Morbi-RSA

Auf den Prüfstand

Der morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) erfüllt nicht mehr seine Funktion, faire Wettbewerbsbedingungen herzustellen. Faire Wettbewerbsbedingungen sind aber die zentrale Basis für ein modernes Versorgungsangebot der Kassen für ihre Versicherten. Die heutigen Über- und Unterdeckungen im Morbi-RSA sind für die Krankenkassen wettbewerbspolitisch fatal und destabilisieren die gesetzliche Krankenversicherung (GKV). Die Zusatzbeiträge der Kassen sind schon lange nicht mehr Ausdruck wirtschaftlichen oder effizienten Handelns. Sie zeigen das Ausmaß der immensen Wettbewerbsverzerrungen. Daher muss der Morbi-RSA auf den Prüfstand.

Seit Einführung des Morbi-RSA im Jahr 2009, verstärkt seit 2013, ist festzustellen, dass die MorbiRSA-Zuweisungen an die Krankenkassen deren tatsächliche Leistungsausgaben einerseits zunehmend nicht decken (Unterdeckung bzw. negativer Morbi-RSA-Deckungsbeitrag), andererseits bei anderen Krankenkassen in ebenfalls zunehmender Weise zu einer Überdeckung führen. Grundsätzlich muss diese Erkenntnis nicht überraschen, orientierten sich die Zuweisungen für einzelne Ausgleichsfaktoren doch immer an den GKV-Durchschnittsausgaben. Was allerdings problematisch ist, ist die Stetigkeit der zunehmend scherenhaften Auseinanderentwicklung der Deckungsbeiträge.

Das Flussdiagramm zeigt die grundsätzliche Funktionsweise des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs (RSA) ab 2024/01

Verzerrung des Wettbewerbs

Mitte November 2017 sind die Ergebnisse des RSA-Jahresausgleichs 2016 veröffentlicht worden, die das Auseinanderdriften der Deckungsbeiträge anschaulich belegen:

  • Die AOK vergrößern ihre Überdeckung von 2015 auf 2016 um weitere 438 Millionen Euro innerhalb eines Jahres auf jetzt 1.523 Millionen Euro.
  • Die Unterdeckung der Ersatzkassen nimmt um weitere 253 Millionen Euro auf jetzt 983 Millionen Euro zu.
  • Auch die Unterdeckungen der Betriebs- und Innungskrankenkassen nehmen erheblich zu. Auch die Knappschaft gerät in die Unterdeckung. Die Spanne der Deckungsbeiträge liegt mittlerweile bei rund 2,5 Milliarden Euro.

Noch aussagekräftiger ist es, wenn der Deckungsbeitrag auf Versicherte bezogen und in Beitragssatzpunkten dargestellt wird (s. Abb. 2 und Abb. 3). Bei dieser Betrachtung zeigt sich, dass die AOK im Jahr 2016 pro Versicherten 59 Euro mehr bekommen hat, als sie für die Versorgung dieses Versicherten benötigt hätte. Die Ersatzkassen erhielten dagegen 35 Euro zu wenig, die Innungskrankenkassen 50 Euro, die Betriebskrankenkassen 21 Euro und die Knappschaft 86 Euro zu wenig. Insgesamt standen den Ersatzkassen 2016 also 94 Euro weniger, den Innungskrankenkassen 109 Euro weniger, den Betriebskrankenkassen 80 Euro weniger und der Knappschaft 86 Euro weniger als der AOK pro Versicherten für die Deckung der Ausgaben für deren Versorgung zur Verfügung. Die Fehlwirkungen des heutigen Morbi-RSA erzeugen zum Teil erhebliche Wettbewerbsverzerrungen zwischen den gesetzlichen Krankenkassen, die in ihrer finanziellen Brisanz zunehmen. Denn die Über- oder Unterdeckung durch Morbi-RSA-Zuweisungen muss durch Einnahmen aus Zusatzbeitragssätzen kompensiert werden (s. Abb. 4). Diese driften somit entsprechend der Deckungsbeitragsentwicklung mit der Zeit auseinander und verstärken die Versichertenfluktuation mit einer inhärenten Tendenz zur Risikoentmischung.

Dies ist ganz deutlich bei der AOK zu beobachten. Niedrige Zusatzbeiträge der AOK ziehen überdurchschnittlich viele Neuzugänge an. Die Leistungsausgaben für diese Neuzugänge sind rein demografisch aber auch alters- und geschlechtsstandardisiert unterdurchschnittlich, zum Teil deutlich. Die Risikostruktur der AOK wird verjüngt, die Veränderungsrate der Leistungsausgaben wird nach unten gedrückt. Dies ist nicht auf erfolgreiches Ausgabenmanagement zurückzuführen, sondern Folge der aus der Zuweisung des RSA resultierenden Überdeckung und den daraus resultierenden Folgewirkungen niedrigerer Zusatzbeitragssätze. Weil die Zuweisungen für die Neuzugänge sich nicht entsprechend zu den Leistungsausgaben verringern, nimmt die Überdeckung bei der AOK sogar noch zu. Es ist nicht zu erwarten, dass der beobachtbare progrediente Prozess von alleine stoppt. Denn hierfür ursächlich ist eine Mischung aus systematischen Fehlwirkungen des heutigen Konzepts des Morbi-RSA, die zu einem Ungleichgewicht bei den Finanzströmen geführt haben und das sich weiter verstärkt, verbunden mit nur schwer steuerbaren (nur im Idealfall umkehrbaren) Risikoselektionsprozessen durch Versichertenfluktuation. Diese hängt in der GKV mehr als in anderen „Märkten“ im Wesentlichen vom Preis (Zusatzbeitragssatz) ab, da die Leistungen gesetzlich weitestgehend vereinheitlicht sind.

Illustration: Waage, die verdeutlicht, dass AOK und Knappschaft bei Morbi-RSA-Zuweisungen stärker berücksichtigt werden als Ersatzkassen, BKK und IKK

Sondergutachten des Beirats

Mit Erlass des Bundesministeriums für Gesundheit vom 13. Dezember 2016 wurde der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesversicherungsamt (BVA) beauftragt, bis zum 30. September 2017 in einem Sondergutachten die Wirkungen des Morbi-RSA - unter Berücksichtigung der vorliegenden RSA-Jahresausgleiche - zu überprüfen sowie die Folgen relevanter Vorschläge zur Veränderung des Morbi-RSA empirisch abzuschätzen. Dieses Gutachten wurde am 19. Oktober 2017 als Zusammenfassung vorgelegt. Die Wissenschaftler analysieren zutreffend, dass seit Einführung des Morbi-RSA Krankenkassen mit seit 2009 zunehmender Morbidität über die Jahre tendenziell leicht unterdeckt, Krankenkassen mit im Zeitverlauf abnehmender Morbidität kontinuierlich leicht überdeckt sind. Sie weisen nach, dass insbesondere bei der AOK die (normierten) Leistungsausgaben stärker als die (normierten) Zuweisungen gesunken sind und sich daraus für die AOK eine Entwicklung steigender positiver Deckungsbeiträge ergibt. Sie bestätigen, dass sich demgegenüber die Risikostruktur bei Betriebskrankenkassen, Innungskrankenkassen und Ersatzkassen (im Durchschnitt) relativ verschlechtert hat. Bei diesen Krankenkassen sind daher die (normierten) Leistungsausgaben und (normierten) Zuweisungen seit 2009 kontinuierlich gestiegen, aber: Da die Zuweisungen hier weniger stark als die Leistungsausgaben gestiegen sind, haben sich negative Deckungsbeiträge entwickelt.

Die Wissenschaftler bestätigen die Analyse des Verbandes der Ersatzkassen e. V. (vdek) der letzten Jahre: Deckungsbeiträge zwischen den Krankenkassenarten haben sich kontinuierlich auseinanderentwickelt. Durch diese fortgesetzte Unterdeckung durch Morbi-RSA-Zuweisungen nimmt der finanzielle Druck bei den betroffenen Krankenkassen kontinuierlich zu. Die Ersatzkassen hätten sich daher  gewünscht, dass der Beirat für diese einvernehmlich festgestellte Wettbewerbsverzerrung schnell wirksame Lösungen angeboten hätte. Zumal der Beirat auch feststellt, dass in den letzten Jahren eine Marktkonzentration stattgefunden hat und ausgeprägte Monopolisierungstendenzen in bestimmten Bundesländern festgestellt werden können. In zwei Bundesländern (Sachsen und Thüringen) sei der Krankenkassen-Markt schon jetzt als hochkonzentriert zu bezeichnen.

Aber er kommt lediglich zu dem Schluss, dass die Entwicklung sorgfältig beobachtet werden muss. Dass hierfür maßgeblich auch die "Sonderrolle" der AOK im Wettbewerb verantwortlich ist, wird nur am Rande erwähnt, aber in der Analyse nicht näher hinterfragt. Denn nur alle anderen Krankenkassen befinden sich auch kassenartenintern im Wettbewerb untereinander, nicht aber die AOK - ein direkter Wettbewerbsvorteil, der aus dieser Gebietsaufteilung resultiert. Dies sei, so der Wissenschaftliche Beirat, auch der Grund, warum Betrachtungen und Darstellungen auf Kassenartenebene nicht sinnvoll seien. Eine Überlegung, ob vielleicht die "Sonderrolle" der AOK ein Problem im System sei, wird nicht von ihm angestellt. Stattdessen wird die Auflösung der Haftungsgemeinschaften auf Kassenartenebene gefordert. Der Vorschlag ist kein Beitrag für eine Lösung der oben beschriebenen Wettbewerbsverzerrungen. Diese Marktkonzentration beeinträchtigt schon heute die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs um Qualität und Wirtschaftlichkeit. Sie ist vor allem Ergebnis der Überdeckungen einiger regionaler Krankenkassen, die deshalb unterdurchschnittliche Zusatzbeiträge anbieten können. Wie ein roter Faden ziehen sich eine Grundprämisse und ein Fazit durch alle Aussagen der Gutachter: Der Morbi-RSA funktioniert im Prinzip, er lässt sich aber auch noch an vielen Einzelschrauben weiterentwickeln. Akuter Änderungsbedarf besteht aber nicht. Die Ersatzkassen können dies angesichts der tatsächlichen Deckungsbeitragsentwicklung nicht nachvollziehen.

Ersatzkassen lehnen Krankheitsvollmodell ab

Die Gutachter empfehlen die Einführung  eines Krankheitsvollmodells und ein Folgegutachten zur Ausdifferenzierung der Morbiditätsgruppen (HMGs). Hierzu seien weiterführende Arbeiten erforderlich, die im Rahmen der kontinuierlichen Pflege des RSA-Modelles geleistet werden könnten. Die Ersatzkassen lehnen ein Krankheitsvollmodell ab. Dieser Ansatz würde die AOK mit dreistelligen Millionenbeträgen weiter bevorteilen, sodass sich der Morbi-RSA noch mehr von einem stabilen, fein ausbalancierten Gleichgewichtszustand entfernen würde. Ein Vollmodell würde die eben beschriebenen Über- und Unterdeckungen weiter vergrößern und damit die Wettbewerbsverzerrungen potenzieren, die geringe Verbesserung der Gütemaße (R²/CPM) kann diese Maßnahme nicht genügend rechtfertigen. Durch die Einführung entsteht zudem ein deutlich erhöhter Pflegeaufwand für das Klassifikationsmodell, da dieses auf einmal die mindestens dreifache Menge an Morbiditätsgruppen enthält. Dieser kann durch den Verzicht auf eine Krankheitsauswahl nur teilweise kompensiert werden. Durch die Erweiterung auf ein Krankheitsvollmodell würde sich auch die Manipulationsanfälligkeit des Morbi-RSA erhöhen. Die Vielzahl an neuen leichten Erkrankungen bietet einen größeren Spielraum bei der Kodierung.

Die Ersatzkassen bewerten es als sinnvoll, dass sich der Wissenschaftliche Beirat mit den möglichen Ursachen von Unter- und Überdeckungen in Abhängigkeit von Alter und Zahl der Morbiditätsgruppen (HMG) sowie Möglichkeiten einer Verbesserung des Zuweisungsmodells befasst. Die von den Gutachtern vorgeschlagenen sogenannten Altersinteraktionsterme sind methodisch sinnvoll und können einige Schieflagen bei der Deckung von Versichertengruppen beseitigen. Bewerten kann man dies abschließend nach Vorlage des gesamten Gutachtens.

Regionalkomponente ist berechtigt

Die Ersatzkassen begrüßen, dass der Wissenschaftliche Beirat bereits in dem jetzt vorgelegten Gutachten seine Auffassung zum Ausdruck bringt, dass eine Regionalkomponente im RSA (nach Nomenklatur der Ersatzkassen eine sogenannte Versorgungsstrukturkomponente) umso mehr berechtigt ist, je weniger die regionalen Kostenniveaus von den Krankenkassen beeinflussbar sind. Dies ist aus Sicht der Ersatzkassen unbestritten der Fall. Insoweit ist irritierend, dass der Wissenschaftliche Beirat seinen Blick auf eine regionale Differenzierung der Zusatzbeiträge schweifen lässt. An anderer Stelle waren Ansatzpunkte zur Optimierung des GKV-Finanzierungssystems jenseits des Morbi-RSA ihm allenfalls eine Randnotiz wert. Die Einführung regionaler Zusatzbeitragssätze löst das Problem der Fehlzuweisungen aufgrund unterschiedlicher Versorgungskostenniveaus nicht. Die Ersatzkassen lehnen diesen Ansatz vor allem auch ab, weil er interregionale Disparitäten bei den Kosten der Gesundheitsversorgung verschärft. Hinzu kommt, dass Krankenkassen mit Versichertenschwerpunkt in den Städten Ausgabenunterdeckungen hinnehmen müssen, Regionalkassen in ländlichen Räumen, wie etwa in Teilen Baden-Württembergs oder Sachsen-Anhalts, mit Überdeckungen aus dem RSA ihre Zusatzbeitragssätze subventionieren können. Diese Überdeckungen führen neben Wettbewerbsverzerrungen auch zu unwirtschaftlichem Verhalten. Über Regionalzuschläge im RSA sollen hingegen die strukturbedingten Ausgabenunterschiede nivelliert und Wettbewerbsverzerrungen abgebaut werden.

Erwerbsminderungsstatus überholt

Nach Auffassung der Wissenschaftler soll der Status Erwerbsminderungsrentner als Ausgleichskriterium im RSA (EMR-Zuschlag) beibehalten werden. Gegebenenfalls sollen aber statistisch methodische Änderungen erfolgen. Nach der Einführung des Morbi-RSA ist der sozialrechtliche Status Erwerbsminderungsrentner als eigenständiges Ausgleichskriterium unsystematisch. Zwar leiden Menschen, die eine Erwerbsminderungsrente beziehen, in der Regel an komplexen gesundheitlichen Problemen, aber nicht alle Menschen mit komplexen gesundheitlichen Problemen haben Anspruch auf einen EMR-Zuschlag. In der Folge bekommen Krankenkassen, die viele Selbstständige oder nichtberufstätige Personen mit gleichen Erkrankungen versichern, viel seltener EMR-Zuschläge aus dem Gesundheitsfonds; trotz gleicher Krankheitslast. Dies bedeutet eine ungerechtfertigte Schlechterstellung dieser Kassen und wirkt bei dem hohen Anteil mitversicherter Familienangehöriger wettbewerbsverzerrend. Gleichzeitig erhalten Krankenkassen mit Erwerbsminderungsrentnern unter sonst gleichen Bedingungen überproportional viel Geld aus dem Gesundheitsfonds.

Nach Einschätzung des vdek enthält das Sondergutachten des Wissenschaftlichen Beirats keine Lösungen, wie die finanzielle Benachteiligung der Ersatzkassen und ihrer Versicherten im Morbi-RSA kurzfristig beseitigt werden kann. Stattdessen wird von dem Beirat ein Krankheitsvollmodell vorgeschlagen, das bereits überdeckte Krankenkassen und Kassenarten weiter bevorteilt. Die Ersatzkassen fordern die Politik auf, anstelle einer Unterstützung eines langjährigen Forschungsprogramms zum RSA zu Beginn der neuen Wahlperiode rasch RSA-Reformen auf den Weg zu bringen, die tatsächlich  geeignet sind, faire Wettbewerbsbedingungen zwischen den Krankenkassen und für die Versicherten zu schaffen. Dafür haben die Ersatzkassen bereits vor Monaten gangbare Vorschläge präsentiert.

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