Die moderne Medizin und damit verbundene Forschungen werfen immer wieder ethische Fragen auf, die auch bei politischen Entscheidungsprozessen eine wichtige Rolle spielen. Aktuell steht eine EU-Verordnung in der Diskussion, die sich mit einer sogenannten gruppennützigen Forschung an Demenzkranken beschäftigt. Prof. Dr. Peter Dabrock ist seit April 2016 Vorsitzender des Deutschen Ethikrats. Im Interview mit ersatzkasse magazin. spricht er über den Stellenwert von Ethik in medizinischen und politischen Fragen und darüber, wie diese jeden Einzelnen und die Gesellschaft insgesamt betreffen.
Herr Prof. Dr. Dabrock, wie definieren Sie als Theologe den Begriff von Ethik?
Die theologische Definition unterscheidet sich nicht von der philosophischen: Ethik ist Reflexionstheorie der Moral. Sie ist Distanznahme gegenüber Moral, indem man prüft, ob eine bestimmte Moral verallgemeinerbar ist oder nicht. Oder anders ausgedrückt, man prüft, woran man sich in bestimmten Konfliktfällen zu orientieren hat. Ich mag den Spruch des Soziologen Niklas Luhmann: Erste Aufgabe der Ethik ist Warnung vor Moral. Das sagt mir auch als Theologe zu, denn Moralfragen und Heilsfragen sind zu entkoppeln. Kurzum: Es tut uns gut, wenn wir gesellschaftliche Konflikte nicht sofort moralisieren, sondern erst mal versuchen, diese zu entmoralisieren.
Woher rührt Ihr Interesse an ethischen Fragen?
Es ist mir wichtig, den Glauben in der gegenwärtigen modernen Welt anwendungsorientiert zu verantworten. Das war schon immer ein Punkt, der mich begeistert hat. Ich wollte auch schon immer gerne Hochschullehrer werden. Entscheidend war dann die Erkenntnis, dass man in der Ethik die Theologie verbinden kann mit gesellschaftsrelevanten Fragen.
Sie sind Vorsitzender des Deutschen Ethikrats. Wofür steht dieser, was ist die zentrale Aufgabe?
Das Ethikratgesetz gibt vor, was der Ethikrat zu tun hat. Diese gesetzliche Grundlage unterscheidet den Deutschen Ethikrat von fast allen Ethikräten weltweit: Wir sind nicht einfach ein Regierungsgremium, sondern haben tatsächlich einen demokratisch legitimierten Auftrag. Wir beraten Bundesregierung und Bundestag in drängenden Fragen, die der Fortschritt der Wissenschaften, insbesondere der Lebenswissenschaften, für das Leben des Einzelnen und die Gesellschaft stellt. Die Konflikte und Herausforderungen, die sich daraus ergeben, sollen wir laut Gesetz ethisch bedenken. Neben dieser Beratung besteht unsere Aufgabe darin, öffentliche Diskurse zu fördern sowie den internationalen Austausch zu diesen Fragestellungen zu pflegen, denn es sind globale Fragestellungen, zu denen wir Stellung beziehen sollen. Dabei sind wir von der Themenwahl her recht offen: In der letzten Amtsperiode haben wir von Fragen der Beschneidung nichteinwilligungsfähiger Junger über Sicherheit biologischer Forschung, Gendiagnostik, Hirntod, Patientenwohl im Krankenhaus bis zur Embryospende – um nur einige Themen zu nennen – sehr unterschiedliche ethische Konflikte angesprochen. Mit unseren Stellungnahmen stoßen wir oft in ethisch kritischen Bereichen Diskussionen an. Wir wollen Nachdenklichkeit erzeugen und die Politik auf ihre Verantwortungsbedingungen erinnern.
Wie groß ist der Einfluss des Deutschen Ethikrats?
Ich habe den Eindruck, dass der Deutsche Ethikrat eine bedeutende Stimme hat. Wir werden insbesondere bei Fragestellungen herangezogen, die im Bundestag von der Fraktionsdisziplin befreit sind, weil es prekäre Gewissensentscheidungen sind. Das sorgt für intensive Gespräche mit Politik und Medien. Meine Erwartung ist nicht, dass unsere Vorschläge jedes Mal sofort eins zu eins umgesetzt werden, sondern dass wir wohlbegründete Denkanstöße für gesellschaftliche Entwicklungen geben. Wenn dann eine unserer Empfehlungen in einem Gesetz umgesetzt wird, freut mich das, macht aber nicht allein den Sinn des Gremiums aus. Wichtig ist unsere Unabhängigkeit. Sie schafft Vertrauen und Gehör.
Kommen wir zu einer aktuellen Debatte. Eine EU-Verordnung, die Regelungen für die Genehmigung, Durchführung und Überwachung von klinischen Prüfungen verbindlich vorgibt, muss in nationales Recht umgesetzt werden. Hierfür sind Anpassungen im Bereich des Arzneimittelgesetzes (AMG) notwendig. Aufgrund massiver Kritik unter anderem seitens der Kirchen und eines weitergehenden Diskussionsbedarfs aus den Reihen der Politik wurde die Verabschiedung im Bundestag vertagt. Worum geht es genau?
Es geht um die Frage, inwieweit eine gruppennützige Forschung an nichteinwilligungsfähigen Menschen wie Demenzkranken und Personen mit geistigen Beeinträchtigungen durchgeführt werden darf. Unter gruppennütziger Forschung versteht man Forschungen, die zwar für die Probanden selbst keinen medizinischen Nutzen bringen, aber für die Gruppe, der der Proband angehört. Diese Debatte ist ein gutes Beispiel dafür, wie wichtig es ist, bestimmte Fragestellungen nicht nur politisch anzugehen, sondern auch möglichst frühzeitig gesellschaftlich zu debattieren. Denn der Kritik und damit auch der Verschiebung der Entscheidung liegt ein ethischer Konflikt zugrunde. Der ethische Konflikt besteht darin, auf der einen Seite klar den Schutz von besonders vulnerablen Personen und Gruppen zu sichern, und auf der anderen Seite sich Rechenschaft darüber abzulegen, dass wenn man bestimmte Forschungen nicht ermöglicht, man gegebenenfalls Demenzkranke im Spätstadium vom möglichen medizinischen Fortschritt abkoppelt. Hier gilt es sorgfältig abzuwägen. Denn das Leben zeichnet selten schwarz-weiß, sondern grau in grau. Zwischen den „shades of grey“ ist dann zu unterscheiden und verantwortlich Stellung zu beziehen. Wenn man das tut, geht man weg von simplen Lösungen. So sollte man auch die EU-Verordnung betrachten.
Was ist denn so schlimm an der EU-Verordnung?
Gute Frage, denn im Grunde hält sie extrem viele Sicherheitsstandards vor. Der Artikel 31 beinhaltet eine lange Liste an Bedingungen, unter denen man gegebenenfalls gruppennützige Forschung an Nichteinwilligungsfähigen durchführen darf. Die Kautelen besagen unter anderem, dass die Forschung erst an Einwilligungsfähigen erfolgen muss; erst dann an Nichteinwilligungsfähigen, die selbst einen Nutzen an der Forschung haben. Zudem muss berücksichtigt werden, dass der Betreuer gefragt wird und dass der Nichteinwilligungsfähige gemäß den Möglichkeiten seines Begreifens aufgeklärt und in die Entscheidung einbezogen wird. Außerdem muss, wenn sich der Nichteinwilligungsfähige zum Beispiel durch Gestik gegen eine Blutentnahme wehrt, der Vorgang abgebrochen werden. Schließlich sind nur Untersuchungen mit minimalem Risiko erlaubt.
Gelten diese Vorgaben auch für die nationale Umsetzung?
Im Gesetzentwurf von Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe steht natürlich drin, dass Artikel 31 berücksichtigt werden muss. Darüber hinaus gibt es sogar noch zwei Verschärfungen. Erstens dass eine besondere Vorausverfügung unterschrieben werden muss, man kann das als eine Art Forschungsverfügung begreifen. Und zweitens soll diese Forschungsverfügung nur nach ärztlicher Beratung durchgeführt werden.
Reicht das aus ethischer Sicht?
Aus meiner Position des Vorsitzenden des Deutschen Ethikrats heraus formuliere ich es offen: Wer angesichts dieser Kautelen weiterhin gegen diese Verordnung und die deutsche Verschärfung ist, der muss sich erstens fragen, wie er mit dem skizzierten ethischen Dilemma umgeht, und zweitens, wie er überhaupt zu dem Instrumentarium von Vorausverfügungen steht: Organspendeausweise, Testamente, Patientenverfügungen, bei allen geht es um eine Vorausverfügung. Mit diesen regelt man zu einem Jetztzeitpunkt, ob man einen Dienst für andere durchführen möchte, nenne man es: aus Altruismus oder als Akt der Nächstenliebe. Wir müssen grundsätzlich Rechenschaft darüber ablegen, ob wir Vorausverfügungen als Ausdruck von Selbstbestimmung akzeptieren oder nicht. In diesem Kontext sollte man Forschungsverfügungen auch sehen.
Wie erklären Sie sich nun die Aufregung um die EU-Verordnung?
Ich habe den Eindruck, dass das hinter diesem Verfahren stehende Regelungsregime manchen Parlamentariern gar nicht bewusst ist. Sie lesen nur das Papier zur deutschen Umsetzung, unterziehen sich aber nicht der Mühe, sich die EU-Verordnung in Ruhe anzuschauen. Ich unterstelle auch denen, die gegen den Gesetzentwurf sind, absolut nichts Bösartiges. Ich glaube, dass hinter ihren Kritiken guter Wille zu finden ist, besonders schwache Menschen schützen zu wollen. Aber mir ist nicht klar, ob wirklich alle Konsequenzen einer restriktiven Ablehnung solch gruppennütziger Forschung bedacht sind. Ich finde es auch betrüblich, dass zum Teil der Eindruck entsteht, man wolle demnächst unmittelbar Demenzkranke für alle möglichen Forschungen nutzen. Das wäre in der Tat, sie rein als Objekt zu vernutzen, nicht als Zweck in sich selbst zu betrachten. Es wäre eine schlimme Menschenwürdeverletzung.
Einige Stimmen behaupten, es gäbe keinen Bedarf an dieser Forschung?
Schaut man sich die Medikamentenentwicklung in den letzten Jahren an, dann ist es vermutlich nur eine Frage der Zeit, wann auch Forschung für spätmanifeste Demenzen relevant wird. Der Analyse, dass jetzt gerade kein Handlungsbedarf besteht, stimme ich zu. Aber es wäre doch töricht, wenn wir Gesetzgebungen nur auf die nächsten Jahre auslegen würden, anstatt prospektiv mögliche weitere Entwicklungen verantwortlich in den Blick zu nehmen.
Denken Sie, es kommt noch zu einer Einigung?
Ich glaube, dass es eine sinnvolle verantwortliche Einigung geben wird. Die positive Botschaft der jetzigen Auseinandersetzung lautet doch, dass in Deutschland ein Wunsch nach Debatten besteht, wenn es um den Schutz schwächster Gruppen in der Gesellschaft geht. Generell beteiligen sich die Menschen an diesen Debatten, weil diskutiert wird, wie wir leben wollen, wie wir uns als Einzelne, aber auch als Teil der Gemeinschaft und Gesellschaft sehen. Aber man sollte aus der Erfahrung ethischer Debatten lernen, dass einfache Antworten nicht möglich sind und deshalb möglichst verantwortungsvolle Verfahren entwickeln.
Gibt es Bereiche, in denen Sie eine ethische Debattenkultur vermissen?
Ich wünschte, man würde mehr über die aktuelle Debatte hinaus über die Anwendung neuer Medikamente und damit über die Sinnhaftigkeit neuer Möglichkeiten nachdenken. Ein Beispiel: Studien zufolge nutzt eine überragende Zahl von Menschen die neuen Krebsmedikamente, selbst wenn ihnen diese nur höchstens drei Wochen Lebenszeitgewinn bringen und obwohl die Lebensqualität in diesen Wochen dramatisch schlecht ist. Ich meine, da müsste jeder darüber nachdenken, wie man selbst in so einer Situation handeln würde. Das weiß man nie, ich weiß es auch nicht, aber das heißt ja nicht, dass man sich nicht trotzdem Gedanken darüber macht, wie man diese letzten Tage nutzen möchte. Hier wünschte ich mir eine Debattenkultur auch gerade mit Blick darauf, dass wir in Deutschland eine sehr gute und doch ausbaufähige Palliativmedizin und Hospizbetreuung haben. An dieser Stelle kommt beispielsweise auch den Ärzten eine wichtige Aufgabe zu, die Patienten aufzuklären und alle Alternativen aufzuweisen.
Welches Gewicht werden ethische Fragen in Zukunft haben?
Ich empfände es durchaus als gutes Zeichen für die Diskursfähigkeit einer Gesellschaft, wenn diese Debatten zu- und nicht abnehmen. Für mich wäre es ein Indiz, dass in dieser Gesellschaft noch aufeinander gehört wird. Ich würde mich freuen, wenn wir anhand der Bioethikdebatten uns wieder neu in Erinnerung rufen, dass das Leben komplex ist und man häufig abwägen muss. Wir brauchen Forschung und den Schutz der Schwächsten. Beides, verantwortlich gestaltet, bedingt sich gegenseitig.
Manchmal wird der Anschein erweckt, der medizinischen Forschung sind keine Grenzen gesetzt.
Es ist ja so, und das sollte sich auch jeder ehrlich eingestehen, dass Menschen ihre Gesundheit möglichst lange möglichst gut erhalten wollen, auch wenn sie nicht unbedingt danach leben. Sonst hätten wir auch die ganze Medizin nicht. Nur sind wir inzwischen auf so einem hohen Level angekommen, dass auf die Gesamtbevölkerung bezogen gar nicht mehr so viele Lebenszeitgewinne und Lebensqualitätsgewinne herausspringen. Trotzdem würde doch jeder sagen, dass es gut ist, in die medizinische Forschung zu investieren. Zudem: Forschung ist auch einer der wichtigsten Standortfaktoren unseres Landes. Unabhängig davon: Man sollte sich immer wieder die Endlichkeit des Lebens vor Augen führen.
Wohin schlägt der Pegel in Zukunft aus?
Das Wichtigste ist, den Pegel in Bewegung zu halten. Wenn er nur auf die Forschungsseite schlägt, vernachlässigt man häufig die Endlichkeit und damit auch wichtige Fragen beispielsweise nach dem Sinn des Lebens. Schlägt er nur auf die Endlichkeitsseite, besteht die Gefahr, zum Fatalismus oder zur Trägheit zu neigen. Daher würde ich immer für eine verantwortungsvolle Forschungsaffinität plädieren, die sich gleichzeitig die Grenzen des eigenen Lebens vor Augen hält. Und vor diesem Hintergrund dankbar für jeden Tag zu sein, der einem als guter Tag geschenkt wird – das, so finde ich, wäre eine schöne Maxime.
Prof. Dr. Peter Dabrock
Seit 2010 Professor für Systematische Theologie (Ethik) an der Universität Erlangen-Nürnberg. Neben Forschung und Lehre engagiert er sich in unterschiedlichen Organisationen und Gremien, u. a. von 2004 bis 2013 in der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer, von 2011 bis 2016 in der Europäischen Ethikgruppe, seit 2014 in der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD. 2012 wurde er in den Deutschen Ethikrat berufen, seit April 2016 ist er dessen Vorsitzender.