Interview mit Prof. Dr. med. Attila Altiner

"Die Ideen kommen aus der Praxis"

Prof. Dr. med. Attila Altine
Prof. Dr. med. Attila Altiner, Direktor Institut für Allgemeinmedizin Rostock

Antibiotika bewusster einsetzen, darum geht es in dem Versorgungsprogramm RESIST vom Verband der Ersatzkassen e. V. (vdek) und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). Es wird vom Institut für Allgemeinmedizin der Universitätsmedizin Rostock wissenschaftlich begleitet und evaluiert. Prof. Dr. med. Attila Altiner ist Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin der Universitätsmedizin Rostock und arbeitet selbst als Hausarzt. Im Interview mit ersatzkasse magazin. spricht er über das Verordnungsverhalten bei Antibiotika, die Bedeutung der Arzt-Patienten­-Kommunikation und die Rolle der Allgemeinmedizin heute.

Herr Prof. Altiner, Sie sind Facharzt für Allgemeinmedizin und arbeiten neben Ihrer universitären Tätigkeit als Hausarzt im MVZ der Universitätsmedizin Rostock – aus Berufung?

Als ich angefangen habe zu studieren, lief die Allgemeinmedizin eher so am Rande mit. Im Zuge meiner Doktorarbeit an der Abteilung für Allgemeinmedizin in Düsseldorf habe ich dort Allgemeinärztinnen und Allgemeinärzte kennengelernt, die für mich eine Art Rollenmodell wurden. Sie haben Leitlinien entwickelt, ihr eigenes Handeln kritisch reflektiert, Konzepte mit Blick auf Problemstellungen auf den Weg gebracht, und da wusste ich, das will ich auch mal machen. Ich wollte aber neben der wissenschaftlichen Arbeit auch immer den ärztlichen Bereich ausfüllen. Also habe ich die Facharztweiterbildung absolviert und hier bin ich nun und mache das, was ich tue, sehr gerne.

Schlägt das Pendel mehr in Richtung Wissenschaft oder Hausarzt?

Ich bin sehr froh, dass ich in beiden Welten lebe. Es sind auch zwei Seiten einer Medaille, das eine kann man nicht vom anderen trennen. Ohne meine hausärztliche Tätigkeit würde ich keine guten Projektideen entwickeln, die nicht nur für die Wissenschaft interessant sind, sondern auch tatsächlich versorgungsrelevant. Wie das Projekt RESIST zum Beispiel oder der Bereich Antibiotika generell. Mit Antibiotika befasste sich eines meiner ersten Projekte in Düsseldorf und es entstand daraus, dass wir Lehrärztinnen und Lehrärzte gefragt haben, welche Themen ihrer Meinung nach besonders relevant sind. Die Ideen kommen aus der Praxis, da möchte ich weder das eine noch das andere missen.  

Stichwort Antibiotika: Wie hat sich der Umgang mit und die Diskussion über Antibiotika im Laufe der Jahre verändert?

Antibiotika sind kein neues Thema, aus den Reihen der niedergelassenen Hausärztinnen und Hausärzte ist es um das Jahr 2000 heraus aufgekommen. Damals gab es in vielen Bereichen noch Unsicherheiten, was den Einsatz eines Antibiotikums angeht. Und damals war es allgemein doch noch eher ein Randthema. Inzwischen ist es Mainstream. Das ist toll, auch weil nun viel mehr Ärztinnen und Ärzte anderer Fachbereiche, Studierende und die Öffentlichkeit sensibilisiert sind.

Wenn es Mainstream ist, warum greifen Ärzte dann so schnell zum Rezeptblock?

Das stimmt nicht. Natürlich gibt es überall „schwarze Schafe“, die reflexartig zum Antibiotikum greifen. Aber das ist die Ausnahme. Wenn Sie sich das im internationalen Vergleich angucken, verordnen wir in Deutschland weniger Antibiotika als in den meisten anderen Ländern der Welt. Noch besser sind die Niederlande, die sind noch zurückhaltender, und Skandinavien ist deutlich zurückhaltender in Sachen Breitbandantibiotika. Aber so schlecht sind wir nicht. Man darf auch nicht so tun, als ob es überhaupt keine Indikationen gäbe für Antibiotika. Natürlich gibt es die. Das ist auch der Grund, warum wir im Allgemeinen versuchen, möglichst zurückhaltend mit Antibiotika umzugehen, damit wir sie dann eben auch erfolgreich verordnen können, wenn sie wirklich gebraucht werden.

Und wie sieht es bei den Patienten aus? Erwarten diese, ein Antibiotikum verschrieben zu bekommen?

Auch das ist ein Missverständnis. Natürlich gibt es hier Patienten, die ein Antibiotikum erwarten. Aber Untersuchungen zeigen, dass die Antibiotikaerwartungshaltung regelhaft überschätzt wird, was vielen Hausärztinnen und Hausärzten aber nicht so bewusst ist. Wir kennen unsere Patientinnen und Patienten ziemlich gut, aber wir kennen sie eben auch nicht völlig allumfassend, weswegen auch ich Gefahr laufe, deren Erwartungshaltung zu überschätzen. Wenn Sie einen Patienten vor sich haben, der leidend vor Ihnen sitzt und dem es subjektiv nicht gut geht, hat man schnell das Gefühl, man steht mit der Verordnung des Antibiotikums eher auf der sicheren Seite und kommt auch dem Wunsch des Patienten entgegen.

Damit sind wir beim Thema Arzt­-Patienten­-Kommunikation.

Ja, die Arzt­-Patienten­-Kommunikation spielt eine entscheidende Rolle und damit auch die gemeinsame Entscheidungsfindung. Wenn die Patienten ergebnisoffen auf Antibiotika angesprochen werden, wie es ja auch das Projekt RESIST vorsieht, sagen tatsächlich die meisten Patienten, dass sie Antibiotika nur wollen, wenn es wirklich sein muss. Ein kleiner Teil will zwar noch immer ein Antibiotikum, nach dem Motto „sonst hätten sie ja gar nicht herkommen müssen“, aber es geht darum, dass wir erst mal den Patienten mit einbinden in die Entscheidung. Das ist auch eine Rückversicherung für den Arzt in den wenigen Fällen, in denen sich herausstellt, dass doch ein Antibiotikum angezeigt wäre. So beugt man dem Effekt vor, dass der Patient bemängelt, nicht schon vor vier Tagen Antibiotika verordnet bekommen zu haben. Denn in der Entscheidungsfindung wird gesagt, dass zum jetzigen Zeitpunkt die Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass der Patient ohne Antibiotikum besser beraten ist, und sollte es sich doch unerwartet anders entwickeln, wird die Entscheidung noch mal gemeinsam überdacht. Wir müssen im Grunde genommen erst einmal nur die Erwartungshaltung explorieren.

Wie schafft man das?

Exploration der Erwartungshaltung ist nicht trivial, da kann man als Arzt richtig was falsch machen. Daher müssen im Studium und in der Weiterbildung zum Facharzt spezielle Kommunikationstechniken vermittelt werden. Deswegen ist auch RESIST so wichtig, weil wir hier unter anderem die Botschaft vermitteln, Kommunikationstechniken zu verwenden, die ergebnisoffen und nicht konfrontativ wirken. Es gibt einen Satz, der in vielen Praxen mit Blick auf die Verordnung von Antibiotika gut funktioniert. Ich sage: „Manche Patienten erwarten in dieser Situation, dass sie mit einem Antibiotikum schneller wieder gesund werden.“ Und dann lasse ich mich überraschen, wie der Patient reagiert. In der überwiegenden Anzahl der Fälle ist die Erwartungshaltung gar nicht vorhanden, dann ist das Problem gelöst. Bei den anderen muss ich als Arzt nachhaken, was natürlich mehr Zeit kostet. Eine typische Antwort eines Patienten mit Erwartungshaltung ist, dass er schnell wieder fit sein muss. An dieser Stelle muss ich erklären, dass die Chance, schnell wieder gesund zu werden, mit einem Antibiotikum eigentlich äußerst gering ist, dagegen es viel wahrscheinlicher ist, dass es zu Nebenwirkungen kommt.  

Lassen sich diese Erkenntnisse auch auf andere Versorgungssituationen übertragen?

Davon bin ich fest überzeugt. Die Antibiotikaverordnung ist ein exemplarisches Modell, weil wir in der Regel Erkrankungen haben, die in den meisten Fällen nicht mit einem Antibiotikum behandelt werden müssten, es aber trotzdem häufiger tun als eigentlich notwendig. Jetzt nehmen Sie mal das Beispiel Polypharmazie, wo Patienten vielleicht mit fünf verschiedenen Erkrankungen zehn verschiedene Medikamente einnehmen, das ist viel komplexer. Aber auch da gibt es erste Ansätze, dass die Exploration der Erwartungshaltung hilft, um gemeinsam zu überlegen, was denn eigentlich die Ziele des Patienten sind und entsprechend der gemeinsam entwickelten Ziele zu versuchen, die Medikamente zu reduzieren. Genauso sind die Arzt­-Patienten­-Kommunikation, das Explorieren der Patientenerwartung und die gemeinsame Entscheidungsfindung nicht nur für die Allgemeinmedizin von großer Wichtigkeit, sondern das gilt für fast alle Bereiche der Medizin.  

Haben die Hausärzte eine Vorbildfunktion?

Ich würde es eher so formulieren: Die Allgemeinmedizin in Deutschland kann sehr stolz darauf sein, dass sie zusammen mit anderen medizinischen Fachrichtungen in bestimmten Bereichen Vorreiter und so auch entscheidender Wegbereiter für Veränderungen war. Die Allgemeinmedizin in Deutschland war und ist in Bezug auf evidenzbasierte Medizin und die Entwicklung von praxistauglichen Leitlinien ganz vorne mit dabei, und ganz bestimmt auch in den Bereichen Patientenzentrierung, partizipative Entscheidungsfindung, Arzt-­Patienten­-Kommunikation, und zwar sowohl in der Versorgung als auch in Forschung und Lehre.  

Inwieweit hat sich in diesem Kontext die Attraktivität der Allgemeinmedizin im Studium verändert?

Die Allgemeinmedizin wurde früher in Deutschland im Studium eher zufällig vermittelt, ihre Institutionalisierung als Fach an Universitäten ist noch verhältnismäßig jung. D. h. es gab noch nie mehr Allgemeinmedizin im Studium als heute und genauso gab es noch nie mehr Studierende, die sich für Allgemeinmedizin interessieren. Ich glaube, viele Universitäten bzw. Fakultäten waren freudig überrascht, dass die in den letzten Jahren neu geschaffenen Institute für Allgemeinmedizin einen erheblichen Gewinn darstellen, weil sie in Bereichen, die man vorher so nicht bedient hat, substanziell Forschungs-­ und Lehrleistung erbringen. Der Mangel an Hausärzten gerade in ländlichen Regionen war vielleicht so etwas wie ein Türöffner für einige Standorte.

Wird also das Problem der landärztlichen Versorgung sich möglicherweise gar nicht so problematisch darstellen wie behauptet?

Jein. Wir können für Mecklenburg­-Vorpommern schon einen positiven Trend sehen, aber: Unser Gesundheitssystem befindet sich insgesamt in einem langsamen Wandel, im Zuge dessen die hausärztliche Versorgung noch wichtiger wird, wo aber gleichzeitig auch der Anspruch der jungen Kolleginnen und Kollegen ein anderer ist. Ich kenne keine junge Hausärztin und keinen jungen Hausarzt, die nicht in besonderen Situationen auch einmal 24 Stunden am Tag für ihre Patienten zur Verfügung stehen, aber sie wollen eben nicht regelhaft um 20:30 Uhr zur Verfügung stehen für eine Sache, die genauso gut am nächsten Tag besprochen und behandelt werden kann. Vielleicht möchten sie auch unter der Woche mal einen Tag frei haben, um sich weiterzubilden. Daher wird es eher so sein, dass wir noch mehr Hausärzte brauchen, wenn wir die Allgemeinmedizin auf einem hohen Qualitätsniveau weiterentwickeln wollen.

Muss dahingehend politisch noch mehr passieren? Es ist sehr gut, dass sich die demokratischen Parteien einig sind, die Allgemeinmedizin stärken zu wollen und auf Qualität zu setzen, und das ist auch bei den Krankenkassen so. Daher glaube ich, ist das Thema als dringlich erkannt. Aber ich glaube, man könnte noch mutiger sein. So verfolgen wir zum Beispiel im Bereich der Weiterbildung mit den Kompetenzzentren für Allgemeinmedizin, in denen Universitäten, Ärztekammern und Kassenärztliche Vereinigungen erstmals gemeinsam die neben der rein praktischen Tätigkeit notwendigen Inhalte der Facharztweiterbildung weiterentwickeln, einen sehr guten Ansatz. Aber das könnte ich mir noch zwei Nummern größer gedacht vorstellen.

Was halten Sie von der Landarztquote, die im Rahmen des Masterplans Medizinstudium 2020 kommen soll? Also dass die Länder fortan die Möglichkeit haben, bis zu zehn Prozent der Medizinstudienplätze an Bewerber zu vergeben, die sich verpflichten, für bis zu zehn Jahre in der hausärztlichen Versorgung in durch Unterversorgung bedrohten ländlichen Regionen tätig zu sein.

Als Wissenschaftler sage ich, schauen wir uns mal an, was daraus wird bzw. ob und was es bringt. Einige Länder werden die Landarztquote einführen, andere nicht. Persönlich begeistert mich die Idee nicht besonders. Ich würde sagen, wenn alles andere stimmt, dann brauchen wir keine Landarztquote. Wenn wir die Studierenden davon überzeugen können, dass Allgemeinmedizin ein wirklich tolles Fach ist, dann ist schon viel gewonnen. Denn wenn sie Allgemeinmedizin als das Fach wählen, mit dem sie auf Dauer glücklich sind, bringt diese Zufriedenheit auch Qualität in der Versorgung, das hängt miteinander zusammen. Zudem muss man den Studierenden und Ärzten in einer attraktiven Weiterbildung die Chance geben zu sehen, dass gerade die Tätigkeit im ländlichen Bereich die spannende bzw. die ganz hohe Schule der hausärztlichen Tätigkeit ist. Und wir könnten in unterversorgten Gebieten hausärztliche Versorgungsmodelle schaffen, die für die zukünftigen Hausärzte so attraktiv sind, dass sie sich darum reißen, dort tätig zu werden. Da wüsste ich schon, wie.

Das wäre ein nächstes Projekt für den Innovationsfonds. RESIST wird ja auch aus dem Innovationsfonds finanziert. Was denken Sie, wie geht es weiter mit dem Innovationsfonds und speziell auch mit RESIST, wenn die Förderung ausläuft?

Der Innovationsfonds ist per se etwas wirklich Innovatives, er trägt seinen Namen zu Recht. Mit Blick auf RESIST bin ich sehr zuversichtlich. Denn dass RESIST aus den Krankenkassen heraus initiiert wurde, ist eine sehr gute Voraussetzung für eine Weiterführung. Auch hier kommt die Idee aus der Praxis, es sind Fachleute involviert, die eine Vorstellung davon haben, wie Versorgung und wie die Finanzierung von Versorgung funktioniert, und genau das ist für die Verstetigung notwendig. Ich denke, wenn wir zeigen können, dass der Aufwand, der betrieben wurde, effizient ist, wird RESIST eine Fortsetzung finden in der Regelversorgung, auch weil es so nah an der Realität ist. Dazu kommt, dass Antibiotika ein globales Phänomen sind. Wir sollten als reiche Industrienation mit einem der besten Gesundheitssysteme der Welt auch dort Vorbild sein. Deswegen ist es so wichtig, dass wir Projekte wie RESIST und andere Konzepte schaffen, um Lösungswege aufzuzeigen.

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