Interview mit Prof. Dr. Petra Gastmeier

"Hygiene fängt bei den Händen an"

Jährlich erkranken rund 500.000 Patienten in deutschen Krankenhäusern an einer nosokomialen Infektion, etwa 10.000 Menschen versterben infolge- dessen. Die Hygiene in Kliniken und anderen medizinischen Einrichtungen zu verbessern, ist ein wichtiges Thema geworden für die Krankenhäuser, die Krankenkassen und die Politik. Prof. Dr. Petra Gastmeier, Direktorin des Instituts für Hygiene an der Charité in Berlin, ist seit vielen Jahren Expertin auf diesem Gebiet. Im Interview mit ersatzkasse magazin. spricht sie über die Entwicklung der Hygiene, den Umgang mit Krankenhausinfektionen und darüber, wo die großen Herausforderungen liegen.

Prof. Dr. Petra Gastmeier

Prof. Dr. Petra Gastmeier

Sie arbeiten seit Mitte der 80er Jahre als Fachärztin für Hygiene. Inwieweit hat sich der Stellenwert der Hygiene in den letzten 30 Jahren verändert?

Damals war die Hygiene für angehende Ärzte nicht sehr interessant. Wobei ich den Tätigkeitsbereich schon immer spannend fand. Interessanterweise gab es in den 80er und 90er Jahren an fast allen Universitäten in Deutschland eigenständige Institute für Hygiene. Diese sind aber im Laufe der Jahre immer weniger geworden. Heute gibt es nur noch an rund zehn Universitäten ein Institut für Hygiene. Das hat damit zu tun, dass die Hygiene damals anders ausgerichtet war, sie konzentrierte sich stark auf Desinfektion und Sterilisation. Nur ließen sich damit keine großen Drittmittelprojekte erwerben, weswegen die Lehrstühle für Hygiene aus Sicht der Universitäten nicht so wichtig waren. Glücklicherweise gibt es heute positive Signale dahingehend, dass wieder mehr Lehrstühle für Hygiene geschaffen werden.

Wie haben sich Krankenhausinfektionen entwickelt, hat sich das Problem verschärft?

Die Krankenhausinfektionen insgesamt sind relativ konstant geblieben, wenn man die Prävalenzstudien aus den Jahren 1994, 2011 und 2016 betrachtet. Aber es gibt auch zwei wichtige Einflüsse zu beachten. Zum einen haben die Krankenhäuser versucht, sich besser aufzustellen im Hinblick auf Infektionspräventionsmaßnahmen, etwa indem sie selbst ihre Daten erfassen, auswerten und entsprechend reagieren. Da hat sich sehr viel getan. Zum anderen sind die Patienten älter geworden. Es finden immer mehr invasive Maßnahmen statt, es werden mehr Katheter benötigt, und das sind Eintrittspforten für Infektionen. Entsprechend kompensiert sich der Effekt, sodass nosokomiale Infektionen konstant geblieben sind. Allerdings hat sich die Zahl der multiresistenten Erreger stark verändert. Ende der 90er Jahre gab es kaum multiresistente Erreger, heute sind diese eindeutig gestiegen. Etwa sechs Prozent aller Krankenhausinfektionen werden heute durch multiresistente Erreger hervorgerufen. Aber man muss auf jeden Fall alle Erreger und Infektionen im Blick behalten und versuchen, diese zu reduzieren.

Wie schafft man das?

Grundsätzlich unterscheidet man zwischen horizontalen und vertikalen Maßnahmen. Bei den vertikalen Maßnahmen greift man sich einen bestimmten Erreger heraus und versucht, alles im Hinblick auf diesen einen Erreger zu optimieren. Dies hat man mit MRSA begonnen und versucht zu perfektionieren. Dazu gehört zum Beispiel das Screening von Patienten, was in bestimmten Bereichen auch Sinn macht, etwa wenn der Patient aus einem Land eingeliefert wird, in dem eine Durchseuchung von multiresistenten Erregern bekannt ist. Da lässt sich dann beim Aufnahme-Screening überprüfen, ob der Patient den Erreger mitbringt. Bei horizontalen Maßnahmen dagegen werden die Infektionsketten immer abgebrochen, egal um welchen Erreger es sich handelt. Die Händehygiene ist eine klassische horizontale Maßnahme. Genauso auch eine gute Reinigung und Desinfektion von Gegenständen und Räumen. Ein weiser Umgang mit Antibiotika ist ebenfalls eine horizontale Maßnahme.

Als vertikale Maßnahme erwähnten Sie das Screening bei MRSA. Könnte man das auf alle Patienten und multiresistenten Erreger ausweiten?

Da kommt man ganz schnell an seine Grenzen. In einem Forschungsprojekt haben wir herausgefunden, dass etwa 15 Prozent der Patienten einen multiresistenten Erreger mitbringen, wenn sie ins Krankenhaus kommen. Bei ihnen allen müsste man demzufolge entsprechende Maßnahmen durchführen. Dazu gehört auch, den Patienten zu isolieren, doch so viele Isolierungsräume haben die Krankenhäuser in Deutschland gar nicht. Hinzu kommt, dass die Screening-Untersuchungen nicht perfekt sind. So wähnt man sich schnell in falscher Sicherheit.

Kommen wir zu den horizontalen Maßnahmen. Sie haben Antibiotika angeführt. Was muss hier passieren?

Dass die multiresistenten Erreger auf dem Vormarsch sind, ist auch deswegen sehr problematisch, weil die Zahl der Reserveantibiotika, die man noch einsetzen kann, sehr klein ist. Die Öffentlichkeit ruft ja immer nach neuen Antibiotika und es wäre natürlich sehr gut, wenn es neue gäbe, keine Frage. Aber wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass sich mit neuen Antibiotika ganz schnell wieder Resistenzen bilden. Zudem dauert die Entwicklung neuer Antibiotika Jahre. Deswegen denke ich, wäre ein reduzierter Einsatz von Antibiotika sinnvoller. Beispielsweise werden etwa 50 Prozent aller Wundinfektionen bei Operationen in der Herzchirurgie und Orthopädie von MRSA oder anderen Staphylokokken hervorgerufen. Da macht es Sinn, dass die Patienten vor der Operation schon zu Hause, also ambulant, die Erreger mithilfe einer Nasensalbe oder durch spezielle Waschungen abtöten. Studien haben gezeigt, dass die Zahl der Wundinfektionen mit diesen Erregern dadurch deutlich reduziert werden kann. Die Reduzierung muss natürlich überall passieren, im Krankenhaussektor, im ambulanten Bereich, in der Veterinärmedizin, die multiresistenten Erreger sind inzwischen auch in der Umwelt, im Boden, im Abwasser.

Teilweise praktizieren Krankenhäuser Antibiotic Stewardship. Was verbirgt sich dahinter?

Das ist ein weiterer sinnvoller Weg, um Antibiotika im Krankenhaus rationaler einzusetzen. Ein besonders fortgebildeter Arzt auf diesem Gebiet wird zum sogenannten Antibiotic Steward ernannt, der sich im gesamten Krankenhaus darum kümmert, dass der Antibiotikaeinsatz weiser funktioniert. Gerade Ärzte mit weniger Erfahrungen im Umgang mit Antibiotika neigen dazu, aus falschem Sicherheitsglauben heraus Antibiotika zu verabreichen, was oft nicht oder nicht so lange notwendig ist. Um Ärzte zum Antibiotic Steward ausbilden zu lassen, werden Krankenhäuser auch von den Krankenkassen  gefördert.

Eine weitere horizontale Maßnahme ist die Händehygiene.

Die sogenannte Compliance zur Händehygiene, also dass wirklich eine Händehygiene durchgeführt wird, wenn sie notwendig ist, war und ist leider noch immer nicht ausreichend. Um die Jahrtausendwende haben wir auf der Intensivstation der Charité genau beobachtet, wie häufig Händedesinfektionen durchgeführt wurden. Die Mitarbeiter wurden über die Beobachtung informiert und doch betrug die Compliance nur etwa 50 Prozent. Das bedeutet, sie wussten auch gar nicht so genau, wann eine Händehygiene überhaupt notwendig ist. Daher haben wir heute in den Leitlinien ganz klar festgelegt, wann eine Händehygiene sein muss, und die Mitarbeiter werden entsprechend geschult.

Die Charité hat 2008 die Aktion Saubere Hände ins Leben gerufen. Was wurde mit der Kampagne erreicht?

Wir haben in diesen zehn Jahren sehr viel in die Händehygiene investiert, was immerhin dazu geführt hat, dass sich der Desinfektionsmittelverbrauch insgesamt in über 1.000 Krankenhäusern, die bei der Kampagne mitmachen, verdoppelt hat. Inzwischen sind die Compliance-Raten also viel besser, an der Charité beispielsweise liegen wir zwischen 70 und 80 Prozent. Aber wir sind immer noch nicht da angekommen, wo wir eigentlich hin müssten, nämlich zu weit über 80 Prozent, und das eben nicht nur auf Intensivstationen, sondern in allen Bereichen, in Pflegeheimen, im ambulanten Sektor. Da besteht überall noch Verbesserungsbedarf.

Wie bewerten Sie diese unterschiedlichen Maßnahmen?

In meinen Augen sind die vertikalen Maßnahmen völlig überbetont. Es ist schade, dass auch die Öffentlichkeit nicht einem breiten Ansatz zufolge alle Erreger in den Blick nimmt. Denn alle Erreger können problematisch sein, wenn sie in Körperbereiche gelangen, die normalerweise steril sind. Deswegen halte ich es für sinnvoller, den Schwerpunkt auf die horizontalen Maßnahmen zu legen. Aber wir brauchen zugleich auch viel mehr Daten darüber, was sinnvoll und nicht sinnvoll ist und auch belastbare Zahlen zu den Kosten von Krankenhausinfektionen. Es macht im Grunde nur Sinn, Maßnahmen umzusetzen, wenn diese wissenschaftlich fundiert und untermauert sind.

Oft wird auf die Niederlande als Vorbild verwiesen. Läuft es dort besser?

Interessant ist, dass die Händedesinfektion in Deutschland besser ist als in den Niederlanden. Nur: In einem holländischen Krankenhaus werden nicht so viele Patienten von demselben Mitarbeiter behandelt. Es besteht dort ein besserer Personalschlüssel, gerade auf Intensivstationen, sodass bei einer Eins-zu-Eins Pflege ein möglicher Erreger weniger wahrscheinlich übertragen werden kann. In den Niederlanden werden außerdem viel weniger Patienten hospitalisiert, dafür mehr ambulant behandelt. Kommt ein Patient dann aber in ein Krankenhaus, ist die Situation günstiger, weil es viel mehr Einzelzimmer bzw. vergleichsweise weniger Patienten gibt. Man muss bei diesen Vergleichen immer im Blick haben, dass das niederländische Gesundheitssystem ein ganz anderes ist als das deutsche.

Auf politischer und gesetzgeberischer Ebene ist mit Blick auf Hygiene bereits viel passiert. Was war hilfreich, wo muss mehr getan werden?

Die Gesetze haben vor allem organisatorisch viel geregelt. Das Infektionsschutzgesetz 2001 war sicherlich ein großer Beginn. Es sieht zum Beispiel vor, dass alle Krankenhäuser ihre Infektionsraten regelmäßig erfassen. In der Neuauflage bzw. dem Infektionsschutzgesetz 2011 wurde festgelegt, dass die Bundesländer Krankenhaus-Landeshygieneverordnungen entwickeln müssen, die unter anderem eine bestimmte Anzahl an Hygienefachpersonal, Hygienekommissionen und Krankenhaushygieniker vorsehen. Krankenhaushygieniker sprechen mit Ärzten und Pflegepersonal aller Abteilungen, werten Daten aus, schauen sich die Infektionsraten und Compliance der Händehygiene an und legen gemeinsam mit der Krankenhausleitung fest, was getan werden kann, um Verbesserungen zu erreichen. Das sind wichtige Schritte, um die Hygiene im Krankenhaus an sich besser zu organisieren.

Wie sieht es mit der Hygiene im ambulanten Bereich aus?

Die Infektionsrisiken im ambulanten Bereich sind natürlich viel geringer als im Krankenhaus, daher konzentriert sich die Hygiene vorrangig auf Krankenhäuser und Pflegeheime. Aber selbstverständlich muss auch im ambulanten Bereich für Hygiene sensibilisiert werden. Wir versuchen, die Aktion Saubere Hände auf den ambulanten Bereich auszuweiten, aber das funktioniert leider nicht so gut. Ein großes Problem ist, dass es an Kontaktpersonen fehlt. Im stationären Bereich sind die Hygienefachkräfte und die Krankenhaushygieniker die Ansprechpartner. Es ist einfach schwieriger, an die niedergelassenen Ärzte selbst bzw. deren Sprechstundenhilfen heranzukommen.

Welche Rolle spielt die Digitalisierung?

Ich glaube, dass unter dem Stichwort Digital Health sehr viel mehr erreicht werden kann, etwa mit Blick auf digitale Patientenakten. Wenn darin zum Beispiel in allen Krankenhäusern die Antibiotikagabe verzeichnet ist, könnte man allgemeine Spielregeln festlegen. Wenn das Verhalten der Mitarbeiter davon  abweicht und das Computersystem eine Art Erinnerung sendet, wäre das sehr hilfreich. Oder wenn es eine Erinnerungsfunktion mit Blick auf den richtigen Zeitpunkt der Entfernung eines Katheters gäbe, um das Risiko für Infektionen zu verringern. Da sind viele gute Ideen denkbar.

Wie kann der Patient selbst zu einer besseren Hygiene beitragen?

Da ist auf jeden Fall noch Verbesserungspotenzial vorhanden, auch bei den Besuchern der Patienten. Für viele steht der Eigenschutz im Vordergrund. Es muss aber genauso um die Vermeidung von Übertragung und  Infektion gehen. Auch könnte sich der Patient mehr trauen, das medizinische Personal  dahingehend zu beobachten und anzusprechen, ob die Händehygiene durchgeführt wird. Allerdings wird der Patient immer mündiger, daher glaube ich, ist es eine Frage der Zeit. Der wichtigste Punkt aber ist, dass sich der Patient selbst klar macht, was die Infektionsrisiken sind. Deswegen auch immer wieder mein Appell für die horizontalen Maßnahmen: Der Patient sollte einen allgemeinen Blick für Infektionsrisiken entwickeln.

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