Es ist die größte Reform der psychotherapeutischen Versorgung seit dem Psychotherapeutengesetz 1999, die der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) am 16. Juni 2016 mit der neuen Psychotherapie- Richtlinie verabschiedet hat. Der Gesetzgeber hatte mit dem Gesetz zur Stärkung der Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-VSG) die Eckpunkte der Reform sicherheitshalber auch gleich genauer vorgegeben: Flexibilisierung des Therapieangebotes, insbesondere Einrichtung von psychotherapeutischen Sprechstunden, Förderung der frühzeitigen diagnostischen Abklärung und der Akutversorgung, Förderung von Gruppentherapien und Rezidivprophylaxe sowie Vereinfachung des Antrags- und Gutachterverfahrens.
Was aus Kassensicht zunächst so wirkte, als ob ein Teil des Gesetzestextes direkt von den Berufsverbänden in die Feder des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) diktiert worden sei, sah in der Gesetzesbegründung des GKV-VSG differenzierter aus. Dort wurde dem G-BA viel Spielraum bei der Umsetzung dieser Vorgaben ermöglicht. Am 23. Juli 2015 trat das Gesetz in seinen wesentlichen Teilen in Kraft, was dem G-BA ein knappes Jahr für seine Arbeit Zeit ließ. Zum Glück waren die Verhandlungen über die anstehende Reform in Erwartung des Gesetzes bereits früher begonnen worden, da die vor dem G-BA liegenden Aufgaben sonst kaum zu bewältigen gewesen wären. Bei den intensiven und schwierigen Beratungen sah es lange Zeit nicht danach aus, als ob ein gemeinsamer Beschluss gelingen würde. Am Ende setzten sich jedoch ein großer Realitätssinn und der Wille nach einem für alle tragfähigen Kompromiss sowohl bei der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und den Therapeuten als auch beim GKV-Spitzenverband (GKVSV) sowie den Verbänden und Krankenkassen durch. So konnte die neue Psychotherapie-Leitlinie schließlich fristgerecht und im Konsens zwischen Leistungserbringern und Kostenträgern verabschiedet werden.
Licht und Schatten werden alle Beteiligten in dem vorliegenden Ergebnis finden. Was des einen Licht, ist des anderen Schatten. Es gab jedoch auch gemeinsame Interessen, allen voran die Einführung von Sprechstunden und die Förderung der Gruppentherapie.
Psychotherapeutische Sprechstunden
Die psychotherapeutische Sprechstunde ist ein völlig neues Element in der zukünftigen psychotherapeutischen Versorgung und das Herz dieser Reform. Jeder Versicherte ohne einschlägige Vorbehandlung soll zeitnah bei einem Therapeuten in bis zu drei Stunden unverbindlich abklären können, ob er an einer behandlungsbedürftigen psychischen Störung erkrankt ist. Falls ja, erstellt der Therapeut eine erste Diagnose, informiert den Versicherten über die unterschiedlichen Richtlinienverfahren und berät ihn über die für ihn geeigneten Therapieoptionen. Zur Unterstützung seiner weiteren Entscheidung händigt er dem Versicherten ein allgemeines Informationsblatt zur ambulanten Psychotherapie aus sowie eine individuelle Patienteninformation mit dem Beratungsergebnis. Es kann aber auch sein, dass Psychotherapie am Ende der Beratung nicht die aktuell geeignete Behandlung ist – oder keine behandlungsbedürftige Störung gemäß der Psychotherapie- Richtlinie vorliegt. In diesen Fällen berät der Therapeut den Versicherten über Alternativen. Diese können die ganze Spannbreite von Erziehungs- oder Schuldnerberatung über Selbsthilfe bis hin zu ärztlicher, rehabilitativer oder stationärer Behandlung umfassen. Die Rolle des Therapeuten unterscheidet sich in der Sprechstunde daher maßgeblich von seiner gewohnten Rolle. In der Sprechstunde ist er nicht an ein Richtlinienverfahren (vgl. Kasten S. 34) gebunden, sondern vielmehr ein unabhängiger Ratgeber für den Versicherten und gibt diesem eine erste Orientierung.
Die Sprechstunde ist für den Versicherten in der Regel verpflichtend. Ausnahmen sind nur möglich, wenn er bereits in Behandlung bei demselben Therapeuten war oder stationär oder rehabilitativ aufgrund einer psychischen Erkrankung behandelt wurde. Ziel ist, dass der Versicherte besser als heute in die Lage versetzt wird, eine bewusste Entscheidung für ein bestimmtes Therapieverfahren oder Setting, bezogen auf seine Störung, zu treffen.
Für die Therapeuten ist die Teilnahme an der Sprechstunde freiwillig. Wenn sie sich dafür entscheiden, müssen sie bestimmte Strukturvorgaben erfüllen. Hierzu gehört ein Mindestangebot von 100 Minuten Sprechstunde pro Woche, eine telefonische Erreichbarkeit der Praxis von mindestens fünf Stunden pro Woche und die Veröffentlichung der Erreichbarkeit. Dieser Punkt hat zu intensiven Diskussionen geführt. Auf der einen Seite fühlt sich sicherlich nicht jeder Therapeut gleichermaßen als neutraler Ratgeber berufen. Andere Therapeuten haben dafür vielleicht Spaß an dieser neuen Aufgabe. Es spricht daher einiges dafür, den Therapeuten eine Chance zu geben, dies im freien Spiel der Kräfte selbst auszutarieren. Auf der anderen Seite ist es erklärtes Ziel aller Beteiligten, jedem Versicherten einen zeitnahen Zugang zu einem ersten Gespräch zu ermöglichen und die regional unterschiedlich langen Wartezeiten abzubauen. Da die Sprechstunden ab 1. April 2017 auch über die Terminservicestellen vermittelt werden, ist sichergestellt, dass ein Versicherter spätestens nach vier Wochen einen Termin erhalten wird. Gleichzeitig werden Therapeuten zukünftig nur dann einen direkten Zugang zum Versicherten haben, wenn sie an der Sprechstunde teilnehmen. Aber auch dann, wenn sie nicht teilnehmen, muss ihre Praxis ab 1. April 2017 mindestens 150 Minuten pro Woche telefonisch erreichbar sein, um eine bessere Erreichbarkeit zu garantieren. Ob diese Balance aus Pflicht und Freiwilligkeit am Ende zu dem gewünschten Ergebnis eines flächendeckenden, zeitnahen Erstzugangs für den Versicherten führt, bleibt abzuwarten.
Probatorik
Von der Sprechstunde gelangt der Versicherte in die Probatorik. Die Probatorik dient der vertieften Diagnostik und der Klärung, ob das Verfahren, der Therapeut und der Patient „passen“. Die Probatorik wurde über alle Verfahren vereinheitlicht. Außerdem müssen künftig immer mindestens zwei Stunden Probatorik durchgeführt werden, bevor eine Therapie begonnen werden kann. Patienten mit vorhergehender rehabilitativer oder stationärer Behandlung können direkt in die Probatorik gelangen. Einzige Ausnahme: Wenn nach der Sprechstunde eine Akutbehandlung angezeigt ist, entfällt die Probatorik an dieser Stelle, muss jedoch vor einer sich daran anschließenden Richtlinientherapie durchgeführt werden.
Akutbehandlung und Anzeigeverfahren
Die Akutbehandlung ist ebenfalls neu. Bei akuter Symptomatik (tiefe emotionale oder seelische Krisen, drohende Arbeitsunfähigkeit etc.) kann zukünftig bis zu zwölf Stunden Akutbehandlung stattfinden. Die Akutbehandlung ist nur anzeigepflichtig. Dadurch ist gewährleistet, dass die Therapie bei Bedarf sofort nach der ersten Sprechstunde beginnen kann. Die Sitzungen orientieren sich dabei am Bedarf des Patienten und können in sehr schneller Abfolge stattfinden. Allerdings muss der Therapeut eine somatische Abklärung herbeiführen, um somatische Ursachen auszuschließen. Falls im Anschluss der Akutbehandlung eine Therapie stattfindet, müssen zunächst mindestens zwei Stunden Probatorik durchgeführt werden. Die erbrachten Stunden werden anschließend mit der Kurzzeittherapie verrechnet.
Stundenkontingente und vereinfachtes Antragsverfahren
Die Stundenkontingente wurden komplett überarbeitet und bei den Erwachsenen auch vereinheitlicht. Besonders wichtig war den Ersatzkassen die Splittung der Kurzzeittherapie (KZT) in zwei Blöcke KZT 1 und KZT 2 à zwölf Stunden. Hierdurch sollen Anreize geschaffen werden, grundsätzlich erst mal mit wenigen Stunden zu planen, was gerade bei leichteren Störungen oft ausreicht. Diese Möglichkeit gibt es zukünftig auch für die Analytische Therapie, die zuvor immer nur als Langzeittherapie beantragt werden konnte. Auswertungen der Abrechnungsdaten haben jedoch gezeigt, dass gerade bei dieser Therapie ein nicht unerheblicher Teil von Versicherten in den ersten Stunden aufhören. Die KZT 1 gibt daher Therapeut und Patient die Möglichkeit, das Verfahren zu testen, ohne einen aufwändigen Gutachterantrag schreiben zu müssen.
Bei KZT 1 und KZT 2 hätte den Krankenkassen eine reine Anzeige gereicht, dies stieß jedoch bei den Therapeuten auf großen Widerstand, die Einschnitte im Honorar und die Wirtschaftlichkeitsprüfung fürchteten. Diese waren wiederum gegen die Splittung der KZT. Aus diesem Grund wurde sich im Zuge eines Kompromisses darauf verständigt, dass die Krankenkassen auf die reine Anzeige verzichten und im Gegenzug die Therapeuten der Splittung mit vereinfachtem Antragsverfahren zustimmen. Eine Kurzzeittherapie gilt zukünftig als genehmigt, wenn die Krankenkasse nicht innerhalb von drei Wochen widerspricht. Dies wird bei den Krankenkassen den Verwaltungsaufwand merklich reduzieren.
Gleichzeitig wurden die Antragsschritte bei Langzeittherapie vergrößert und jeweils ein Antragsschritt gestrichen. Das Gutachterverfahren muss lediglich beim ersten Antrag auf Langzeittherapie verpflichtend durchgeführt werden. Danach entscheidet die Krankenkasse, ob sie ein Gutachten für erforderlich hält, um einen Antrag zu befürworten. In allen drei Verfahren kann zukünftig außerdem zu jedem Zeitpunkt ein gutachterpflichtiger Antrag auf Langzeittherapie gestellt werden. Hierdurch wird die Behandlung von Patienten mit schweren psychischen Störungen erleichtert.
Rezidivprophylaxe
Die Sicherung des Therapieerfolges ist ein integraler Bestandteil einer jeden Therapie. Allerdings kann es auch nach Abschluss einer Therapie erforderlich sein, in Gesprächen mit dem Therapeuten einen Rückfall zu verhindern. Aus diesem Grund ist es demnächst innerhalb von zwei Jahren nach Abschluss einer Langzeittherapie möglich, bis zu acht bzw. 16 Stunden Rezidivprophylaxe in Anspruch zu nehmen, sofern das Therapiekontingent noch nicht aufgebraucht ist. Eine weitergehende Regelung hätte aus Sicht der Krankenkassen eine Nutzenbewertung erforderlich gemacht.
Kinder und Jugendliche
Die Stundenkontingente der Kinder und Jugendlichen wurden nur moderat verändert, auch für diese Gruppe gelten fortan die neuen Stundenkontingente KZT 1 und KZT 2 in der Kurzzeittherapie. In der Langzeittherapie wurde analog zu den Erwachsenen der erste Kontingentschritt ebenfalls auf 60 Stunden erweitert, wobei dies nur für die Verhaltenstherapie (VT) relevant ist – bei der tiefenpsychologisch fundierten (TP) und analytischen Psychotherapie (AP) lag der nächste Kontingentschritt bereits bei 70 bzw. 90 Stunden und wurde nicht angepasst. Bei TP kann künftig auch mit Gruppen Kurzzeittherapie bei Kindern durchgeführt werden, was heute noch nicht möglich ist.
Neu aufgenommen in die Richtlinie wurde eine Definition der Bezugspersonen. Bei Kindern und Jugendlichen können fortan auch aus dem sozialen Umfeld enge Bezugspersonen (z. B. Lehrer, aber auch Betreuer) überall einbezogen werden. Die Stundenkontingente wurden hierfür etwas großzügiger als bei den Erwachsenen definiert.
Förderung Gruppentherapie, Gutachterverfahren und Dokubogen
Die Gruppentherapiegröße wurde vereinheitlicht und bei den psychodynamischen Verfahren abgesenkt. Fortan können in allen Verfahren Gruppen von drei bis neun Teilnehmern gebildet werden. Das Gutachterverfahren für die Kurzzeittherapie wurde abgeschafft. Zukünftig wird der Gutachter verpflichtend eingeschaltet, sobald der erste Langzeittherapieschritt beantragt wird. Bei Fortführungsanträgen kann die jeweilige Krankenkasse entscheiden, ob sie den Antrag direkt genehmigen möchte oder einen Gutachter hinzuzieht. Auch wird es eigene Gutachter für die TP gegeben – bislang haben analytisch qualifizierte Gutachter auch die TP begutachtet. Um Gruppentherapie begutachten zu können, ist ebenfalls zukünftig eine entsprechende Qualifikation vorzuweisen. Ein etwa 20-jähriges Dauerthema konnte ebenfalls endlich in die Richtlinie integriert werden: ein einheitlicher Dokubogen, der jeweils zu Beginn und zum Ende einer Therapie von Therapeut und Versichertem auszufüllen ist.
Zusammenfassung und Ausblick
Dem G-BA ist mit der Änderung der Psychotherapie-Richtlinie eine weitreichende Reform gelungen. Derzeit befindet sich der Beschluss noch in der Prüfung durch das BMG. In den nächsten Monaten müssen umfangreiche Folgeänderungen an der Psychotherapie- Vereinbarung und den Formularen vorgenommen und die neuen Leistungen der Sprechstunde und Akutbehandlung in den Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) aufgenommen werden. Ab 1. April 2017 sollen alle Regelungen zeitgleich umgesetzt werden. Der G-BA wird diese in den nächsten fünf Jahren evaluieren. Psychotherapeuten können zukünftig wesentlich flexibler Patienten behandeln. Die Versicherten wiederum sollten endlich zeitnah Zugang zum Therapeuten erhalten und nicht nur auf dessen Anrufbeantworter landen.