Finanzierung

Morbi-RSA reformieren - Kassenwettbewerb fair gestalten

Illustration: Waage mit der Beschriftung "Morbi-RSA"

Der morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) wird seinem Ziel, für faire Wettbewerbsbedingungen zwischen den Krankenkassen zu sorgen, nicht gerecht. Die Verteilungswirkungen des Morbi-RSA führen im Gegenteil zu einer finanziellen Ungleichbehandlung der Krankenkassen. Die Ersatzkassen fordern deshalb eine Reform des Morbi-RSA. Erste Reformschritte sollten noch in dieser Legislaturperiode in die Wege geleitet werden.

Durch das Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) von 1993 wurde die freie Kassenwahl für alle Mitglieder und damit der Kassenwettbewerb in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) eingeführt, ein Meilenstein in der Gesundheitspolitik. Ab 1996 konnte jedes Mitglied faktisch seine Krankenkasse wählen. Um in der neu entstandenen Wettbewerbssituation möglichst faire Bedingungen für alle Krankenkassen zu schaffen, hatte der Gesetzgeber mit dem GSG auch den Risikostrukturausgleich (RSA) eingeführt. Seit 1994 gibt es diesen Ausgleich der Risikounterschiede zwischen den Krankenkassen, der zunächst nur auf die Merkmale Alter, Geschlecht und Erwerbsminderungsstatus als Indikator für Morbidität abzielte. Nötig war das auch, um die bestehenden Beitragsunterschiede zwischen den Krankenkassen – benachteiligt waren damals vor allem die AOKn – zu verringern, denn diese galten als verfassungsrechtlich nicht mehr tolerierbar. Der RSA stellt damit eine Grundbedingung für einen funktionierenden Wettbewerb in einer solidarischen GKV dar. Im Laufe der Zeit mussten jedoch immer wieder Nachjustierungen am RSA vorgenommen werden, um Wettbewerbsverzerrungen und Risikoselektionsanreize in einem verschärften Kassen– und Preiswettbewerb zu vermindern. Um die Morbidität als Risikofaktor korrekter abzubilden, wurden für die Jahre 2002 bis 2008 ergänzend auch chronisch Kranke gesondert berücksichtigt, wenn sie in einem zugelassenen strukturierten Behandlungsprogramm (Disease-Management-Programm, DMP) eingeschrieben waren. Außerdem wurde ein Risikopool für besonders kostenintensive Behandlungsfälle eingeführt. Die Morbidität der Versicherten wurde ansonsten jedoch nach wie vor nur indirekt über die Merkmale Alter, Geschlecht und Bezug einer Rente wegen Erwerbsminderung erfasst.

Die bislang größte Veränderung brachte das Jahr 2009 mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz. Ein neuer Gesundheitsfonds wurde eingerichtet und ein morbiditätsorientierter RSA, kurz Morbi-RSA, eingeführt. Sein Ziel war es, den unterschiedlich hohen Versorgungsbedarf von Versicherten mit kostenintensiven chronischen oder schweren Erkrankungen stärker zu berücksichtigen. Für Versicherte, die eine von 80 ausgewählten Krankheiten haben, sollten die Kassen mehr Zuweisungen erhalten als für Versicherte ohne diese Erkrankungen. Das war eine fundamental neue Weichenstellung im RSA, die vor allem den AOKn zugutekam.

Mit der Einführung des Gesundheitsfonds fließen alle Beitragseinnahmen der Krankenkassen sowie der Steuerzuschuss aus dem Bundeshaushalt in den Gesundheitsfonds. Die Ausschüttung der Gelder an die Kassen erfolgt nach den Kriterien des Morbi-RSA: Alter, Geschlecht und Morbidität der Versichertengruppen. Beibehalten wurden auch die Zuschläge für Erwerbsminderungsrentner und für Versicherte, die in einem strukturieren Behandlungsprogramm eingeschrieben sind, erhalten die Kassen weiterhin ebenfalls einen extra Ausgleich. Die Zuweisungen orientieren sich an den jeweiligen bundeseinheitlichen Durchschnittskosten. Der Morbi-RSA bestimmt also, wieviel Geld die Kassen zur Deckung der Leistungsausgaben erhalten, die zur Versorgung der gesetzlich Versicherten anfallen. Doch die Einführung des Morbi-RSA führte nicht zu den gewünschten fairen Wettbewerbsbedingungen. Ein wichtiger Seismograf, um die Funktionsfähigkeit des RSA zu bewerten, sind die Deckungsquoten bei den Krankenkassen. Hier zeigt sich, dass die AOKn und mit einigem Abstand die Knappschaft seit geraumer Zeit eine deutliche Überdeckung ihrer Leistungsausgaben aufweisen, während bei den Ersatz-, Betriebs- und Innungskrankenkassen eine Unterdeckung festzustellen ist. Die Überdeckung betrug im Jahre 2014 bei den AOKn +888 Millionen Euro und bei der Knappschaft +35 Millionen Euro, während die Ersatzkassen eine Unterdeckung von -433 Millionen Euro, die IKKn von -155 Millionen und die BKKn von -335 Millionen Euro hinnehmen mussten.

Basierend auf dem Ausgleichsjahr 2009 hat der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesversicherungsamt (BVA) den RSA 2011 auf seine Zielgenauigkeit hin überprüft. Er kam zu dem Ergebnis, dass der neue Morbi-RSA zwar zielgenauer als der alte RSA wirkt, aber dennoch nach wie vor Fehlallokationen bewirkt, etwa bei der Frage der Krankheitsauswahl oder bei den Zuweisungen für Krankengeld, den Zuweisungen für Auslandsversicherte und bei der Berücksichtigung der Ausgaben für Versicherte, die im Ausgleichsjahr verstorben sind. Der Gesetzgeber reagierte mit einer Teilreform. Einstiegsweise – jedoch zeitlich unbefristet – wurden mit dem GKV-Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz (GKV-FQWG) von 2014 Übergangslösungen für die Zuweisungen für Auslandsversicherte und beim Krankengeld festgeschrieben. Dabei wurden erstmalig Ist-Kosten-Elemente übergangsweise in die Berechnung einbezogen.

Zuweisungen für Auslandsversicherte: Die Zuweisungen werden für die GKV insgesamt auf die Summe der von ihnen verursachten Leistungsausgaben begrenzt. Entsprechend werden die kassenindividuellen Zuweisungen proportional gekürzt. In der Folge werden bisher bestehende Überdeckungen reduziert. Gleichzeitig wird die bei vielen Kassen bestehende Unterdeckung von Ausgaben für Auslandsversicherte nicht behoben.

Zuweisungen für Krankengeld: Beim Krankengeld erfolgen je 50 Prozent der Zuweisungen nach dem bisherigen standardisierten Verfahren und nach tatsächlichen Ausgaben.

Ebenfalls wurden infolge eines Urteils des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom Juli 2013 methodische Änderungen bei der Berechnung der Zuweisungen für Versicherte mit unvollständigen Versicherungsepisoden – bei den sogenannten Sterbefällen erforderlich. Die Finanzwirkungen des Morbi- RSA veränderten sich durch diese Maßnahmen noch einmal erheblich zu Ungunsten der Ersatz-, Betriebs- und Innungskrankenkassen. Die Maßnahmen des GKV-FQWG bewirkten damit seit 2013 ein weiteres Auseinanderdriften der Wettbewerbspositionen zwischen den Kassenarten. Für das Jahr 2014 beträgt diese Differenz bei den Deckungsquoten zwischen Ersatzkassen und AOKn etwa 1,3 Milliarden Euro, wobei einzelne AOKn wie die AOK Sachsen-Anhalt besonders profitieren. Trotz sehr hoher Verwaltungskosten kann sie so mit einem geringen Zusatzbeitragssatz von 0,3 Prozent an den Markt gehen. Viele ihrer Mitbewerber dagegen müssen Nachteile hinnehmen, die letzten Endes den Beitragszahlern über höhere Zusatzbeiträge angelastet werden. Dieser Umstand hat neben anderen Faktoren maßgeblich dazu beigetragen, dass manche Krankenkassen nennenswerte Finanzreserven bilden konnten, andere dagegen nicht.

Druck auf Zusatzbeitragssätze nimmt zu

Durch die steigenden Gesundheitskosten nimmt der Druck auf die Zusatzbeitragssätze ohnehin massiv zu. Bereits Anfang des Jahres 2016 erhöhte sich der durchschnittliche Zusatzbeitragssatz, den die Mitglieder alleine bezahlen müssen, um 0,2 Prozentpunkte auf 1,1 Prozent. Doch sind nicht alle Krankenkassen – und damit nicht alle Mitglieder – gleichermaßen betroffen, wie sich an der zunehmenden Spreizung bei den Zusatzbeitragssätzen zwischen 0,0 und 1,7 Prozent erkennen lässt. Diese Spreizung ist jedoch nicht unbedingt das Ergebnis von wirtschaftlicherem oder unwirtschaftlicherem Krankenkassen- Handeln, sondern liegt zu einem Großteil an den beschriebenen falschen Weichenstellungen im RSA. Das kann politisch nicht gewollt sein. Notwendig ist ein Ausgleichsverfahren, das für die Krankenkassen faire Ausgangsbedingungen im Wettbewerb schafft. Ziel muss es auch sein, den Morbi-RSA zu vereinfachen, unbürokratischer zu machen und seine Manipulationsanfälligkeit deutlich zu senken. Dies dürfte sowohl im Sinne der Politik als auch aller Marktteilnehmer sein. Folgende Handlungsfelder müssen daher nach Auffassung der Ersatzkassen prioritär überprüft bzw. angegangen werden:

EMG-Zuschläge streichen

Grundsätzlich ist die Rolle von sogenannten Surrogatparametern („behelfsmäßiger, nicht vollständiger Ersatz“) im Morbi-RSA zu hinterfragen. Hierzu zählen im heutigen Morbi-RSA neben den Pauschalen für Disease-Management-Programme (DMP) vor allem die Zuschläge für Erwerbsminderungsrentner. EMG-Zuschläge wurden vor der Morbiditätsorientierung im RSA eingeführt. Mit ihnen sollten die krankheitsbedingt höheren Ausgabenbelastungen durch Erwerbsminderungsrentner kompensiert werden. Damit fungierten sie als eine Art „indirekter Morbiditätsindikator“. Seit Einführung des Morbi-RSA sind sie hinfällig und systemfremd geworden. Denn erstens werden krankheitsbedingte Ausgabenbelastungen seitdem über das Morbiditätskriterium erfasst. Zweitens zeigen wissenschaftliche Untersuchungen, dass ein Großteil der Versicherten mit Erwerbsminderungsstatus auch an mindestens einer Krankheit leidet, die durch die Krankheitsauswahl im Morbi- RSA abgebildet wird. Die Erwerbsminderungsrentner sind, wie ein IGES-Gutachten von 2016 belegt (s. Seite 26), somit im Morbi-RSA auch ohne EMG-Zuschläge gut abgebildet. EMG-Zuschläge sind davon abhängig, ob der Versicherte vor der Erkrankung, die seinen Status als Erwerbsminderungsrentner auslöste, berufstätig war oder nicht. War die Person berufstätig, erhält ihre Krankenkasse EMG-Zuschläge. War sie es nicht, erhält die Kasse – bei gleicher Erkrankung – keinen Zuschlag aus dem Gesundheitsfonds. Dies bedeutet eine ungerechtfertigte Schlechterstellung der Kasse insbesondere bei einem hohen Anteil mitversicherter Familienangehöriger. Kurzfristig sollten daher die EMG-Zuschläge entfallen. Das ist im Übrigen sachgerecht und ohne viel bürokratischen Aufwand umsetzbar.

Krankheitsauswahl

Grundsätzlich ist zu hinterfragen, ob die durch das BVA ausgewählten 80 Krankheiten geeignet sind, die Morbidität der Versicherten korrekt abzubilden. Die Auswahl der Krankheiten findet derzeit anhand dreier Kriterien statt: den Durchschnittskosten der Krankheit je Versicherten, der Krankheitsschwere (Anteil der Erkrankten, die im Krankenhaus behandelt werden bzw. ob es sich um eine chronische Krankheit handelt), der Kostenintensität. In der Praxis zeigt sich aber, dass diese Kriterien zum Teil nicht zielgenau und manipulationsanfällig sind. Für die Prüfung der Kostenintensität zentral ist etwa die Frage, was unter einer kostenintensiven Krankheit verstanden wird. Handelt es sich hier um Krankheiten, die in der Einzelbehandlung besonders teuer sind (oftmals seltene Erkrankungen), oder um Krankheiten, die erst durch eine große Anzahl an Erkrankten kostenintensiv werden (oftmals „Volkskrankheiten“)? Durch die derzeit angewandte Rechenmethode verteilt der Morbi-RSA vermehrt Zuschläge für Volkskrankheiten. Dadurch werden auch falsche finanzielle Anreize gesetzt. So besteht wenig Anreiz, in Prävention von Volkskrankheiten (etwa Hypertonie oder Diabetes) zu investieren. Gleichzeitig werden Kassen schlechter gestellt, die überdurchschnittlich viel Patienten mit sehr schweren und teuren Krankheiten versichern (etwa Lungenerkrankungen oder Hämophilie), für die es entweder gar keine oder deutlich zu niedrige Krankheitszuschläge gibt. Durch die Umstellung der Prävalenzgewichtung hin zu besonders kostenintensiven Krankheiten würde sich auch die Manipulationsanfälligkeit des Morbi-RSA verringern, denn leichte Erkrankungen bieten einen größeren Spielraum für das sogenannte Upcoding als schwere Erkrankungen. In diesem Zusammenhang ist auch zu überdenken, ob für besonders kostenintensive Erkrankungen, sogenannte Hochkostenfälle, ein Hochrisikopool geschaffen werden müsste. Dieser könnte auch helfen, die finanziellen Belastungen, die insbesondere durch die Verordnung neuer, besonders hochpreisiger Arzneimittel entstehen, abzufangen.

Refinanzierung für im Ausland lebende Versicherte

Mit dem GKV-FQWG wurde bei der Berechnung der Zuweisungen für im Ausland lebende Versicherte eine Übergangslösung eingeführt. Demnach werden die gesamten Zuweisungen für Auslandsversicherte auf die GKV-weit insgesamt entstandenen Kosten begrenzt. Das war ein richtiger Schritt, da er einen Teil der Überdeckungen abgebaut hat, die aus den oft deutlich günstigeren Behandlungskosten im Ausland herrühren. Dennoch bleiben auf der Kassenebene wettbewerbsverzerrende Überdeckungen bestehen, nämlich wenn die Auslandsversicherten aufgrund des Vergütungsniveaus in ihrem Aufenthaltsland unterdurchschnittliche Kosten verursachen. Daneben sind systematische Unterdeckungen in den Fällen möglich, in denen Versicherte in Ländern mit höheren Behandlungskosten als der Durchschnitt leben. Die Problematik ist in dem aktuellen Gutachten zu Zuweisungen für Auslandsversicherte (Wasem et al. 2016) richtig erkannt worden. Die Lösungsvorschläge setzen genau hier an, unterscheiden sich aber im Umsetzungsaufwand. Der empfohlene Lösungsansatz 3 (Reduzierung der Zuweisungen auf die tatsächlichen von der Deutschen Verbindungsstelle (DVKA) im Ausgleichsjahr beglichenen Rechnungen pro Land) ist die gerechteste, praktikabelste Variante und wird von der Ersatzkassengemeinschaft präferiert.

Regionale Kostenstrukturen

Die Kosten für die gesundheitliche Versorgung differieren in den einzelnen Regionen Deutschlands stark. So herrscht in den Ballungsgebieten eine größere Versorgungsdichte als in ländlichen Regionen, es gibt ein ausdifferenzierteres fachärztliches und heilberufliches Angebot mit hochspezialisierten Kliniken und Krankenhäusern, auf das die Kassen so gut wie keinen Einfluss haben. Dieses Angebot schafft sich seine Nachfrage. In der Folge sind die Ausgaben je Versicherten hier deutlich höher als auf dem Land. Benachteiligt sind Krankenkassen mit vielen Versicherten in den Städten. Das muss im RSA mit berücksichtigt werden. Den Worten und Analysen müssen nun Taten folgen. Erste Schritte sollten noch vor der nächsten Bundestagswahl, insbesondere mit der Beseitigung der Problematik der EMG-Rentner und den noch zu regelnden Zuweisungen bei Auslandsversicherten und Krankengeld, schnell und unbürokratisch erfolgen. Damit würde die Politik ein deutliches Signal setzen und die Weichen für einen fairen Wettbewerb stellen.

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