Im Zuge der Pflegereform werden die Grundlagen zur Bemessung von Pflegebedürftigkeit neu ausgerichtet. Um wichtige Erkenntnisse zu diesem neuen Begutachtungsverfahren (NBA) zu gewinnen, hat der Medizinische Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS) eine Praktikabilitätsstudie durchgeführt. Dabei stellte sich das NBA als gut geeignet heraus, die Pflegebedürftigkeit eines Menschen im Sinne eines erweiterten und umfassenden Verständnisses abzubilden.
Zukünftig soll es in der Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nicht mehr um den verrichtungsbezogenen pflegerischen Hilfebedarf eines Menschen gehen, abgebildet in Minuten, sondern um die Frage, wie selbständig er bei der Bewältigung seines Alltags ist. Ob seine Einschränkungen somatisch oder mental bedingt sind, das spielt keine Rolle mehr. Die Praktikabilitätsstudie, durchgeführt im Auftrag des GKV-Spitzenverbandes und wissenschaftlich begleitet von der Hochschule für Gesundheit in Bochum, hatte zum Ziel, wichtige Erkenntnisse für die angekündigte Pflegereform und die Einführung des NBA zu gewinnen.
Ganz allgemein ging es darum, wie die Gutachter der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung (MDK) und Medicproof unter Alltagsbedingungen mit der neuen Begutachtungsphilosophie zurechtkommen. Im Detail war unter anderem zu klären, wie das Verfahren bei der Identifikation einer möglicherweise vorliegenden Rehabilitationsbedürftigkeit oder in besonders sensiblen Kontexten funktioniert, zum Beispiel bei der Begutachtung von kleinen Kindern und Säuglingen. Mit der Erprobung des NBA sollten auch konkrete Umsetzungsempfehlungen entwickelt werden, die den anstehenden Systemwechsel in der Begutachtung von Pflegebedürftigkeit und die Vorbereitung der insgesamt 2.000 in der Pflegebegutachtung tätigen Gutachter unterstützen. Zudem waren aus dem letzten Expertenbeirat einige Detailfragen offen geblieben, die es unter realen Begutachtungsbedingungen zu evaluieren galt. So war beispielsweise noch zu klären, ob ein pflegebedürftiger Mensch, der nicht mehr in der Lage ist, seine Arme und Beine zu benutzen, automatisch in den höchsten Pflegegrad eingestuft werden soll.
An der Beantwortung der Fragestellungen der Studie haben sich alle Medizinischen Dienste, der Sozialmedizinische Dienst (SMD) der Knappschaft und Medicproof beteiligt. 86 Gutachter haben hierfür das NBA bei insgesamt 1.700 erwachsenen Antragstellern und 297 Kindern, die regulär zu begutachten waren, angewandt. Die Erfahrungen, die die Gutachter in der Anwendung gesammelt haben, wurden wissenschaftlich erhoben und ausgewertet.
Der „Probelauf“ ist bei den Gutachtern als zukünftige Anwender des NBA auf positive Resonanz gestoßen. Sie bestätigen, dass die individuelle Situation der Antragsteller mit dem NBA umfassender als bislang beschrieben werden kann. Die kognitiv-psychischen, kommunikativen und verhaltensbezogenen Beeinträchtigungen wie auch der notwendige personelle Unterstützungsbedarf beim Umgang mit krankheitsbedingten Anforderungen können nun differenziert erfasst werden. Außerdem begrüßen sie, dass erstmals Themen, die sich derzeitigen Verfahren nicht abbilden lassen, wie die Gestaltung des Alltagslebens und soziale Kontakte, in den Fokus rücken.
Anhand der Erfahrungen der Gutachter in der Anwendung des NBA konnten auch die offen gebliebenen Detailfragen des Expertenbeirats fundiert beantwortet werden. So zum Beispiel sollte nach den Erkenntnissen aus der Praktikabilitätsstudie für den Routinebetrieb festgelegt werden, dass Menschen, die ihre Arme und Beine nicht mehr benutzen können, immer in Pflegegrad 5 aufgehoben werden. Antragsteller, die die Funktionsfähigkeit ihrer Arme und Beine vollständig verloren haben, jedoch keine kognitiven oder kommunikativen Einschränkungen aufweisen, erreichen ansonsten nur schwer einen Pflegegrad, der ihrem personellen Unterstützungsbedarf gerecht wird. Auch die Ergebnisse der praktischen Erprobung der Reha-Bedürftigkeitsprüfung mit dem NBA weisen darauf hin, dass sich mit dieser Vorgehensweise in der Pflegebegutachtung ein potenzieller Reha-Bedarf logisch ableiten und begründen lässt.
Im Ergebnis der Praktikabilitätsstudie liegen weiterhin auch konkrete Vorschläge vor, zum Beispiel für ein Schulungskonzept und ein zukünftiges Formulargutachten, die als Grundlage für die noch zu erstellenden Richtlinien genutzt werden sollten. Außerdem wurden die Begutachtungshandbücher mit den zukünftigen Bewertungskriterien für die Einschätzung der Selbständigkeit eines Antragstellers gründlich überarbeitet und wo notwendig präzisiert. So sollten beispielsweise zukünftig bei den Merkmalen des Moduls 6 zur Gestaltung des Alltagslebens und der sozialen Kontakte die Auswirkungen motorischer und kognitiver Einschränkungen gleichermaßen berücksichtigt werden können.
Ein weiteres nicht zu unterschätzendes Ergebnis der Praktikabilitätsstudie ist es, dass die Gutachter bereits jetzt für die neue Begutachtungsphilosophie sensibilisiert werden konnten und der notwendige Umdenkprozess in den Medizinischen Diensten initiiert wurde.
Vor Einführung des neuen Begutachtungsverfahrens sind noch zahlreiche wichtige Rahmenbedingungen festzulegen, die sich beispielsweise auf die leistungsrechtliche Ausgestaltung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs oder die Gestaltung des Systemübergangs für die Leistungsempfänger der sozialen Pflegeversicherung beziehen. Auch die Pflegeinrichtungen werden sich auf den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff einstellen müssen, denn die neue und umfassende Sichtweise auf Pflegebedürftigkeit muss auch Eingang in die pflegerische Versorgung finden.