Morbi-RSA und Risikoselektion

Realitätscheck einer gesundheitspolitischen Argumentation

Dr. Karsten Neumann, Geschäftsführer des IGES-Instituts

Dr. Karsten Neumann, Geschäftsführer des IGES-Instituts

Sind die Zuschläge für Erwerbsminderungsrentner im morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) weiterhin erforderlich, um eine negative Risikoselektion dieser Versichertengruppe zu vermeiden? Eine Auswertung des IGES-Instituts kommt zu dem Ergebnis, dass die Angst vor einer solchen Selektion aus mehreren Gründen häufig überschätzt wird.

Der Morbi-RSA verfolgt zwei Hauptziele: die Herstellung gleicher Chancen im Wettbewerb und die Vermeidung von Risikoselektion (Drösler, S. et al. (2011): Evaluationsbericht zum Jahresausgleich 2009 im Risikostrukturausgleich, S.9 und 11). Reformvorschläge werden immer wieder auch mit Blick auf letzteres Ziel diskutiert, zuletzt in der Frage, ob Erwerbsminderungsrentner einen spezifischen Zuschlag erhalten sollten, um eine Risikoselektion gegen diese Gruppe zu vermeiden (Jacobs, K. (2016), Keine Schnellschüsse beim Risikostrukturausgleich, in: GGW Jg. 16, Heft 2, S.7-14). Ohne diesen Zuschlag im RSA (Erwerbsminderungsgruppen, EMG) drohe Negativselektion der Kassen gegen diese Gruppe, die einen negativen Deckungsbeitrag von durchschnittlich ca. 1.400 Euro hätte und leicht zu identifizieren wäre.

Anhand von Echtdaten wollen wir diesen unterstellten Mechanismus der Negativ-Risikoselektion hinterfragen. Negativ-Risikoselektion sei verstanden als der Versuch, Versicherte mit negativen Deckungsbeiträgen (DB) zur Kündigung zu bewegen oder ihre Aufnahme zu vermeiden. Eine Gesamtbetrachtung von Risikoselektion müsste daneben auch die Positiv-Risikoselektion beleuchten, durch die attraktive Versicherte gewonnen und gebunden werden sollen.

Nur 29 Prozent der Erwerbsminderungsrentner haben negativen Deckungsbeitrag

Zur Beurteilung der Anreizwirkungen von DBs ist ein Blick auf ihre Verteilung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) hilfreich. Eine GKV-repräsentative Stichprobe von drei Millionen Versicherten hat ergeben, dass ca. 25 Prozent aller Versicherten einer durchschnittlichen Kasse zu einem gegebenen Zeitpunkt einen negativen DB haben, die große Mehrheit der Versicherten ist also positiv. Letzteres gilt auch für Erwerbsminderungsrentner. Im aktuellen RSA haben 29 Prozent von ihnen einen negativen DB, bei Wegfall der EMGs wären es 35 Prozent. Was heißt das für die unterstellte Negativselektion? Selbst wenn eine Kasse diese planmäßig betreiben würde (was wir nicht glauben), so wäre eine Maßnahme zur „Vertreibung“ von EM-Rentnern im eigenen Bestand betriebswirtschaftlich widersinnig: Die Mehrheit der Gruppe hat ja einen positiven DB! Umgekehrt würde diese Kasse von allen Versicherten mit negativem DB nur einen kleinen Teil erfassen. An diesen haben EM-Rentner mit negativem DB nämlich nur einen Anteil von 2,6 Prozent bzw. bei Wegfall der EMGs von 3,4 Prozent. Die hypothetische Kasse mit dem Ziel der Negativselektion würde sich also nicht auf EM-Rentner fokussieren, sondern alle Versicherte adressieren, die langfristig einen negativen DB haben – dies gilt aufgrund chronischer Konditionen für die große Mehrheit der 25 Prozent. Selbst wenn die Kasse nur die 10 Prozent Versicherte mit den niedrigsten DBs adressieren wollte, ist der Anteil der EM-Rentner mit 4,6 bzw, 6,1 Prozent noch klein.

Somit ist Negativselektion im Bestand gegen eine Gruppe, die zwar im Durchschnitt einen negativen DB hat, in der Mehrzahl der Gruppenangehörigen aber nicht, unter keiner noch so unethischen Kassenstrategie sinnvoll.

Erwerbsminderungsrentner selten Kassenwechsler

So bliebe als Hebel für eine hypothetische Negativ-Risikoselektion nur die Vermeidung der Aufnahme neuer EM-Rentner. Diese haben allerdings an den Kassenwechslern nur einen Anteil von ca. 0,9 Prozent - und für diese wenigen Wechsler gilt vermutlich noch die allgemeine GKV-Erfahrung, dass eher Individuen mit positivem DB wechseln. Unabhängig davon wäre eine Vermeidungsstrategie aufwändig. Andere Risikogruppen wären deutlich leichter zu identifizieren und auszugrenzen, etwa indem der Vertrieb in teuren Regionen eingestellt wird oder Versicherte mit sichtbaren Gesundheitsrisiken ausgegrenzt werden. Eine gezielte Vermeidung setzt zudem eine breit gestreute Arbeitsanweisung voraus, Aufnahmeanträge bewusst abzulehnen oder Vertriebsgespräche abzubrechen. Das Imagerisiko bei Bekanntwerden solcher Maßnahmen wäre für eine Kasse deutlich höher als das doch sehr begrenzte finanzielle Potenzial: Wenn eine Kasse mit einer Million Versicherten ca. 25.000 Versicherte pro Jahr vom Fremdmarkt aufnimmt und 0,9 Prozent EM-Rentner mit 1.400 EUR negativem DB vermeidet, spart sie 315.000 Euro oder 0,1 Promille ihrer Jahresausgaben. Faktisch wäre es noch weniger, weil der DB der Wechsler nicht so stark negativ ist und nicht alle Wechsel vermieden werden können.

Sowohl im Bestand als auch im Vertrieb ist eine planmäßige Negativselektion also weder betriebswirtschaftlich sinnvoll, noch aus Imagegründen tragbar. Die Diskussionen der letzten Jahre über die entsprechenden Fälle haben die Kassenmanager eindrücklich vor solchen Maßnahmen gewarnt.

Erfolg im Kassenwettbewerb findet durch Positiv-Selektion statt

Es ist zwar vorstellbar, dass Kassen aus Kostengründen ein zu restriktives Leistungsmanagement betreiben und dabei zumindest in Kauf nehmen, durch Leistungsverweigerungen teure Versicherte zu verprellen. Das wäre versorgungspolitisch abzulehnen, aber diese Maßnahme beträfe wiederum alle teuren Leistungsfälle und nicht die kleine Teilgruppe der EM-Rentner.

Erfolg im Kassenwettbewerb findet durch Positiv-Selektion statt. Jahrelang hatten die Kassen Preisvorteile, die jüngere, gesündere oder sozial besser gestellte Mitglieder gewannen. Aktuell profitieren besonders die Kassen in günstigen Regionen. Die Preisvorteile entstehen nicht durch die Vermeidung weniger stark negativer DBs, sondern durch die Gewinnung vieler leicht positiver DBs.

Ob die gezeigte Kurve durch Verfeinerung des RSA an beiden Enden abgeflacht werden kann, ohne den RSA zu kleinteilig zu machen und die Steuerungsanreize zu nehmen, verdient eine vertiefende Diskussion.

Hier können wir festhalten: Die Angst vor der Negativ-Risikoselektion hat in der Diskussion der vergangenen fünfzehn Jahre immer eine große Rolle gespielt, ist dabei aber häufig überschätzt worden. Als Maßnahme gegen vordefinierte Gruppen ist sie im Bestand betriebswirtschaftlich unsinnig, im Vertrieb kaum umzusetzen.

In der Diskussion um den RSA sollte das tatsächliche Handeln der Kassen in der Praxis stärker berücksichtigt werden.

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