
Das sind die längsten Koalitionsverhandlungen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gewesen. Nach 86 Tagen konnte die Große Koalition ihre Arbeit für die 18. Legislaturperiode aufnehmen. Grundlage dazu bildet der bereits am 27. November 2013 verabschiedete Koalitionsvertrag, der zahlreiche Vereinbarungen auch zur Gesundheit und Pflege beinhaltet. Vereinbarungen, mit denen die Qualität im Gesundheitswesen und die Versorgung der Patienten verbessert werden sollen und mit denen in der Pflegeversicherung die vielfach angekündigten und von zwei Expertenkommissionen vorbereiteten Reformbausteine umgesetzt werden sollen.
Am Ende der Verhandlungen wurde in der Frage der zukünftigen Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) eine ordnungspolitische Grundsatzentscheidung getroffen. Der pauschale Zusatzbeitrag und der Sozialausgleich aus Steuermitteln sollen abgeschafft werden. Damit gehört das Experiment Kopfpauschale der Vergangenheit an. Eine richtige Entscheidung im Interesse der Versicherten. Denn gerade die unteren Einkommensschichten wären bei einer Pauschale überfordert worden. Ein Nachteil, der nur mit milliardenschweren Steuermitteln hätte ausgeglichen werden können. Im Zeitalter einer immer noch nicht überwundenen europäischen Finanzkrise und einer verfassungsrechtlich verankerten Schuldenbremse wären diese Steuermittel für die GKV wohl kaum vorhanden. Es muss ja heute schon mit dem Finanzminister gerungen werden, dass der gesetzlich verankerte Steuerzuschuss in Höhe von 14 Milliarden Euro für die versicherungsfremden Leistungen und für die beitragsfreie Familienversicherung auch weiterhin fließt.
Der prozentuale Beitragssatz wird zukünftig die Finanzarchitektur der GKV prägen. Zum einen durch den allgemein paritätisch von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu gleichen Teilen getragenen allgemeinen Beitragssatz von 14,6 Prozent. Damit wird der Arbeitgeberbeitrag auf 7,3 Prozent festgeschrieben. Der Sonderbeitrag für die Versicherten von 0,9 Beitragssatzpunkten wird in den prozentualen Zusatzbeitrag umgewandelt, der je nach Beitragsbedarf von der Krankenkasse nach oben oder unten abweichend individuell festgelegt werden kann. Dieser Teil der Beitragsgestaltung fällt wieder in die individuelle Entscheidungsbefugnis der Selbstverwalter der einzelnen Krankenkassen; ein Stück Beitragssatzautonomie ist damit wieder hergestellt. Freiheitsgrade, die die Ersatzkassen gefordert haben.
Kritisch ist allerdings, dass durch die Festschreibung des Arbeitgeberanteils zukünftige Ausgabensteigerungen einzig den Versicherten über den Zusatzbeitrag aufgebürdet werden. Hier muss es einen Anpassungsmechanismus beim allgemeinen Beitragssatz geben, um die Versicherten nicht allein zu belasten. Zwischenzeitlich bekannt gewordene Nebenabsprachen der Koalitionäre deuten darauf hin, dass hier das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. Sicher ist allerdings schon jetzt, dass kein Versicherter einen höheren Zusatzbeitrag zahlen muss, weil in seiner Kasse mehr einkommensschwache Mitglieder versichert sind. Dafür soll es einen vollständigen Einkommensausgleich geben, der allerdings manipulationssicher gestaltet werden muss.
Mit dieser neuen Finanzarchitektur kann auch wieder ein vernünftiger Preiswettbewerb zwischen den Krankenkassen initiiert werden. Der pauschale Zusatzbeitrag hat für das wettbewerbliche Handeln der Kassen die falschen Anreize gesetzt. Die Vermeidung eines Zusatzbeitrages galt als oberste Maxime und behinderte den Einsatz von (Investitions-)Mitteln. Der Wettbewerb um Qualität kann jetzt stärker das Handeln der Kassen prägen.
Qualität als wichtiges Kriterium
Besonderes Augenmerk widmen die Koalitionäre der Verbesserung der Qualität. So soll es klare Vorgaben für die Qualitätsnachweise bei der Teilnahme an der ambulanten spezialärztlichen Versorgung geben. Das hatten die Ersatzkassen bereits bei der Einführung dieser neuen Versorgungsform angemahnt. Es soll ein neues Qualitätsinstitut zur Erforschung der Versorgung an der Schnittstelle ambulant/stationär geben, um vorhandene Routinedaten sinnvoll zusammenzusuchen. Das ist gut, allerdings sollte vorher die Frage geklärt werden, ob das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) das nicht auch leisten kann. Im Krankenhaus soll die Qualität als Entscheidungskriterium für die Krankenhausplanung Einzug halten. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) soll Qualitätsrichtlinien erarbeiten, die vom Krankenhaus zwingend einzuhalten sind. Die Krankenhäuser mit nachgewiesener hoher Qualität können von Mehrleistungsabschlägen ausgenommen werden. Bei unterdurchschnittlicher Qualität für einzelne Leistungen sollen höhere Abschläge möglich sein. Letzteres ist nicht konsequent. Wer eine Qualitätsoffensive will, muss schlechte Qualität ausschließen. Einen Vorschlag dazu haben jüngst die Ersatzkassen unterbreitet. Wichtig ist auch, dass die Qualitätsberichte der Krankenhäuser verständlicher und für den Patienten nachvollziehbar und präziser werden. Bei planbaren Behandlungen soll das ärztliche Zweitmeinungsverfahren gestärkt werden.
Die Stärkung der Qualität im Krankenhaus wird nicht ausreichen, um unnötige Mengenausweitungen zu begrenzen. Für eine Strukturreform im Krankenhaus bedarf es dazu Vorschläge. Auch die Länder dürfen sich nicht ohne Weiteres aus der gesetzlichen Verpflichtung zur Investitionskostenfinanzierung verabschieden. Denn sonst setzt sich der Trend fort, dass die Krankenhäuser ihre Investitionen aus den laufenden Einnahmen finanzieren, bei gleichzeitig steigenden Behandlungszahlen und Senkung der Personalkosten.
Die Länder müssen mehr Steuermittel für die Investitionsfinanzierung zur Verfügung stellen. Wenn sie es allein nicht schaffen, sollte auch eine Hilfe des Bundes nicht ausgeschlossen sein, entweder durch eine Neujustierung des Verteilungsschlüssels beim Steueraufkommen zwischen Bund und Land oder durch direkte Steuerzuweisungen des Bundes bis zu einer festgelegten Höhe. Wir dürfen daher sehr gespannt sein, welche Vorschläge die Bund-Länder-Arbeitsgruppe für eine Krankenhausreform unterbreiten wird.
Nachbesserungen in der Versorgung
Während im Krankenhausbereich – aber auch in der psychotherapeutischen Versorgung (geplante Maßnahmen hier: Reduzierung der Wartezeiten, Endbürokratisierung des Antrags- und Gutachterverfahrens, Förderung der Kurz- und Gruppentherapie; Maßnahmen, die auch die Ersatzkassen im Vorfeld vorgeschlagen haben) – eine Strukturreform erwartet wird, sind es in anderen Versorgungsbereichen eher Korrekturen zur Verbesserung der Versorgung. So sollen auch in der ambulanten Versorgung die Wartezeiten verkürzt, die Überversorgung durch den verpflichteten Aufkauf von Arztpraxen abgebaut und die Krankenhäuser in unterversorgten Gebieten zur ambulanten Versorgung zugelassen und das Entlassmanagement verbessert werden.
Aber auch der Einsatz von qualifizierten nicht-ärztlichen Gesundheitsberufen soll verbessert werden. Interessant ist der Vorschlag, einen Investitionsfonds in Höhe von 300 Millionen Euro zur systematischen Förderung sektorenübergreifender Versorgungsformen und deren Evaluierung einzurichten. Angesichts der im Grunde alleinigen Finanzierung durch die Krankenkassen muss sichergestellt werden, dass diese auch die Letztentscheidungen über die Vergaben treffen.
Auch zwei „alte Bekannte“ werden uns in dieser Legislaturperiode begleiten. Das ist zum einen das Präventionsgesetz, dessen letzter Vorschlag der Diskontinuität anheim gefallen ist. Der SPD-dominierte Bundesrat hatte zu diesem Gesetzentwurf einen Gegenentwurf eingebracht, der jetzt bei einem neuen Gesetzgebungsverfahren als Vorlage dienen dürfte. Der andere ist die Reform der Pflegeversicherung und hier die Umsetzung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs. Zwei Expertenkommissionen haben bis heute Vorschläge dazu vorgelegt.
Hat sich die letzte Regierung vor der Umsetzung noch gedrückt, will die neu gewählte diese so schnell wie möglich umsetzen. Allerdings soll die mit dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff einhergehende Begutachtung auf ihre Umsetzung und Praktikabilität hin erprobt und wissenschaftlich ausgewertet werden. Das klingt nach Zeitspiel und stufenweiser Umsetzung von Leistungsverbesserungen in der Pflege. Für diese Einschätzung spricht, dass in einem ersten Schritt 0,2 Beitragssatzpunkte für die Finanzierung kurzfristiger Leistungsverbesserungen vorgesehen sind und weitere 0,2 Beitragssatzpunkte in einem zweiten Schritt bei Umsetzung des Pflegebedürftigkeitsbegriffes erhoben werden sollen. Dass die Umsetzung Zeit braucht, ist unumstritten, aber wenn jetzt erst mal getestet und evaluiert werden soll, wächst die Gefahr, dass in dieser Legislaturperiode der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff nicht zur Anwendung kommt.
Vorhaben in der Pflege
Die Pflegereform wird eines der großen Reformvorhaben dieser Regierung sein, gute Vorstellungen dazu stehen im Koalitionsvertrag (Dynamisierung der Leistungen, Erhöhung der Zuschüsse zur Verbesserung des Wohnumfeldes, zusätzliche Lohnersatzleistungen für pflegende Angehörige, Personalstandards im Pflegebereich, Kostenfreiheit der Pflegeausbildung, Verbesserung der Pflegetransparenz). Eine umfassende Pflegereform sollte nicht auf die lange Bank geschoben werden, auch um präzisere Vorstellungen zu erhalten, ob der Pflegeversorgungsfonds mit seinen vorgesehenen 0,1 Beitragssatzpunkten zur Abfederung zukünftiger Beitragssatzsteigerungen ohne eine Beteiligung der Überschüsse in der privaten Pflegeversicherung ausreichend ausgestaltet ist.
Die Vereinbarungen im Koalitionsvertrag zur Gesundheit und Pflege sind patienten- und qualitäts-orientiert. Dies sollte auch für die zukünftigen Verhandlungen mit den Leistungserbringern fixiert werden. Neben strukturellen Reformansätzen im Krankenhausbereich, in der psychotherapeutischen Versorgung, bei der zukünftigen Finanzierung und in der Pflege wurden in anderen Bereichen Korrekturen – auch von Fehlentwicklungen – vereinbart. Die Vorschläge werden finanzwirksam sein. Die nahtlose Fortführung des bestehenden Preismoratoriums bei Arzneimitteln und die Festlegung des Herstellerrabatts auf verschreibungspflichtige Arzneimittel auf sieben Prozent ändern daran nichts. Unterm Strich bleiben Mehrausgaben von bis zu einer Milliarde Euro. Angesichts der für 2015 bereits zu erwartenden Defizite wird die neue Bundesregierung trotz Liquiditätsreserve im Gesundheitsfonds bei der Umsetzung der Koalitionsvereinbarungen darauf achten müssen, dass die Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben in der GKV nicht weiter auseinanderläuft.