 Euro liegen sollte. Meine Sorge war, dass bei einem durchschnittlichen Zusatzbeitrag von Null dieser zu merklich wird und alles andere überlagert. Meine Befürchtung hat sich bewahrheitet, dass die Kassen dann nicht mehr mittelfristig denken, sondern nur noch ganz kurzfristig. Daher müssen wir jetzt eine Situation schaffen, in der es nicht mehr die Ausnahme ist, dass eine Kasse einen Zusatzbeitrag erheben muss, sondern dass – ganz regulär – ein großer Teil der Kassen einen Zusatzbeitrag erhebt. Vorgesehen ist jetzt ein sich im Durchschnitt auf etwa 0,9 Beitragssatzpunkte belaufender Zusatzbeitrag. Da hätte ich mir persönlich gewünscht, dass die Politik noch mutiger wäre, aber es ist zumindest ein Schritt in die richtige Richtung.
Der allgemeine paritätisch finanzierte Beitragssatz soll auf 14,6 Prozent gesenkt und festgeschrieben werden. Bleibt es dabei langfristig oder muss es nicht doch Anpassungen geben?
Ach, wissen Sie, Norbert Blüm hat 1989 gesagt, wir machen jetzt die Jahrhundertreform, 1992 gab es die nächste unter Horst Seehofer. Philipp Rösler und Daniel Bahr haben beim GKV-Finanzierungsgesetz die 15,5 Prozent ins Gesetz geschrieben und symbolisch die Regelung zur Anpassung des Beitragssatzes gestrichen, und drei Jahre später basteln wir schon wieder daran herum. Man muss sich davon verabschieden, dass solche Regelungen für die Ewigkeit sind. Allerdings würde ich mir wünschen, dass die Politik die Regelungen länger unverändert lässt, damit sich das Kassenmanagement darauf einstellen kann.
Wenn nur noch der Fondsbereich paritätisch finanziert wird, müssten künftige Ausgabensteigerungen die Versicherten allein tragen. Ist das aus Ihrer Sicht in Ordnung?
Ich persönlich bin relativ leidenschaftslos, was die Frage der Parität angeht. Denn ökonomisch ist klar, dass Geld nur einmal ausgegeben werden kann. Gelder, die also im Arbeitgeberbeitrag enthalten sind, können nicht in die Löhne fließen. Sprich, wenn man die Arbeitgeber durch einen konstanten Arbeitgeberanteil stärker entlastet, als sie immer an Beitragssteigerungen zu beteiligen, hat man entsprechend größere Spielräume bei Tarifverhandlungen. Ökonomisch gesehen ist der Arbeitgeberanteil letztlich auch nur ein Lohnbestandteil.
Künftig soll es keine pauschalen Zusatzbeiträge mehr geben, sondern von den Kassen individuell festgesetzte einkommensabhängige Zusatzbeitragssätze, in die auch der heute schon vom Mitglied allein zu tragende Anteil von 0,9 Beitragssatzpunkten einfließt. Was ist an diesem Modell besser?
Der Zusatzbeitrag wird derzeit von der Politik zusammen mit Sozialausgleich gedacht. Dieser ist zwar nicht logisch zwingend, aber faktisch an den Bundeszuschuss gekoppelt. Da muss man realistisch sein, ich glaube, wir halten auf Dauer einen steigenden Sozialausgleich, der durch Bundeszuschüsse finanziert wird, nicht durch. Die GKV sollte eher auf eigenen Füßen stehen, als sich auf Bundesmittel zu verlassen. Die Unzuverlässigkeit der Politik in der Konstruktion von Gesundheitsfonds und Bundeszuschuss über die letzten Jahre hinweg hat mich auch irritiert. Es ist unschön, dass teilweise beliebig mit Steuerzuschüssen umgegangen wird. Daher benötigen wir ein Finanzierungsmodell, bei dem Zusatzbeiträge nicht mit Sozialausgleich und Bundeszuschuss verknüpft sind. Da ist man dann automatisch beim einkommensabhängigen Zusatzbeitrag.
Hier kommt dann auch der geplante Einkommensausgleich ins Spiel …
Ja, denn je nach Einkommenslage der Mitglieder der Kassen würde ein und derselbe Zusatzbeitragsbedarf ohne eine entsprechende Regelung ja ganz unterschiedliche Zusatzbeitragssatznotwendigkeiten hervorrufen. Sprich die Kasse, die relativ viele gering verdienende Mitglieder hat, bräuchte einen höheren Zusatzbeitragssatz als eine Kasse mit besser verdienenden Mitgliedern. Das heißt, wenn nichts geregelt wird, hat man das Problem von verzerrten Zusatzbeitragssätzen nach der Einkommensstruktur der Mitglieder, und das ist für den Kassenwettbewerb schon immer ein Problem gewesen. Man sollte sicherstellen, dass die Preissignale so wenig wie möglich die Versichertenstruktur widerspiegeln. Deswegen gibt es auf der Ausgabenseite den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA), und auf der Einkommensseite hatten wir im alten Risikostrukturausgleich (RSA) bereits einen Finanzkraftausgleich. So etwas Ähnliches braucht man nun auch für den einkommensabhängigen Zusatzbeitrag.
Um so Wettbewerbsneutralität zu erreichen?
So ein Einkommensausgleich ist ein wichtiger Baustein für Wettbewerbsneutralität. Natürlich bestehen auch andere Faktoren, welche die gleich langen Spieße der Kassen sicherstellen sollen. Dazu gehört ebenso, dass wir nicht die Augen davor verschließen, dass es auch im Morbi-RSA Unvollkommenheiten gibt, die teilweise mit dem Einkommen zusammenhängen, wie etwa beim Krankengeld. Gleichwohl glaube ich, dass der Einkommensausgleich ein wichtiger Beitrag zur Wettbewerbsneutralität ist. Denn sonst wäre – mal abgesehen von den Rücklagen – völlig klar, dass die Zusatzbeitragssätze der Kassen allein aufgrund des Einkommens zwischen 0,6 und 1,3 Beitragssatzpunkten schwanken würden. Das ist eine relativ große Spannweite, die überhaupt nichts mit Effizienz und Wirtschaftlichkeit, sondern ausschließlich mit der einnahmeseitigen Versichertenstruktur zu tun hat.
Also die Einkommensunterschiede werden dabei zu 100 Prozent ausgeglichen oder bedarf es noch eines Liquiditätszuschusses?
Ich halte ein Modell für sinnvoll, bei dem die Krankenkassen bei der Kalkulation des Zusatzbeitragssatzes als Finanzierungsbasis die GKV-durchschnittlichen beitragspflichtigen Einkommen je Versicherten zugerechnet bekommen. Es werden dann zwar Einnahmen auf Basis der tatsächlichen beitragspflichtigen Einnahmen erzielt, aber die Differenz zu den Einnahmen bei Annahme GKV-durchschnittlicher beitragspflichtiger Einnahmen bei jeder Kasse fließt in die Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds oder wird dieser entnommen. Ein totales Nullsummenspiel wird es bei diesem Einkommensausgleich nicht geben. Aber ich gehe davon aus, dass die Verzerrungen relativ gering sind.
Die Bedeutung des Morbi-RSA nimmt – wenn wir Sie richtig verstehen – in diesem Modell insgesamt zu, da Fehlstellungen hier maßgeblich verantwortlich sind für die Höhe des Zusatzbeitragssatzes. Welche Baustellen sind hier noch zu bearbeiten?
Es gibt beim Morbi-RSA eine Reihe von Baustellen, die nach den Plänen der Großen Koalition auch zusammen mit dem neuen Finanzierungsmodell angegangen werden sollen. Das macht durchaus Sinn. Es sind vor allem die drei Baustellen Krankengeld, Auslandsversicherte und Annualisierung der Ausgaben Verstorbener, bei denen Handlungsbedarf besteht und die die Koalition zeitgleich anpassen will. Über weitere Dinge wird man dann sicherlich noch reden. Für die Einführung des neuen Finanzierungsmodells ist es letztlich nicht zwingend, aber ein besserer RSA wäre ja auch unter dem jetzigen Modell nicht verkehrt.
Wie realistisch ist es, dass da jetzt etwas passiert?
Das ist ziemlich realistisch. Zum Thema Annualisierung der Ausgaben Verstorbener gibt es einen klaren Vorschlag des Wissenschaftlichen Beirats zur Weiterentwicklung des RSA, der auch fachlich völlig eindeutig richtig ist. Die anderen zwei Themen sind schwieriger, insbesondere Krankengeld, da es hier bisher kein vernünftiges funktionierendes Dauer-Modell in der Diskussion gibt. Deswegen bin ich dafür, dass wir eine Doppelstrategie fahren, indem wir einerseits weiter nach einem dauerhaften Modell suchen, andererseits müsste es eine Übergangsregelung geben. Ich kann mir zum Beispiel vorstellen, dass die Unter- und Überdeckungen beim Krankengeld bestimmte Größenordnungen nicht überschreiten dürfen und dann abgeschnitten werden. Oder dass man ein Mischmodell aus der Orientierung der Zuweisungen an standardisierten und an tatsächlichen Krankengeldausgaben fährt.
Bei dem dritten Thema Auslandsversicherte ist der Handlungsbedarf nicht mehr so groß, da die Überdeckung in diesem Bereich jetzt doch deutlich geringer ausfällt; allerdings bestehen nach wie vor ungleiche Deckungsquoten zwischen den Kassen. Wir brauchen hier auch eine gründliche Sichtung der Buchungspraktiken. Es gibt unterschiedliche Fallgestaltungen und die Buchungsvorschriften sind auch nicht völlig konsistent. Hier brauchen wir Transparenz, auch da hat der Wissenschaftliche Beirat eine Übergangslösung vorgeschlagen.
Wann kann das neue Finanzierungsmodell umgesetzt werden?
Das ist technisch rasch und problemlos umsetzbar. Beim Einkommensausgleich und Zusatzbeitragssatz muss nur das Bundesversicherungsamt (BVA) die durchschnittlichen beitragspflichtigen Einnahmen kennen, um sie den Kassen mitteilen zu können. Dort fließt das Geld ja auch zusammen, somit verfügt das BVA über die Information. Auch die RSA-Baustellen sind technisch zügig lösbar, sodass ich denke, faktisch ist eine Umsetzung zum 1. Januar 2015 möglich, wenn man will sogar noch rückwirkend im Rahmen des RSA-Schlussausgleichs. Hinsichtlich der Annualisierung der Ausgaben Verstorbener zwingt dazu möglicherweise ohnehin bald ein BSG-Urteil.
Das wäre auch nötig mit Blick auf die Prognosen, die besagen, dass 2015 wieder Zusatzbeiträge fällig werden könnten. Wie schätzen Sie die Situation insgesamt ein? Wird es eher teurer in der gesetzlichen Krankenversicherung oder wird es Ausgabenbegrenzungen bzw. Kostendämpfung unter der Großen Koalition geben?
Ich denke, wir werden erleben, dass Kostendämpfung nicht mehr so ein zentrales Thema sein wird. Diesbezüglich habe ich aber auch eine ambivalente Meinung, ob das gut oder schlecht ist. Kostendämpfung um jeden Preis? Wir sind eine alternde Gesellschaft und werden mehr für die Gesundheitsversorgung ausgeben müssen. Zudem ist die Politik ja gerade dabei, zumindest bei den Krankenhäusern den Deckel eher etwas zu lüften. Im Bereich Arzneimittel/Pharma wird es bei den bestehenden Regelungen bleiben. Bei den Ärzten sehe ich auch keine Kostendämpfung seitens der Politik, zumal diese in der Vergangenheit immer schnell abgelöst wurde von Phasen eher großzügigerer Gewährung. Was ich mir sehr wünsche ist, dass wir das, was wir mit dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz angefangen haben, systematisch auch in anderen Bereichen angehen würden. Also tatsächlich stärker Preise und Nutzen in Relation bringen. Das wird auch das zentrale Thema jenseits der Arzneimittel in der Zukunft sein, im Bereich Medizinprodukte, im Bereich Hilfsmittel: Wir sehen überall Innovationen und wir müssen sicherstellen, dass wir dort, wo der Zusatznutzen gering ist, auch nur begrenzt höhere Preise zahlen. Dabei ist den Besonderheiten der einzelnen Bereiche Rechnung zu tragen – Medizinprodukte sind keine Arzneimittel, aber der Grundsatz muss auch hier gelten. Bedauerlich finde ich übrigens, dass die Große Koalition die Schnittstelle gesetzlicher und privater Krankenversicherung außer Acht gelassen hat. Ebenso bedauerlich finde ich es, dass sie an der Thematik der strukturellen Einnahmeschwäche der GKV nichts gemacht hat. Wir haben hier eine Einnahmebasis, die systematisch vom Wirtschaftswachstum über viele Jahre abgekoppelt war und das wird auch wieder so sein. Da hätte man sich gewünscht, dass die Große Koalition mehr Mut gehabt hätte, diese grundsätzliche Finanzierungsthematik anzugehen.